Religion an Berufsbildenden Schulen - ein Beitrag zur Diskussion um ein Schulprofil

von Bernd Abesser

 

Jugendlichen das unsere demokratische Gesellschaft prägende Menschenbild zu erschließen, ihnen die damit zusammenhängenden religiösen Implikationen unserer Kultur aufzuzeigen und sie dementsprechend urteils- und entscheidungsfähig zu machen, ist Teil des schulischen Bildungsauftrages. Ungeachtet der weltanschaulichen Toleranz unseres Staates (nicht Neutralität, wie wir sehen werden), ungeachtet der je persönlichen religiösen Überzeugung und ungeachtet gesellschaftlicher Entwicklungen (Institutionenkritik, Entwicklung zur nach-christlichen Gesellschaft) gilt es zu Beginn meiner Überlegungen zwei Einsichten festzuhalten:

Unser Staatswesen, damit auch der Bereich der öffentlichen Erziehung und des Unterrichts erweist sich gerade darin als von christlicher Tradition – insbesondere von reformatorischem Denken – geprägt, als es auf eine göttliche Legitimierung seiner Macht verzichtet und dem Menschen eine unantastbare Würde und damit zusammenhängende Grundrechte zugesteht. (Eine Randbemerkung: Dass es geschichtlich bis zu diesem Stand der Entwicklung lange gedauert hat, spricht nicht gegen diese These; Macht ist auch für Kirchen verführerisch). Wir haben keinen Gottesstaat – und das hat auch mit unserer religiösen Geschichte zu tun.
Wer mit offenen Augen und Ohren durch unseren Alltag geht, stößt unweigerlich und permanent auf religiöse Zeichen, Zitate und Bilder – oft allerdings aus dem Zusammenhang ihrer Tradition und ihrer tragenden Institutionen gerissen; unsere Gegenwartskultur geht mit dieser Zeichensprache bewusst und kalkulierend um:

  • in der Werbung
  • im Kino (vgl. Titanic, Stadt der Engel), in Video-Clips und Pop-Musik
  • in der Architektur (vgl. Gebäude von Großbanken, Shopping-Malls

Grundgesetz und Niedersächsisches Schulgesetz tragen diesen Sachverhalten Rechnung.1 Dass  unseren Schülerinnen in diesem Zusammenhang die Freiheit zur Entscheidung zugetraut und zugemutet wird, ist von einem Menschenbild nicht zu trennen, das seine Wurzeln in den biblischen Vorstellungen vom Menschen als einem in die Freiheit entlassenen und zur Freiheit berufenen Gottesgeschöpf hat. Schülerinnen und Schüler müssen – auch um ihrer Religionsmündigkeit (d. h. ihrer religiösen und ethischen Urteils- und Entscheidungskompetenz) willen – lernen, wie Religion funktioniert. Sie können und müssen dies am Beispiel einer konkreten Religion lernen. So wie wir zu Recht erwarten können, dass Demokratie von Demokraten gelehrt wird, so ist im Fall der Religion den jeweiligen Vertretern das Recht auf authentische Selbstinterpretation zuzugestehen. Darum geschieht Religionsunterricht an unseren öffentlichen Schulen in staatlicher Verantwortung (dies ist in erster Linie Sache von Lehrern!) aber unter inhaltlicher Mitsprache der Religionsgemeinschaften. Im Grunde genommen müsste also der Religionsunterricht an öffentlichen Schulen, und damit auch an berufsbildenden Schulen, nicht besonders legitimieren.

Technologische und gesellschaftliche Entwicklungen haben den Stellenwert überfachlicher Kenntnisse und Qualifikationen sowie genereller Dispositionen zur  Berufsausübung erhöht. 2 Religionsunterricht an Berufsbildenden Schulen nimmt in seinem Berufsbezug diese Herausforderungen auf. Wie einschneidend technologische und gesellschaftliche Wandlungsprozesse derzeit auch auf die berufliche Bildung zurückschlagen, brauche ich nicht zu sagen. Man merkt dies vielfältig und unmittelbar: neue Ausbildungsberufe wurden und werden geschaffen, mehr aber noch werden sehr grundlegende Änderungen im Ausbildungssystem diskutiert. Ende Oktober hat die Konferenz der Kultusminister der Länder ein Positionspapier verabschiedet, in dem breite berufliche Handlungsfähigkeit verbunden mit einer speziellen Vertiefung und der Ausprägung überfachlicher Dispositionen als Ziel beruflicher Bildung formuliert wird. Dazu sollen 2/3 der Ausbildung in sog. Basisberufen stattfinden und 1/3 der Spezialisierung dienen.

Darüber hinaus soll der Anteil allgemeiner Bildung erweitert werden mit dem Ziel der Befähigung zur Mitgestaltung in Arbeitswelt und Gesellschaft in ökologischer und sozialer Verantwortung. Solche Kompetenzen aber können nur gelernt werden, wenn das ihnen zugrunde liegende Menschenbild immer auch mit thematisiert wird. Denn allein der Appell an gewünschte Verhaltensweisen – evtl. sogar gegen die reale Erfahrung politischer Ohnmacht in der Lebenswirklichkeit der Schüler – bewirkt hier gar nichts.

Man kennt die derzeit gängigen Schlagworte in der Debatte um die berufliche Bildung: Modulare Ausbildungskonzepte; Lernort-Kooperation; Weiterbildung an der BBS; Renovierung von Prüfungsverfahren und –ordnungen, Handlungsorientierung, fächerübergreifender Unterricht usw. Hinter diesen Wandlungsprozessen können wir tief greifende Veränderungen in dem erkennen, was wir mit dem Begriff Identität umschreiben können. Wir verabschieden uns aus einer Gesellschaft, in der der (lebenslang ausgeübte) Beruf – gekoppelt an einen Vollzeitarbeitsplatz – im wesentlichen die Identität des erwachsenen Menschen (vorzugsweise des Mannes) bestimmt. Umso mehr erfordert dies Begleitung und Stärkung von Menschen auf dem Weg in das Erwachsenenleben, deren Identität immer eine vorläufige, eine sich wandelnde bleiben wird. Die Frage “was trägt?”, “was hält mich in Beziehung zu Umwelt und Mitmenschen?” wird so zu einer Schlüsselfrage vorzugsweise des Religionsunterrichts. Beruflich handlungsfähig wird und bleibt in den Modernisierungsprozessen, wer im Hinblick auf seine persönlich tragfähige Religion sprach- und auskunftsfähig wird, wer lernt, sich auf Neues und Fremdes einzustellen. Der Religionsunterricht nimmt solche begleitenden Aufgaben bewusst wahr. Angesichts der Schülerinnen und Schüler, denen wir in den berufsbildenden Schulen begegnen, wird deutlich, dass die entsprechenden Bildungsaufgaben an den allgemeinbildenden Schulen nicht erledigt werden konnten. Die neuen Herausforderungen, denen diese jungen Menschen im Zuge der Ausbildung, aber auch in ihrer Ablösung vom Elternhaus begegnen (Kommunikation im Arbeitsprozess; Beziehungen; Erwerb des Führerscheins ...), brauchen einen entsprechenden Ort der Reflexion. Als Fragen nach der persönlichen Identität sind sie immer auch Orientierungsfragen, die nicht mit Moral und Verhaltensregeln beantwortbar sind.

Zeitgemäßer Religionsunterricht an Berufsbildenden Schulen ist konsequent schülerbezogen, konfessionell kooperativ und an der Erschließung der religiösen Dimensionen von Berufs- und Lebenswelt orientiert. Ich nenne einige thematische Konkretionen 3:

  • Umgang mit dem Mitmenschen; Konzepte der Diakonie; christliches Menschenbild;
  • Was ist Krankheit? Das menschliche Krankenhaus ... (Bereich Gesundheit).
  • Umgang mit Tod und Sterben; christliche und andere religiöse Vorstellungen von Leben und Tod (Pflegeberufe).
  • Begleitung von Ablösungsprozessen (BVJ, BGJ)
  • Fähigkeit zum Erleben von Lust, Freude und Hoffnung
  • Wahrnehmung von Glaubenssituationen und Glaubenszeugnissen in der (kulturellen) Umwelt

Die Themen sind von nicht vornherein oder explizit “religiös”; aber es geht um die religiöse Dimension in ihnen und natürlich auch um den Bezug zur biblisch-christlichen Tradition.

Projekte; Exkursionen; Experimente; Fächerdialog; Fremdbegegnungen... bilden das methodische Rückgrat eines solchen Unterrichts. Konfessionelle Kooperation ist gemäß neuer Erlasslage möglich und geboten. Dabei sollen beide Konfessionen vertreten sein; der neue Erlass ist kein Konzept zur Verschleierung möglichen Lehrermangels!

Erschließung, Spiel, Inszenierung sind didaktische Prinzipien; es geht im Religionsunterricht nicht um vermeintlich neutrale Information, sondern um reflektierenden Einblick in die Binnenstruktur einer konkreten Religion, d. h. wir arbeiten mit dem entsprechenden Text- und Bildmaterial ebenso wie mit den Erzählungen der Schülerinnen und Schüler, mit Insignien der Alltagskultur (Werbung, Video-Clips...).

Religionsunterricht an Berufsbildenden Schulen kann einen wesentlichen Beitrag zum Schulprofil liefern und so zur Zukunftsfähigkeit der BBS beitragen. Welche Ausbildung wird zukunftsfähig sein? Sicher nicht die, die ein Teil – vor allem kleinerer – Betriebe immer wieder fordert und die im wesentlichen aus dem “Einbimsen” von Stoff und Arbeitstugenden besteht. Teamfähigkeit, Lernfähigkeit, kommunikative Kompetenz, Problemlösungskompetenz, ethische Urteilsfähigkeit sind zunehmend gefragt und moderne Betriebe setzen zunehmend auf Seiteneinsteiger, auf unkonventionelle Leute. Wer hier bestehen will, braucht mehr als angelernte Techniken (-Grinsen – “Guten Tag, mein Name ist Melanie Müller, was kann ich für sie tun...”). Eine Schule, die in ihr Profil die Erkenntnis integriert, dass der Mensch von Brot allein nicht lebt, wird mittelfristig vermutlich die angemessener Ausgebildeten “produzieren”. Es geht dabei darum, gewollt und bewusst im Rahmen von Berufsausbildung einen Raum freizuhalten, in dem der Mensch selbst auch über seine Berufsrolle hinaus zum Thema wird. Dies geschieht in der Erkenntnis, dass Religion eine sehr persönliche Angelegenheit ist, aber keinesfalls Privatsache. Insofern gilt: Was ich glaube, geht den/die andere durchaus etwas an und umgekehrt. Nicht im Sinne von Mission, sondern z. B. um des toleranten Zusammenlebens willen. Wenn ich nicht reflektiert habe, was mir heilig ist und warum das so ist und wenn ich nicht erfahren habe, was anderen Menschen heilig ist, dann kann ich auch nicht lernen, diese Verschiedenheiten zu respektieren.

Und damit schließt sich im Grunde wieder der Kreis: Am Anfang war die Rede vom Menschenbild, das der demokratischen Kultur zugrunde liegt. Es sieht die Würde des Menschen vor allem darin bewahrt, dass er in seinen diversen Rollen – als Staatsbürger, als Produzent, als Konsument, Familienmitglied... – nicht aufgeht. Individuell wie kollektiv können wir die Voraussetzungen unseres Lebens nicht selbst schaffen. Aber erst in dieser Rückbindung an den Ursprung des Lebens (d.h. in und durch Religion) wird Verantwortung unseres Handelns möglich. Der Auftrag unserer Schulen – Persönlichkeitsbildung, Entscheidungs- und Handlungsfähigkeit – braucht unbedingt unabdingbar auch im Bereich der beruflichen Bildung den Religionsunterricht.

Eine Bemerkung zum Schluss: Ich habe die organisatorischen Probleme, die sich um dieses Fach ranken, zunächst außen vor gelassen. Ich halte sie für lösbar, wenn es einen klaren Willen für den Religionsunterricht gibt (und für das entsprechende Ersatzfach). In einer Zeit, in der überfachliche Qualifikationen massiv an Bedeutung gewinnen, sollte dieser Wille gerade im Hinblick auf die Entwicklung eines Schulprofils vorhanden sein. Im Übrigen wage ich aus eigener Erfahrung und aus vielfältigen Berichten die Behauptung, dass auch Schülerinnen und Schüler einen guten RU durchaus wollen. Wenn dazu als Alternative nicht die Freistunde winkt, macht es die Sache für alle Beteiligten leichter.

 

Anmerkungen

  1. Leicht veränderte Fassung eines Impulsreferates vor der Gesamtkonferenz der BBS IV in Braunschweig am 17.112.98
  2. §2 Niedersächsisches Schulgesetz: “Die Schule soll ... die Persönlichkeit der Schülerinnen und Schüler auf der Grundlage des Christentums, des europäischen Humanismus und der Ideen der liberalten, demokratischen und sozialen Freiheitsbewegungen weiterentwickeln. ... Die Schülerinnen und Schüler sollen fähig werden, ... zur demokratischen Gestaltung der Gesellschaft beizutragen, nach ethischen Grundsätzen zu handeln sowie religiöse und kulturelle Werte zu erkennen und zu achten... .”
  3. vgl. Beschluss der KMK

    Diese sind bezogen auf die Berufsfelder der BBS IV