Sie posten Videos vom ersten Gang aufs Töpfchen oder vom Kindergeburtstag. Familien-Influencer vermarkten Videos ihrer Kinder auf Social-Media-Plattformen. Je jünger die Kleinen, desto mehr Klicks und Follower - und desto höher die Einnahmen.
Osnabrück (epd). Paula und Greta pinseln am Küchentisch ein riesiges buntes „Willkommen“ auf ein Plakat. In der nächsten Filmsequenz findet sich der Betrachter in der Ankunftshalle des Flughafens wieder: Schwester Clara kehrt von ihrem ersten zweiwöchigen Auslandsaufenthalt zurück. Tränen der Freude fließen, als Mama Isabell Meyer* den Teenie in ihre Arme schließt. Ob Willkommensgruß, Kindergeburtstag oder Shopping-Tour - die Meyers dokumentieren per Handy-Kamera für ihre rund zwei Millionen Social-Media-Follower fast täglich Szenen aus dem Familienleben.
Die Meyers machen das nicht zum Spaß, sie verdienen damit Geld, viel Geld. Eine wahrscheinlich steigende Zahl solcher Familien-Influencer bestreitet mit Produktwerbung sogar den kompletten Lebensunterhalt. Sie preisen auf YouTube, Instagram und Co. Küchengeräte, Kleidung oder Deko-Artikel an. Lebensmittel, Spiele oder Kosmetikartikel bestimmter Marken tauchen in ihren Videos wie zufällig auf. Genaue Zahlen über die tatsächliche Dimension dieses Phänomens existieren laut Bundesministerien und Experten bislang nicht.
Die Kinder spielten dabei als Werbeträger eine entscheidende Rolle, erklärt Antje Ruhmann von der Kinderrechtsorganisation Terre des Hommes. „Ohne sie funktioniert das Geschäftsmodell nicht.“ Sie vermittelten den Followern ein Gefühl von Intimität. Je jünger die Kinder seien, desto mehr Follower und Klicks generierten die Kanäle und desto höher falle der Verdienst aus.
Manche Familien verdienen damit laut Untersuchungen in den USA jedes Jahr Millionenbeträge. Bei den Meyers haben die älteren Kinder bereits eigene Kanäle. Terre des Hommes stuft das Familien-Influencing als eine neue Form von Kinderarbeit ein, für die es dringend gesetzlicher Regeln und Einschränkungen bedürfe. Das Deutsche Kinderhilfswerk verlangt, die kommerzielle Veröffentlichung von Kinderfotos und Kindervideos im Internet bis zum siebten Lebensjahr eines Kindes zu verbieten. Zudem müsse ein altersabgestuftes Schutzkonzept entwickelt werden.
Für den „Kinderarbeitsreport 2024“ hat Terre des Hommes die Beiträge von fünf deutschen Familien-Influencern über ein Jahr lang verfolgt und analysiert. Diese filmten das morgendliche Frühstück, gemeinsame Urlaube oder Spieleabende, wenn die Großen aus der Schule kamen oder die Kleinen einen Adventskalender bastelten.
Szenen, die scheinbar nebenbei mit der Handy-Kamera aufgenommen wurden, seien oft inszeniert, sagt Ruhmann: „Da wird das Baby dreimal umgezogen, das Setting perfekt ausgeleuchtet, die Sequenz mehrfach wiederholt.“ Nicht selten stehe ein Drehbuch dahinter. Die Kinder müssten funktionieren, ob sie wollten oder nicht.
Die Tatsache, dass sie zum Familieneinkommen beitragen müssten, setze sie früh unter Druck, sagt die Erziehungswissenschaftlerin Sonja Damen von der Fliedner-Fachhochschule in Düsseldorf. Ihre Privatsphäre werde missachtet, das Vertrauensverhältnis zu den Eltern gestört. „Kinder können sich nie sicher sein, dass ihr Zuhause auch ihr Schutzraum ist.“
Vor allem kleine Kinder hätten keinen Einfluss auf die Szenen, die gezeigt würden, kritisiert Damen. Sogar schambesetzte Ereignisse wie Verletzungen, Krankheiten oder Wutausbrüche posteten manche Eltern. „Später ist den Kindern wahrscheinlich manches peinlich.“ Was einmal im Netz auftauche, könne aber nicht mehr gelöscht werden.
Vielen Eltern sei zudem offenbar nicht bewusst, dass die frei verfügbaren Videos und Fotos auch von kriminellen Pädophilen missbraucht werden könnten, warnt die Direktorin der Bremischen Landesmedienanstalt, Cornelia Holsten. Durch künstliche Intelligenz sei diese Gefahr noch größer geworden.
Antje Ruhmann weist darauf hin, dass sich durch die preisgegebenen Daten im Internet ohne Probleme ganze Persönlichkeitsprofile erstellen, aber auch Adressen herausfinden ließen. „Ich weiß mehr über die Kinder der Meyers als über meine eigenen Nachbarn.“ Die Eltern setzten ihre eigenen Kinder damit einem enormen Sicherheitsrisiko aus.
Die drei Expertinnen sind sich einig, dass im Arbeitsrecht, aber auch im Familienrecht und im Medienrecht neue Regelungen erarbeitet werden müssten, um das Wohl der Kinder von Familien-Influencern zu schützen. Die beteiligten Bundesministerien Arbeit, Justiz und Bildung planten „zeitnah“ eine Ressortbesprechung, kündigte die Staatssekretärin im Bildungs- und Jugendministerium, Mareike Wulf (CDU), jüngst bei einer Beratung im Petitionsausschuss des Bundestages an.
Im Rahmen der Durchsetzung des „Digital Services Act“ der Europäischen Union habe Deutschland auch die Chance, die Social-Media-Plattformen zu Schutzregelungen zu verpflichten, sagte Michael Terhörst von der Bundeszentrale für Kinder- und Jugendmedienschutz während der Ausschusssitzung. Cornelia Holsten sieht einen Ansatzpunkt bei den aus ihrer Sicht guten Regelungen für Kinder, die in der Fernsehwerbung oder in Schauspiel-Produktionen mitwirkten.
Auch könnten Eltern beim Familiengericht einen Ergänzungspfleger bestellen, der die Rechte des Kindes wahrt. Die Direktorin sieht aber auch die Firmen und Influencer-Agenturen in der Pflicht. Sie sollten schon beim Abschluss der Verträge darauf achten, dass nur gepostet wird, was mit dem Kindeswohl vereinbar ist.
In jedem Fall seien eine gesellschaftliche Debatte und mehr Aufklärung über Familien-Influencer notwendig. Holsten ist sich sicher, dass die öffentliche Wahrnehmung viel bewirken könne. „Es muss selbstverständlich werden, dass jeder, der mit dieser Form von Kinderarbeit Geld verdient, sich an Regeln halten muss.“
*Vor- und Nachnamen der Familie geändert