"Lehrkräfte müssen bei sich anfangen"

Nachricht 10. Mai 2022

Soziologin fordert: Bei Antisemitismus in der Schule sofort reagieren

epd-Gespräch: Lothar Veit

Loccum/Frankfurt (epd). Lehrkräfte müssen nach Auffassung der Soziologin Julia Bernstein sofort intervenieren, wenn in der Schule „Du Jude“ als Schimpfwort benutzt wird. Sie dürften nicht weghören, forderte Bernstein im Gespräch mit dem Evangelischen Pressedienst (epd). Die Frankfurter Professorin für soziale Ungleichheiten und Diskriminierungserfahrungen ist Referentin bei der Tagung „Antisemitismus in der Schule“ des Religionspädagogischen Instituts im niedersächsischen Loccum, die am Montag begann und bis Mittwoch läuft.

epd: In Ihrer Studie zu Antisemitismus in der Schule kommen Sie zu dem Ergebnis, dass die Nutzung nationalsozialistischer Symbolik und der direkte Bezug auf die Shoah unter Jugendlichen weiterhin verbreitet sind. Haben Sie eine Erklärung dafür?

Julia Bernstein: Für viele Jugendliche ist die Zeit des Nationalsozialismus gefühlt sehr weit weg. Sie denken, dass es mit ihnen persönlich nichts zu tun hat. Sie fühlen sich nicht als Nachkommen der Mitläufer und Täter.

epd: Selbst die Eltern dürften keine persönlichen Erinnerungen an den Nationalsozialismus haben. Wieso halten sich bestimmte Stereotype dennoch so hartnäckig?

Bernstein: Der Ausgangspunkt, den ich eben genannt habe, ist wichtig. Geschichtsunterricht, Fernsehsendungen oder Gedenkstätten stellen eine öffentliche Kulisse der Erinnerungskultur dar, die sie mit den eigenen Familien nicht unbedingt in Verbindung bringen. Viele haben das Gefühl, sie dürfen sich nicht über nationale Elemente freuen und stolz sein, wie das etwa die Amerikaner tun. Für Jugendliche stellt sich dann das Gefühl ein, nicht unbedarft deutsch sein zu dürfen. Es gibt eine Sehnsucht nach unbelasteten kollektiven Identitäten.

epd: Kann man auf die eigene Nation nur stolz sein, indem man andere diskreditiert?

Bernstein: Man kann etwas positiv sehen, wenn es einen Vergleich gibt. Wenn man denkt, man ist weiter entwickelt als andere Länder. Wenn man dann die jüdische Realität in Deutschland betrachtet, sieht man, dass das automatisch zu Ausschlüssen führt. Der Stolz und die sogenannte Schlussstrich-Mentalität ermöglichen dann Dinge wie Judensterne mit der Aufschrift „Ungeimpft“ auf Demonstrationen. Das wäre nicht möglich, wenn man sich die Realität der Shoah vor Augen führen würde.

epd: Die meisten Kinder und Jugendlichen dürften gar keine jüdischen Altersgenossen kennen. Ändert sich etwas im Umgang, wenn an der Schule jüdische Kinder sind?

Bernstein: Nicht unbedingt. Gerade die jüdischen Kinder und ihre Eltern berichten ja von Antisemitismus an Schulen, an denen ihre jüdische Identität bekannt ist und sie in einer Minderheit sind. Es kommt darauf an, wie gefestigt das jeweilige negative Bild ist.

epd: Sie haben festgestellt, dass Lehrkräfte Antisemitismus oft nicht ernst genug nehmen. Wie soll ein Lehrer reagieren, wenn er auf dem Schulhof oder im Unterricht hört, dass jemand als „Du Jude“ bezeichnet wird?

Bernstein: Unabhängig vom Fach und vom Ort muss er sofort erklären, dass „Jude“ kein Schimpfwort ist. Oder fragen: Ich weiß nicht, ob Du verstehst, dass die Nazis daraus ein Schimpfwort gemacht haben? Es muss sofort reagiert und darf nicht überhört werden. Man darf nicht sagen, darum muss sich der Klassenlehrer oder Geschichtslehrer kümmern.

epd: Auch von Lehrkräften gehen laut Ihrer Studie antisemitische Anfeindungen aus. Wie bewusst geschieht dies?

Bernstein: Lehrkräfte leben nicht im sozialen Vakuum, sondern sind ein Teil der Gesellschaft, in der Antisemitismus in allen Gruppen und auch in der Mitte der Gesellschaft weit verbreitet ist. Wenn Sie fragen würden, würden die meisten sagen: Natürlich bin ich kein Antisemit. Die meisten sehen sich als aufgeklärte, reflektierte, engagierte Bürger und schließen es kategorisch aus, antisemitische Weltbilder haben zu können. Besonders wenig erkannt bleibt der israelbezogene Antisemitismus.

epd: Was muss sich ändern - und wo soll man anfangen?

Bernstein: Lehrkräfte müssen bei sich anfangen. Sie müssen Anteile antisemitischer Art bei sich suchen und reflektieren. Sei es in der Sprache, in der Einstellung, im Denken oder im Handeln. Man darf das Problem nicht externalisieren und glauben, das gibt es nur an den Rändern der Gesellschaft, bei Neonazis oder Islamisten. Wenn die Lehrkräfte bei sich anfangen, sind sie perfekte Vorbilder für die Schülerinnen und Schüler. Außerdem gibt es sehr gute Materialien und Filme, mit denen im Unterricht Antisemitismus reflektiert werden kann.

epd: Die Kirchen haben ein Gütesiegel entwickelt, mit dem Schulen künftig ein Zeichen gegen Antisemitismus setzen können. Ein guter Ansatz?

Bernstein: Es ist gut, dass man sich damit auseinandersetzt, um das Problem sichtbar zu machen. Ich glaube allerdings nicht an einen Stempel, der die jeweilige Schule vor Antisemitismus schützt. Ein Beweis dafür sind Rassismus und Antisemitismus an den Schulen mit dem Titel „Schule ohne Rassismus, Schule mit Courage“. Die Sensibilisierung gegen Antisemitismus bleibt ein stetiger Prozess der Wissensaneignung und Selbstreflexion.