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Bild: Rainer Sturm  / pixelio.de

Forschungsgruppe REMEMBER: Erinnerung an den Holocaust im Religionsunterricht – Empirische Einblicke und didaktische Impulse,  Reihe Religionspädagogik innovativ, Band 35; Kohlhammer; Stuttgart 2020, ISBN 978-3-17-038912-0, 276 Seiten; 29,00 €
 

Erinnerung an den Holocaust im Religionsunterricht

Wie lässt sich die Erinnerung an den Holocaust gerade angesichts aktueller gesellschaftlicher Entwicklungen wachhalten? Und welchen Beitrag kann hierzu insbesondere die Religionspädagogik, explizit der Religionsunterricht an Schulen, leisten? Diese Fragen bilden den Ausgangspunkt der Forschungen der international zusammengesetzten Gruppe aus Forscher*innen, die sich den Namen REMEMBER gegeben hat. Sie setzt sich aus Religionspädagog*innen aus Deutschland, Österreich und der Schweiz zusammen, die seit 2014 das Ziel verfolgen, die Potenziale religiöser Bildung an Schulen für die Erinnerungsarbeit zum Holocaust zu erforschen (20). Die Forscher*innen verorten ihr Projekt im internationalen Forschungskontext der „Holocaust Education“, machen zugleich aber deutlich, dass sie einen eigenen theoretischen und methodologischen Ansatz entwickelt haben, weil die Forschungsansätze der „Holocaust Education“ die religiöse Bildung bzw. den Religionsunterricht praktisch nicht thematisieren (21).

Die Ergebnisse der Einstiegsstudie der Forschungsgruppe REMEMBER sind nun in dem 2020 erschienenen Buch „Erinnerung an den Holocaust im Religionsunterricht“ zusammengefasst. Das umfangreiche Datenmaterial wurde in einer Querschnittsstudie mit einer einmaligen Erhebung durch einen Online-Fragebogen, der von Ende April 2016 bis Ende Mai 2017 von Religionslehrer*innen in Deutschland, Österreich und der Schweiz ausgefüllt werden konnte, gesammelt und ausgewertet. Am Ende lagen der Forschungsgruppe 1204 ausgefüllte Fragebögen als Grundlage für die Auswertung vor (37). Die vorliegende Studie ist als Einstieg und erstmaliger wissenschaftlicher Impuls für weitere Forschungen und vertiefende Studien zu der Thematik gedacht (228).

Nach einem kurzen Vorwort sowie einer Hinführung von zwei jüdischen Wissenschaftler*innen werden in den ersten beiden Kapiteln die theoretischen Ausgangspunkte sowie das methodische Vorgehen für die Datenerhebung und Auswertung ausführlich vorgestellt sowie begründet. Sowohl die Darstellung als auch die Begründung der Vorgehensweise sind sehr klar und deshalb gut nachzuvollziehen. Sie zeugen von einer akribisch vorbereiteten und in einem weiten wissenschaftlichen Kontext reflektierten Studie. 

In Kapitel 3 werden länderspezifische Analysen auf Grundlage des gesammelten Datenmaterials vorgenommen. Einleitend wird betont, es handele sich um explorative, nicht repräsentative Untersuchungen über die Einstellungen, Motivationen und die didaktischen Entscheidungen von Religionslehrer*innen zum Thema Erinnerung an den Holocaust im Religionsunterricht. Aus diesem Grund seien auch keine ländervergleichenden Analysen „im strengen Sinn einer komparativen Pädagogik bzw. Religionspädagogik möglich“ (67). Dennoch könnten an den länderspezifischen Analysen die unterschiedlichen gesellschaftlichen und historischen Kontexte der Religionslehrer*innen in den drei deutschsprachigen Ländern abgebildet werden, aus denen heraus Unterschiede im Antwortverhalten festzustellen sind, heißt es einleitend. Der jeweils unterschiedliche Aufbau der drei Analysen erschwert allerdings einen unmittelbaren Vergleich. 

In Kapitel 4 wird auf Grundlage der Daten bzw. Antworten vier Fragen nachgegangen: Welche Bedeutung hat der Religionsunterricht für die Erinnerung an den Holocaust? Wie werden didaktische Entscheidungen und der Einsatz spezifischer Materialien begründet? Welche Widerstände werden bei dem Thema wahrgenommen und wie werden diese gedeutet? Welchen Beitrag kann der Religionsunterricht zur Bekämpfung des Antisemitismus leisten, und an welchen Stellen zeigen sich Probleme? Hier ist der regelmäßige Abgleich mit dem Online-Fragebogen und den quantitativen Daten zu den einzelnen Fragen auf den letzten Seiten des Buches (267-275) nicht nur hilfreich, sondern teilweise auch notwendig. Das gilt insbesondere für die Ausführungen zu Offenheit und zu Widerständen gegenüber dem Thema bei Schüler*innen. Hier sind die Darstellungen und Feststellungen teilweise diffus, wozu vor allem scheinbar widersprechende quantitative Einordnungen wie „oft“, „manchmal“, „viele“, „wenige“ beitragen. Einerseits wird festgestellt, dass der überwiegende Teil der Schüler*innen für das Thema ansprechbar ist. Andererseits haben zahlreiche Lehrer*innen im Hinblick auf die offenen Frageformate deutliche Widerstände und Schwierigkeiten beim Unterrichten des Themas geschildert. 

Im 5. Kapitel ist ein Exkurs zu finden, der einen explorativen Einblick in ausgewählte Religionslehrpläne gewährt. Ernüchternd ist das Gesamturteil seitens der Forschungsgruppe: Das Thema Erinnerung an den Holocaust und das daran geknüpfte Thema Antisemitismus kommen in sehr verschiedenen Themenzusammenhängen vorwiegend als optionale Unterrichtsinhalte vor. Es hänge deshalb sehr vom persönlichen Engagement und Interesse der Religionslehrer*innen ab, ob und in welchem Kontext sie die Themen Erinnerung an den Holocaust und Antisemitismus unterrichten, so wird resümiert. 

Im letzten Kapitel benennt und erläutert die Forschungsgruppe REMEMBER schließlich mögliche religionspädagogische Konsequenzen und gibt religionsdidaktische Impulse. Sie begründet Konsequenzen und Impulse jeweils ausführlich auf Grundlage des ausgewerteten Datenmaterials aus der Online-Befragung. Die hier versammelten Vorschläge und teilweise sehr konkreten Impulse für den Religionsunterricht sind eine echte Fundgrube für alle Religionslehrer*innen, die die Potenziale des Religionsunterrichts für eine lebendige und an heutigen Schüler*innen orientierte Erinnerungskultur des Holocaust fruchtbar machen möchten.

Fazit: Nicht nur Religionslehrer*innen, sondern auch Lehrer*innen anderer Fächer sowie Schulleitungen, die an ihren Schulen die verblassende Erinnerung an den Holocaust, Tendenzen des Verdrängens und Relativierens sowie zunehmenden Alltagsantisemitismus wahrnehmen und dem präventiv entgegenwirken möchten, können in diesem Buch der Forschungsgruppe REMEMBER erhellende Analysen sowie hilfreiche Impulse für den Religionsunterricht und Schulalltag finden.

Christina Harder