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Bild: Rainer Sturm  / pixelio.de

Reinhold Mokrosch, Elisabeth Naurath, Michèle Wenger (Hg.):  Antisemitismusprävention in der Grundschule – durch religiöse Bildung; V&R, unipress; Göttingen 2020, ISBN 978-3-8471-0156-7, 361 S., 37,99 €
 

Antisemitismusprävention in der Grundschule – durch religiöse Bildung

Der Titel provoziert die Frage: Kann man, muss man schon in der Grundschule Kinder mit dem Problem des Antisemitismus konfrontieren und belasten? Dass es auch für die Grundschule kein hergeholtes Thema ist, zeigt Selcen Güzel, islamische Lehrerin in Augsburg: Da steht eine Viertklässlerin aufgeregt vor dem Klassenzimmer: „Mein Vater hat sehr geschimpft, dass wir Judenzeichen in Islam malen. Er war so sauer, dass er mein schönes Bild zerrissen hat. … Wir dürfen keine Judensachen machen. Juden töten in Palästina Muslime. …“ (329). Es handelte sich um ein Mandala-Bild, auf dem entfernt auch so etwas wie ein Judenstern zu entdecken war. Antisemitismus, der sich in bestimmten muslimischen Kreisen finden kann, ist nur eine Facette von Antisemitismus, der an Kindern nicht vorbeigeht. Georg Wagensommer zeigt anhand von empirischen Untersuchungen, dass auch „Nationalsozialismus und Holocaust aus der Perspektive von Kindern“ ein medial oder familiär meist rudimentär vermittelter Sachverhalt sind, der nach klärenden Hilfen auch in der Grundschule fragen lässt. (201). Ludwig Spaenle, Judentumsbeauftragter der bayerischen Staatsregierung, gibt deshalb die Devise aus: „Für Präventionsarbeit ist es nie zu früh“! (73) Reinhold Mokrosch, Elisabeth Naurath und Michèle Wenger legen zusammen mit 20 weiteren Autor*innen einen eindrucksvollen, erfahrungsgesättigten Band vor, der zur rechten Zeit kommt. Da er mit gelungenen Praxisbeispielen beginnt, liest man sich von Anfang an in konkrete Lernerfahrungen hinein. Ein Projekttag, in Osnabrück entwickelt, zeigt in Vielfalt eine lebendige Begegnung: „Was glaubt man, wenn man jüdisch ist?“ (ein Film aus der Reihe „Willi will’s wissen“), jüdische Festsymbolik und Gespräche mit Juden, Workshops und dabei besonders das Gespräch mit der 87-jährigen Zeitzeugin Erna de Vries zeigen, was elementar schon in der Grundschule „Judentum begreifen“ heißen kann. Das Schweizer Projekt „Likrat“ (hebräisch für „aufeinander zugehen“) stellt Jugendliche vor, die sich dafür schulen lassen, dialogisch zum Verstehen des Judentums beizutragen. Der Verein ZWEITZEUGEN engagiert sich, aus der Beschäftigung mit Zeitzeugen und ihren Biografien das Erbe der Zeitzeugen lebendig zu halten. Das „Lehrhaus für Kinder“ in der Alten Synagoge in Essen bringt Kindern im 3./4. Schuljahr das Judentum als Lebens- und Glaubensform nahe. 

Unterfangen wird die Praxis durch grundsätzliche Klärungen zu Antisemitismus und Antisemitismus-Prävention (Hanspeter Heinz) und die Erschließung verschiedener Kontextbereiche: Vorurteilsforschung (Elisabeth Naurath), die Zuordnung zur Aufgabe der Friedenserziehung (Reinhold Mokrosch), die Einbettung in trialogisches Lernen (Georg Langenhorst) und die Beziehung des Kinderrechtes auf Religion zu ihrem Recht auf Antisemitismus-Prävention (Thomas Schlag). Mit Michael Kiefers Einordnung der Aufgabe in die interreligiöse Bildung aus muslimischer Sicht und Reinhold Boschkis Forderung „Die Kinder sensibilisieren, nicht überfordern“ bei der Aufgabe des „Erinnerungslernens“ kommen Forscher*innen mit jahrelangen Erfahrungen in diesem Feld zu Wort. Über die Schwierigkeiten gehen die Autoren nicht hinweg: dass selten die direkte Begegnung mit Juden und jüdischen Kindern möglich ist und nur begrenzt durch mediale Begegnung ersetzt werden kann, dass die Konstruktion von Dialogen und jüdischer Kindersicht von außen aufgesetzt und nicht lebensnah erscheinen kann (Joachim Willems / Ariane Dihle) – aber auch, dass es in der Lehramtsaus- und -fortbildung noch deutliche Defizite gibt (Jasmin Kriesen) und dass Lehrpläne und Schulbücher der Differenziertheit der Thematik oft zu wenig Raum geben (Julia Spichal).

Wie ein Leitfaden halten sich grundlegende Einsichten durch: Geht von euren Kindern aus, nehmt wahr, was sie mitbringen, was sie fragen! Begnügt euch nicht mit der Vermittlung von „objektivem Stoff“, erschließt das Judentum als lebendige Religion! Nehmt die dialogischen Gewinne ernst, die zwischen Christen und Juden nach einer langen Problemgeschichte erarbeitet wurden! Stärkt die Sensibilitäten gegen Ausgrenzungen in anderen, oft ähnlichen Bereichen wie dem Antisemitismus! Schön wäre es gewesen, auch einen Beitrag aus jüdischer Feder dabei zu haben. An vielen der Projekte aber ist die jüdische Seite aktiv beteiligt. Sie können in der Kürze dieser Rezension leider nicht alle genannt werden. Auf eine besondere Perle aber soll hingewiesen werden: Der Beitrag von Heide Rosenow mit ihrer Schilderung biografiebezogener Lernformen ist ein Exempel für gelungene Erschließungswege gemäß den genannten grundlegenden Einsichten.
 

Johannes Lähnemann