rez_bild_oben

Bild: Rainer Sturm  / pixelio.de

Markus Gabriel: Warum es die Welt nicht gibt, Ullstein: Berlin 42018, ISBN 978-3-548-37568-7, 272 Seiten, 12,00 EUR

Manchmal müssen Bücher erst reifen. 2013 lag Warum es die Welt nicht gibt von Markus Gabriel erstmals in den Buchhandlungen aus. Ein plakativer Titel, bewusst unterhaltsam geschrieben, mit vielen Verweisen in die Populärkultur, so würde das Buch bestimmt Leser*innen finden. Ich dagegen legte es – nicht ohne akademische Arroganz, das sei zugegeben – wieder aus der Hand. 

Inzwischen wird Gabriels Werk auch in namhaften wissenschaftlichen Werken rezipiert; Anlass genug, um es doch einmal zur Hand zu nehmen. 

Der junge Professor aus Bonn geht den großen philosophischen Fragen nach. Was können wir erkennen? Wie nehmen wir die Wirklichkeit wahr? Gibt es diese Wirklichkeit überhaupt? Und hat das Ganze einen Sinn?

Dabei lässt er sich von Pragmatismus leiten. Dass auf meinem Schreibtisch gerade in diesem Moment, in dem ich diesen Text schreibe, eine Tasse Tee steht, ist keine Konstruktion. Ich muss mich darüber auch nicht in einem langen philosophischen Diskus mit anderen verständigen. Die Tasse gibt es, und das sogar in mehreren Sinnfeldern: in diesem Text, in meinen Gedanken, auf meinem Schreibtisch – und jetzt auch in Ihren Gedanken, liebe*r Leser*in. 

Alle wissenschaftlichen Theorien, die einen Anspruch auf Absolutheit haben, lehnt Gabriel ab. Ob Nihilismus oder Konstruktivismus, Naturwissenschaft oder religiöser Fundamentalismus: Theorien mit dem Anspruch auf letzte Wahrheiten, auf das Wissen um die eine Weltformel, kommen gerade darin an ihr Ende, dass sie radikal eben nicht zu Ende gedacht werden können. Keine Erkenntnistheorie kann die Welt umfassend erklären, weil es die Welt – erkenntnistheoretisch – gar nicht gibt. Das liegt, verkürzt gesagt, daran, dass es nur Sinnfelder gibt, in denen Gegenstände auftauchen, also z.B. meine Teetasse in den oben beschriebenen Sinnfeldern. Die Welt müsste dann das Sinnfeld sein, in dem alle anderen Sinnfelder beinhaltet sind. Damit müsste dieses „Welt-Sinnfeld“ sich aber auch selbst als Teilmenge enthalten; und das ist logisch unmöglich. Deshalb gibt es die Welt nicht. 

Alles andere aber gibt es. Übrigens auch Gott und Religion. Gabriel führt den Neoatheismus ad absurdum und zeigt, dass dieser selbst eine fundamentalistische Sichtweise ist. Da er zu Recht jeden Fundamentalismus kritisiert, müsste sich der Neoatheismus also selbst abschaffen. 

Es gibt Sinnfelder, in denen die Rede von Gott Sinn macht. Die Sphäre der Religion kann also als Zusammenhang von Sinnfeldern sinnvoll beschrieben werden. Es gibt Gott zumindest in manchen Sinnfeldern. Was zunächst nicht mehr bedeutet als dass es Gott auf die gleiche Weise gibt wie z. B. Hexen oder Hobbits; erstere z. B. im Sinnfeld von Hänsel und Gretel, letztere in allen Sinnfeldern (Buch, Film, Merchandising etc.) von Der Herr der Ringe. Allerdings ist es ausgeschlossen, dass mir Hexen oder Hobbits in den Straßen von Hannover begegnen, was im Hinblick auf Gott nicht ausgeschlossen werden kann. 

Gabriel beweist keineswegs Gott, zeigt aber, dass es nicht per se gegen erkenntnistheoretische oder, allgemeiner gesagt, gegen wissenschaftliche Prinzipien verstößt, wenn von Gott geredet wird. 
Ein kleines Manko bleibt, dass Gabriel seinen Pragmatismus, den er „Neuen Realismus“ nennt, gelegentlich selbst absolut setzt. Das wird besonders in der Auseinandersetzung mit dem Konstruktivismus deutlich. Dieser führt sich, wie Gabriel zeigt, am Ende selbst ad absurdum. Wenn alles konstruiert ist, dann ist auch diese Tatsache bloß Konstruktion, die damit gleichsam zusammenbricht. Dass aber Menschen sich ihre Umwelt konstruieren, kann auch Gabriel nicht leugnen. So wohltuend es ist, die Teetasse einfach eine Teetasse sein zu lassen und nicht anzunehmen, ich hätte sie mir nur konstruiert und könnte nicht über sie kommunizieren: Es bleibt doch festzuhalten, dass andere Dinge sehr wohl individuell konstruiert werden. So ist es in der Religionspädagogik wichtig, anzuerkennen, dass Menschen in Glaubensfragen, z.B. im Hinblick auf ihr Gottesbild, immer individuelle Konstruktionen bilden. Hier hätte ich mir gelegentlich ein wenig Offenheit dafür gewünscht, dass auch Konstruktivismus und übrigens auch Atheismus in manchen Diskursen sinnvoll sind, so wie Gabriel auch den Naturwissenschaften ihren sinnvollen Bereich zugesteht. 

Trotzdem bietet das Buch eine anregende Lektüre, die noch dazu Vergnügen bereitet. Der Autor schreibt unterhaltsam, was manchmal etwas gewollt und gelegentlich kalauernd daherkommt, dabei aber nie oberflächlich oder anspruchslos wird. Der Philosoph weiß, wovon er spricht. Die Leser*innen wissen nach der Lektüre, warum es die Welt nicht gibt und warum das auch gut so ist. Gut, dass ich dem Buch eine zweite Chance gegeben habe. Ich hätte sonst viel verpasst. 

Andreas Behr