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Bild: Rainer Sturm  / pixelio.de

Isolde Charim: Ich und die Anderen. Wie die neue Pluralisierung uns alle verändert, Zsolnay: Wien 2018, ISBN: 978-552-05888-0, 223 Seiten, 22,00 EUR

Das Buch der österreichischen Philosophin und Publizistin Isolde Charim, die unter anderem für die taz schreibt, ist aus einer Sommervorlesung für den Österreichischen Rundfunk entstanden. Sechs Wochen lang sprach Charim dort zum Thema Identität und Pluralisierung. Ihre zentrale These geht davon aus, dass wir gegenwärtig in einer pluralisierten Gesellschaft leben, aus der es kein Zurück mehr zu einer homogenen Gesellschaft geben kann. Die völlig neuartige Zusammensetzung von Gesellschaft affiziert und verändert alle. Der pluralisierte Individualismus, und hier setzt die Autorin ihren Hauptakzent, habe (zunächst) keinen eigenen Inhalt, sondern ihn zeichne einzig die Einschränkung von Identität aus (Kapitel 1 und 2). Zur Verdeutlichung erinnert die Autorin an ein Ritual für Migranten*innen in den USA im 19. Jahrhundert: Bei ihrer Ankunft mussten sie durch eine Scheune gehen, ihre Trachten ablegen, um dann als Amerikaner eingekleidet auf der anderen Seite wieder herauszukommen. Diese Scheune, so die Philosophin, existiere nach wie vor in unseren Köpfen, wenn wir von Migration und Integration sprechen. Dem stellt Charim gesellschaftsanalytisch entgegen, dass gesellschaftliche Vielfalt nicht nach einem additiven Prinzip funktioniere, sondern immer die gesamte Gesellschaft betreffe – diejenigen, die neu hinzukommen genauso wie diejenigen, die schon da sind. Darum gebe es gegenwärtig weder eine selbstverständliche Kultur noch eine evidente Zugehörigkeit. Niemand könne seine Kultur heute noch so leben, als ob es keine andere daneben gäbe. Das verbindende Narrativ der Nation, das den Einzelnen in eine Gemeinschaft einfüge, funktioniere nicht länger. „Heute spürt oder ahnt zumindest jeder, dass er selber nur eine Möglichkeit neben anderen ist. Dass seine Identität nicht beanspruchen kann, ‚normal‘ zu sein. Sie kann das nicht für andere … Wir können es aber auch für uns selbst nicht mehr. Das heißt: Wir können nicht mehr unhinterfragt, ungebrochen, selbstverständlich wir selbst sein. Denn wir erleben täglich: Wir könnten auch ganz anders leben, wir könnten auch ganz anders sein.“ (47f.) Mit Peter Berger bezeichnet Charim die Herausforderung, die in diesem Lebensgefühl steckt, als „kognitive Kontamination“. Sie prägt dafür den Begriff der „prekären Identität“. Wenn in einer Klasse muslimische Schüler*innen neben christlichen, jüdischen und atheistischen sitzen, migrantische neben nicht-migrantischen Deutschen, dann verändere das die Identität jedes Einzelnen, nehme ihr die Selbstverständlichkeit und lasse sie weniger (selbstverständlich) Ich sein, ein „Weniger-Ich“. „Das Wissen, die Erfahrung der Unterschiede, das Erleben der Vielfalt schreibt sich in jeden von uns ein. Unabhängig davon, wie man dazu steht.“ (51) Kontingenz wird zu einem gewichtigen identitätsbildenden Faktor.

In den folgenden Kapiteln diskutiert Charim die Frage, wie pluralisierte Individuen ohne gemeinsames Weltbild und ohne gemeinsame Überzeugungen zusammenleben können. Sie wendet ihre These der prekären Identität auf die gesellschaftlichen Schauplätze von Religion, Kultur und Politik an und durchdenkt dabei die brennenden Fragen nach Ursachen von Fundamentalismus und Populismus. Für den Religionsunterricht in der Oberstufe könnte der Ansatz Charims interessant sein, die Identitätsfrage exemplarisch anhand der Kulturstrategien von Conchita Wurst und Andreas Gabalier zu entfalten. Sie analysiert sie als paradigmatische Figuren, an denen man ablesen kann, was sich verändert hat. In Conchita Wurst sieht Charim einen gesellschaftlichen Wendepunkt gegeben. Aus dem Effekt der uneindeutigen Zeichen und prekären Individuen wird hier ein Programm, nämlich die Entscheidung, das Prekär-Werden der Zeichen aktiv zu betreiben: Das Faktum der Pluralisierung wird zum Programm des Pluralismus. Symbol dieser Wende ist der Bart. Den entwickelt Tom Neuwirth durch die Schaffung seiner Kunstfigur Conchita Wurst von einem Phallussymbol zum Zeichen einer Nichtvollen-Identität. Gleichzeitig werden natürliche Zeichen, wie beispielsweise Geschlecht, uneindeutig. Demgegenüber stehen Andreas Gabalier und seine Lederhose für einen Kulturessentialismus, nämlich für den Versuch, das Eigene, die eigenen religiösen, nationalen oder ethnischen Praktiken, auf Dauer zu stellen und fundamentalistisch zu fixieren. Gegen Entheimatungsängste wird ein aggressives, exklusives Wir konstruiert, das als Sicherheitsmaßnahme dient, um die eigene Identität zu retten. Pluralisierung und deren Abwehr sind die beiden starken Trennlinien, die die postmigrantische Gesellschaft durchlaufen.

Im dritten Kapitel wendet Charim ihre These der prekären Existenz auf Religion an und beschreibt den Gläubigen in unserer diversifizierten Gesellschaft grundsätzlich als einen Konvertiten. Das Einreihen in die Tradition und Generationskette früherer Religiosität existiere nicht länger, sondern in unhintergehbar pluralisierten Gesellschaften bedürfe der Glaube einer Entscheidung. In der Frage nach Religionszugehörigkeit sei darum die Wahl das entscheidende Kriterium. Man wähle nicht nur, säkular oder religiös zu sein, sondern durch Wahl wende man sich eben auch einer Religion zu. Die Zugehörigkeit ist dabei immer eine partiell säkularisierte, denn man weiß durch die neue Sichtbarkeit und Präsenz unterschiedlicher Religionen, dass sie nur eine Möglichkeit unter anderen und dadurch relativ ist. In der partiellen Säkularisierung des eigenen Heiligen jeder Religion sieht Charim das Potenzial gesellschaftlicher Pluralisierung, nämlich die Freiheit, einer anderen Anrufung zu folgen. Das verdeutlicht sie exemplarisch an der Biografie des Psychologen Ahmad Mansour, der nur so, partiell säkularisiert, eine neue, nicht volle muslimische Identität ausbilden konnte, die ihn aus dem Fundamentalismus herausgeführt hat. „Nur so kann er als Moslem gegen die islamische Radikalisierung und auch gegen den muslimischen Antisemitismus auftreten. Nur so kann er versuchen, radikalisierte Jugendliche vor den Lockungen des Radikalismus zu retten.“ (91)

Isolde Charim hat einen Entwurf vorgelegt, der schweren Themen mit einem leichten Stil begegnet. Sie analysiert darin durch die Brille ihrer These der prekären Identität gegenwärtige gesellschaftliche Herausforderungen. Man kann einer so verdichteten Schrift immer vorwerfen, dass sie komplexe Zusammenhänge nicht differenziert genug in den Blick nimmt. Gemeinsam mit einer interdisziplinären und von nationaler Herkunft heterogenen Gruppe Studierender im ersten Semester an der Universität Lüneburg hat Charims These die Diskussionen um nationale und religiöse Identität im Seminar außerordentlich bereichert.

Barbara Hanusa