Der Kirchentag, der fünf Tage umfasst, wird von zwei großen Gottesdiensten eingerahmt. Am ersten Tag findet ein großer Eröffnungsgottesdienst und am letzten Tag ein Abschlussgottesdienst statt. Da diese Gottesdienste meist live im Fernsehen für alle übertragen werden, die nicht auf dem Kirchentag sein können, haben sie eine große Reichweite. Sicherlich sehen sich eher Menschen eine solche Übertragung an, die selbst in irgendeiner Weise kirchen- bzw. glaubensaffin sind. Trotzdem erreicht sie viel mehr Menschen als der*die Ortspastor*in mit einem herkömmlichen Sonntagmorgen-Gottesdienst. Häufig wird in Klassenzimmern darüber diskutiert, wie politisch eigentlich die Kirchen sein dürfen. Betrachten wir die Predigten der Abschlussgottesdienste der Kirchentage, wissen wir, dass Kirche sich hier politisch nicht zurückhält – was aber keine große Überraschung darstellt, wenn man die Geschichte des Kirchentages betrachtet. Dieser wurde als evangelische Laienbewegung und Gegenüber zur verfassten Kirche gegründet und sollte als Schnittstelle zwischen Kirche und Welt fungieren. Den Gründern war es wichtig, einen Begegnungsraum zu bieten sowie ein Forum für politische Themen, Demokratiebildung und geistliche Herausforderungen der Zeit darzustellen.1 An dieser Tradition wird festgehalten, auch wenn der Eventcharakter zugenommen hat.
Pastor*innen, die den Abschlussgottesdienst mitgestalten, appellieren an die Zuhörenden, dass sowohl die Menschen als auch die Kirchen Verantwortung für die Welt übernehmen müssen.
2017 – im Jahr des Reformationsjubiläums Luther2017 – erzählt der anglikanische Erzbischof von Kapstadt, Thabo Makgoba, in Anspielung an Martin Luther King in Wittenberg beim Abschlussgottesdienst von seinem Traum für die Welt: Eines Tages soll all das narzisstische, nationalistische, isolationistische Geschwätz unserer heutigen Zeit verschwinden. Stattdessen wünscht er sich, dass ein globales Bewusstsein entsteht, dass wir eine Menschheit sind. Die Erfüllung dieses Traums ist in den letzten Jahren noch weiter in die Ferne gerückt. Die Predigt von Thabo Makgoba hat daher nichts an Aktualität eingebüßt.
Beim Kirchentag 2019 in Dortmund lautet das Motto „Was für ein Vertrauen“. Pastorin Sandra Bils greift in ihrer Abschlusspredigt die Zeilen „Geduld habt ihr nötig, auf dass ihr den Willen Gottes tut und das Verheißene empfangt“ (Heb 10,36) auf und appelliert an die Teilnehmenden, dass sie ihr Vertrauen nicht wegwerfen sollen. „Wenn wir Jesus glauben: Was ihr dem geringsten meiner Brüder und Schwestern getan habt, das habt ihr mir getan (Mt 25,40), dann ist für uns Leben Retten kein Verbrechen, sondern Christenpflicht. Man lässt keine Menschen ertrinken! Punkt!“ Dieser Satz hat nicht bei allen Menschen Begeisterung ausgelöst. So wenig wie ihr Reden von uns Christ*innen als „Gottes Gurkentruppe“ ebenfalls in dieser Predigt. Auch das Engagement nach dem Kirchentag, das dazu führte, dass das Seenotrettungsschiff „Sea-Watch 4“ zu Wasser gelassen wurde, führte teilweise zu Hassbotschaften an den damaligen EKD-Vorsitzenden Heinrich Bedford-Strohm.
Auch beim letzten Kirchentag wird die Predigt-Zeit nicht mit langen Phrasen verschwendet. Pastor Quinton Ceasar kommt schnell auf den Punkt, da die Zeit jetzt sei, was auch gleichzeitig die Losung dieses Kirchentages in Nürnberg ist. Es sei jetzt nicht die Zeit, die Menschen weiter zu belügen, nein, man müsse jetzt handeln und Veränderungen vornehmen und mutige Entscheidungen treffen. Gott sei immer auf der Seite derer, die am Rand stehen, die nicht gesehen oder nicht benannt werden. Pointiert hält Quinton Ceasar fest:
„Jetzt ist die Zeit, zu sagen:
Black lives always matter.
Jetzt ist die Zeit, zu sagen:
Gott ist queer.
Jetzt ist die Zeit, zu sagen:
We leave no one to die.
Jetzt ist die Zeit, zu sagen:
Wir schicken ein Schiff.
UND wir empfangen Menschen in sicheren Häfen.
Safer spaces for all.“
Die Aussage „Gott ist queer“ erhält nicht nur Beifall, sondern wird auch hetzerisch zerrissen. Quinton Ceasar erhält Hassbotschaften, die auch rassistisch motiviert sind. Auch Alexander Brandl, Pfarrer und Blogger aus München, und Constanze Pott werden mit Hassbotschaften konfrontiert.2 Die Landeskirche Hannovers hat die Attacken in aller Deutlichkeit zurückgewiesen. „Über die Aussagen und Inhalte einer Predigt auch kontrovers zu diskutieren, ist legitim. Aber die Art und Weise, in der das aktuell vor allem in den digitalen Medien geschieht, lehnen wir entschieden ab“, sagte Sprecher Benjamin Simon-Hinkelmann. Beim Kirchentag hätten die Teilnehmenden kontroverse Themen wertschätzend und respektvoll miteinander diskutiert. „Das hätten wir uns auch für diese Diskussion gewünscht.“3 Gleichzeitig wird die Predigt von vielen gefeiert. So vermutet Horst Gorski, zu der Zeit Theologischer Vizepräsident der EKD, in einem „Zeitzeichen“ Artikel, dass diese Predigt einen popkulturellen Status erreichen könne.4 Egal, ob sie dies erreichen wird oder nicht, so ist doch klar: Diese Predigt ist bereits mutig, stark, beherzt, und wir können gespannt sein, wie die nächste Abschlussgottesdienstpredigt – mit dieser Losung – sein wird.
Anmerkungen
- Vgl. https://www.kirchentag.de/was-ist-kirchentag/geschichte (08.07.2024).
- Mehr dazu: https://kurzlinks.de/5nl0 (24.10.2024).
- https://kurzlinks.de/sgef (24.10.2024).
- https://zeitzeichen.net/node/10524 (08.07.2024).