Ritual und Spiel in Religion und Theater

von Ingrid Hentschel


Das Verhältnis von Theater und Religion ist ein durchaus spannungsreiches, verbunden mit einer langen Geschichte, die hier nicht erzählt werden soll. Dieser Beitrag möchte die Beziehungen zwischen Theater und Religion eher systematisch behandeln und nimmt deswegen ihre beiden Schnittfelder, Spiel und Ritual, in den Blick. Dabei werden sozialanthropologische Perspektiven mit kunstphilosophischen und theaterwissenschaftlichen Überlegungen verbunden. Das Phänomen Spiel, als Basis von Theaterkunst, erweist sich auch in Ritual und Religion als bedeutsam. Ludische Elemente sind es, die angesichts repetitiver und traditionsgebundener religiöser Gehalte zu ihrer Erneuerung und Verlebendigung beitragen. Die Theaterkunst mit ihren spielerischen wie auch rituellen Elementen ist geeignet, den Zwischenbereich von ästhetischem und religiösem Erleben zu inspirieren.


Theater als dynamisches Geschehen

Wer über Theater redet, hat eine bestimmte Vorstellung von dem, was das Medium ausmacht. Theater wird häufig als Aufführung von Stücken verstanden, in denen Handlungszusammenhänge und Geschichten präsentiert werden. Als Theater wird dabei wahrgenommen, was sich auf einer Bühne abspielt. Dagegen meint die griechische Wurzel des Begriffs theatron auch den Ort des Publikums. Theater ist ein Raum zum Schauen. So geht die heutige Theaterwissenschaft von der zentralen Bedeutung der Aufführung für die Definition des Mediums aus, was bedeutet, dass Theater aus Bühne und Zuschauerraum besteht: Aufführungen vollziehen sich zwischen Schauspielenden und Publikum. Die Zuschauenden sind an dem beteiligt, was auf der Bühne an Bedeutung erzeugt wird: Es entstehen Bilder in den Köpfen und Empfindungen in den Körpern. Erst in unausgesprochener Verabredung mit dem Publikum erhält die Vielfalt theatraler Zeichen – seien es sprachliche, visuelle, gestische, musikalische oder andere – ihren Sinn. In einer Aufführung kann ein Glas den Kelch darstellen, den Sokrates getrunken hat. Es kann aber genauso gut als ein Diamant oder als der abgeschlagene Kopf von diesem und jenem fungieren. Ob es gelingt, das Glas mit einer jener Bedeutungen zu verknüpfen, ist eine Frage der Inszenierung und der guten Dramaturgie. Dazu gehört aber auch die Bereitschaft einer Zuschauer*in, den Ball, der ihr von Seiten der Bühne zugespielt wird, aufzunehmen und sich zu erlauben, dass Bilder und Assoziationen in ihrem Kopf entstehen und ihre Gefühle angesprochen werden. Genau das ist eben die wunderbare, auch magische Eigenschaft des Mediums Theater: dass jedes Zeichen durch ein anderes ersetzt werden kann und die responsive Aktivität des Publikums nötig ist, damit eine Aufführung gelingt.

Ein solcher, dynamisch zu verstehender Theaterbegriff bildet die Grundlage, um die Beziehungen zwischen Theater und Religion zu erkunden. Wenn Theater als Gleichzeitigkeit von Spielen und Zuschauen zu verstehen ist, dann bedeutet diese Gegenwärtigkeit, dass jeder Text, jedes Stück, auch wenn es aus dem Traditionsbestand der Theatergeschichte stammen sollte, jeweils neu vor einem aktuellen Publikum vergegenwärtigt wird. Das Erfordernis, sich dem Verständnis, dem Verstehens- und Erlebnishorizont von Zeitgenoss*innen zu stellen, teilt Theater mit der Kirche, insbesondere der liturgischen Praxis. Sie muss ihren Bestand an religiösen Texten, Dogmen und rituellen Traditionen jeweils in Zeitgenossenschaft erlebbar machen. Wie die Künste, so besetzten auch Christentum und Kirche das Imaginäre der Menschen, „[…] nicht nur mit Geboten und Verboten, sondern auch mit Erzählungen vom Guten und Bösen, mit Bildern vom gelingenden Leben, von Hölle und Paradies, von Erlösung und Glück.“1 Beide, Religion und Theater, haben es mit Elementen von Imagination, Bildhaftigkeit und Spiel zu tun, verbunden – wie zu sehen sein wird – mit rituellen Elementen.


Spiel und Theater

Der enge Bezug des Theaters zum Spiel ist offenkundig. Als Praxis des Schau-Spiels fußt es auf Verwandlung und Imagination, für die der Beruf des Schau-Spielers steht. Die Bedeutung des Spiels für die Vielfalt kultureller Hervorbringungen liegt spätestens seit Johan Huizingas Untersuchung „Homo Ludens. Vom Ursprung der Kultur im Spiel“ auf der Hand; und so überrascht es kaum, wenn inzwischen auch die ludischen Elemente als Bestandteil vieler Rituale ins Licht der Forschung treten.2
 
Die Vielfalt von Spielformen und -elementen in den unterschiedlichen kulturellen Kontexten legt es nahe, einen weiten phänomenologisch orientierten Spielbegriff zur Anwendung zu bringen. Den Bezugspunkt bildet Hans-Georg Gadamers beispielhafte Untersuchung zur Beziehung von Spiel, Symbol und Fest, in der Spiel als ein dynamisches Geschehen beschrieben wird.3 Es ist ein Phänomen des Übergangs, des Dazwischen. Es oszilliert zwischen den Erfahrungsbereichen von innerer und äußerer Realität, von Wirklichkeit und Phantasie, von Traum und Realität. Anders als Wahnvorstellungen, als Halluzinationen oder bloße Phantasiegebilde unterhält das Spiel, um eine Formulierung Sigmund Freuds zu benutzen, Stützpunkte in der Realität. Spielen beinhaltet nicht nur gedankliche Vorstellungen, sondern aktive Handlungs- und Kommunikationselemente. In der Dynamik des Spiels wird die Frage „Ist das echt oder nur ausgedacht?“ obsolet. Im zeitlich-räumlichen Kontinuum spielerischer Aktivität können andere Gesetze und Regeln gelten als in der Wirklichkeit. Dennoch ist Spiel beeinflusst und offen für die Erfahrungen der Lebenswelt.4 


Ritual und Kunst

Spielerische Vorgänge unterhalten ein intensives Verhältnis zu rituellen Phänomenen. Wie diese sind sie außerhalb der Routinen des alltäglichen Erlebens angesiedelt und stehen zugleich in einem Spannungsverhältnis dazu. Spiele sind häufig durch Wiederholungscharakter und Ritualisierungen gekennzeichnet. Wer kennt sie nicht, die immergleichen Verse und Worte, die viele Kinderspiele wie „Der Plumpsack geht rum“ oder „Ochs am Berg“ begleiten. In Kunst, Literatur, Tanz und Musik sind es Rhythmik, Motivik oder zeremonielle Eröffnungsformeln, wobei auch die Rezeption mit rituellen Elementen verbunden ist, denkt man an Publikumsrituale wie das Gebot von Stille, die Sitz- und Applausordnung. Die Künste sind eingebunden in konventionalisierte Strukturen. So bildet auch das Fest als Rahmung von Theater und Musik und seine Form der Festspiele, die wir seit der Antike kennen, eine rituelle Struktur. Zu unterscheiden sind an dieser Stelle Ritualisierung und Ritual. Das Phänomen der Ritualisierung beinhaltet wiederkehrende Alltagshandlungen, Begrüßungsfloskeln, Zähneputzen und ähnliche Aktivitäten, während sich Ritual auf komplexe Handlungsstrukturen bezieht. „Rituale in einem engeren Sinne der Begriffsverwendung sind mithin in der Regel bewusst gestaltete, mehr oder weniger form- und regelgebundene, in jedem Fall aber relativ stabile, symbolträchtige Handlungs- und Ordnungsmuster, die von einer gesellschaftlichen Gruppe geteilt und getragen werden [...]“.5 

Rituale, sei es in religiöser oder profaner Hinsicht, sind durch Formalismus, Traditionalismus, Invarianz, Regelhaftigkeit, Symbolisierung und Aufführung/Performance gekennzeichnet.6 Im Rahmen ihrer Durchführung stellen sie, auch wenn sie altbekannt sind, immer wieder aktuell inszenierte Vergegenwärtigungen mit erheblichen Symbolgehalt dar. Auf sie treffen viele der spielerischen, körperlich-sinnlichen Attribute zu, die wir Theateraufführungen sowie künstlerischen Performances zuschreiben.7  Rituale verfügen über dynamische und ludische Potenziale. Trotz ihrer Regelhaftigkeit können sie als kreative und produktive Elemente von sozialen Interaktionen gelten. Das bedeutet, dass Rituale zwar traditionsverhaftet sind, aber auch verändert werden.8 


Paradoxe Konstellationen

Angesichts der ungeheuren kulturellen Vielfalt und Diversität von Ritualen weltweit ist immer wieder festzustellen, wie widersprüchlich und komplex Rituale sind. Auf der einen Seite finden wir Regelhaftigkeit und Kontrolle, auf der anderen können Erfahrungen der Auflösung und Entgrenzung auftreten, wie sie durch Trance, Rausch und Tanz in vielen Kulturen und religiösen Praxen bekannt sind. Der Anthropologe Victor Turner fand heraus, dass gerade in Zeiten der Veränderung und des Wandels Symbole und Rituale bedeutsam werden, um Sicherheit angesichts von Ungewissheit herzustellen. Indem sich Rituale als Ereignis vom Alltag abheben und eine Gegenwelt zum alltäglichen Leben erzeugen, können sie ein gemeinschaftsbildendes und stabilisierendes Potential entfalten. Sie erfüllen wichtige Funktionen zur Regelung und symbolischen Bewältigung von latent krisenhaften Schwellen-, Übergangs- und Grenzsituationen. Dabei werden Krisensituationen nicht nur durch gemeinschaftliche Erfahrung geteilt, sie werden auch dargestellt und symbolisch veranschaulicht, Rituale bieten damit auch Erklärungs- und Deutungsmöglichkeiten. So ist es nicht verwunderlich, wenn die zentralen Themen, die wir aus Ritual und Religion kennen, auch die Themen der Literatur, des Theaters bis hin zur Populärkultur sind: Liebe, Tod, Schuld, Macht, Versöhnung.

Ein Ritual muss keine besonderen Erlebnisqualitäten bei seinen Teilnehmer*innen hervorbringen. Zu seiner Wirksamkeit reicht es aus, wenn es stattfindet und ausgeführt wird. Was die Teilnehmer individuell dabei erleben und fühlen, ist für seine Wirksamkeit unerheblich. Denken wir beispielsweise an zeremonielle Abläufe wie eine Eheschließung oder an eine Taufe, die auch dann gilt, wenn das Kind weint. Ein Initiationsritus, bei dem der Status vom Kind zum Mann gewechselt wird, oder auch nur die Verleihung eines akademischen Grades in einer zeremoniellen Form; all dies sind Riten, die Wirksamkeit entfalten. Anders als die Rituale der Kunst. Niemand wird einer Eheschließung oder einem Gebet auf der Theaterbühne ernsthafte Wirksamkeit zusprechen wie in einer Kirche.

Aber Wirksamkeit ist nicht die einzige Funktion von Ritualen. Sie versammeln Menschen, verbinden sie in einer gemeinsamen Situation und Erfahrung. Rituale haben Erlebnisdimension und ästhetische Komponenten: Sie werden inszeniert und aufgeführt mithilfe von Kostümen, schmückendem Beiwerk, Raumgestaltung, Tanz und Musik, besonderen Speisen. In den ästhetischen und ludischen Aspekten sind Rituale durchaus dem Theater verwandt. Das verfügt jedoch über die Freiheit, unabhängig von normierten Anlässen und kodifizierten Formen intensives Erleben und ästhetischen Genuss zu bereiten.


Ritual, Spiel und Kunst – Struktur und Antistruktur

Während Rituale in der Regel wiederkehrende bekannte Antworten und Deutungen für existentielle Erfahrungen zur Verfügung stellen, ist dies bei der Kunst und damit dem Theater nicht durchweg der Fall. Im Gegenteil: Häufig verweigern sie die Antwort oder formulieren sie uneindeutig oder betont unverständlich. Wenn Milo Raus Inszenierung „Lam Gods” den berühmten zwölfteiligen Flügelaltar der Brüder Jan und Hubert van Eyck aus dem Jahre 1435 (oder 1437) in Gent zum Mittelpunkt einer Inszenierung nimmt, in der ein Lamm live auf der Bühne geschoren wird, ein nacktes Paar Liebe macht und die Mutter eines IS-Kämpfers nebst Bürger*innen der Stadt auftritt, so ist das Publikum gefordert, aktiv an der Deutung der Vorgänge teilzunehmen.9 Uneindeutigkeit ist – entgegen wohlmeinend edukativen Programmen – eine essenzielle Eigenschaft von Kunst. Die Mehrdeutigkeit und Polyvalenz von Kunst ist es, die ihre Hervorbringungen abgrenzt von den didaktischen Spielen und den politisch motivierten Ritualen und rituellen Inszenierungen, wie wir sie aus der Gegenwart und Geschichte, nicht zuletzt der NS-Zeit kennen. In Kunst, Spiel und Theater sind es häufig gerade die Tabubrüche, die ihre Vitalität und gesellschaftliche Virulenz ausmachen.

Der Anthropologe Viktor Turner unterscheidet zwischen strukturgebenden erhaltenden und auflösenden Elementen. Beide Dimensionen verortet er sowohl in Ritualen als auch im Theater. Er findet dafür die Begriffe Struktur und Anti-Struktur.10  Angesichts der Befunde von Ritualforschung und Theaterwissenschaft verbietet es sich, das eine als starr und das andere als bewegt zu klassifizieren. Rituelle Elemente tragen mit ihrem Wiederholungscharakter zur Stabilität bei, während die ludischen als solche der Auflösung und des Experiments fungieren und bekannte Orientierungen unterlaufen können. In der Theatergeschichte finden wir jeweils unterschiedliche Mischungsverhältnisse beider Dimensionen: sowohl stärker rituell inszenierte Formate – man denke an die legendären Aufführungen des Living Theatres – als auch stärker spielerische wie das komödiantische Maskenspiel der Commedia dell’Arte.

Bei allen Überschneidungen gilt es sich zu vergegenwärtigen, dass die Theaterkunst sich vom Ritual unterscheidet: Hier, wie auch im Spiel überhaupt, finden wir rituelle Elemente, aber verbunden mit besonderen Freiheitsgraden: Das bedeutet, dass das Moment der Wirksamkeit weitgehend außer Kraft gesetzt ist. Ein Spielgeschehen kann starke Effekte erzeugen, aber diese sind abgesondert von den sonstigen Lebensvollzügen, während Rituale eben dort hinein wirken sollen. Man denke an die vielfältigen Reinigungsrituale, die unter streng abgesonderten Bedingungen durchgeführt werden, aber dann im Alltagsleben ihre Wirkung entfalten sollen. Auch wenn das Spiel auf der Bühne tiefer Ernst sein kann – wie in der Tragödie oder auch im Dokumentartheater – so findet es doch dort und nicht im Leben selbst statt. Die zeremonielle Reinigung ist „nur“ gezeigt. Die Bühne negiert den Wirklichkeitscharakter dessen, was sich auf ihr vollzieht – und dennoch können wir Spiel und Theater äußerst intensiv erleben. Das eben ist der paradoxe Charakter der Theaterkunst: Die Doppelung von Sein und Bedeuten, von Spiel und Wirklichkeit, Illusion und Realität ermöglicht es, Gewissheiten, Erfahrungen und Deutungen im wahrsten Sinne des Worts aufs Spiel zu setzen. So steht die Theaterkunst dem Spiel näher als dem Ritual, und dennoch kann sie nicht ganz auf rituelle Wirksamkeit verzichten, wenn sie Spuren in der Gegenwart ihres Publikums hinterlassen will. Es gibt einen heiligen Ernst des Spiels. Laut der griechischen, aber auch der indischen Mythologie waren es die Götter, die das Spiel erfanden. Mit „deep play“ wird im Anschluss an den Philosophen Jeremy Bentham und später dem Ethnologen Clifford Geertz ein Spiel bezeichnet, dem es ernst ist, ein Spiel, in dem wir es wagen, uns aufs Spiel zu setzen, ein Spiel, das sich zu Transzendenz und Utopie öffnet und sich von bloßer Spielerei unterscheidet.11 


Ästhetische und religiöse Erfahrung

Religion berührt die Präsenz der Transzendenz, also dasjenige, was über unsere aktuelle Gegenwart hinausweist, und ist damit anderen Transzendenzerfahrungen nahe, wie sie in verschiedenen Bereichen des Lebens anzutreffen sind. Der Religions- und Kulturwissenschaftler Peter L. Berger unterscheidet zwischen einem weiten und engen Begriff der Transzendenz, der „niederen Transzendenz“, die wir von der Erfahrung des Komischen angefangen über Traum und Spiel bis zum erotischen Erleben kennen, und der „höheren Transzendenz“, die religiös im wahrsten Sinne des Wortes ist.12 Es sind besonders die ästhetischen Erfahrungen, die uns in andere Sphären des Erlebens versetzen und das alltägliche Hier und Jetzt transzendieren. Ein unvermittelter Anblick leuchtenden Herbstlaubs, die seltsame Spiegelung in einer Fensterscheibe, ein Klang von weither… Ästhetische Erfahrungen können wir im Theater wie in anderen Bereichen der Kunst machen, aber auch in der Natur und im Alltag. Damit sind Erfahrungen gemeint, in denen unsere Wahrnehmung vermittels der Sinne angesprochen ist und die mit einer besonderen Art des Erlebens einhergehen.

Beide, ästhetische und religiöse Erfahrung, sind sich in ihrer Abständigkeit von den Formen der Alltagserfahrung nahe. Beide sind auf die Dimension der Sinnlichkeit, der Anschauung angewiesen. Gott zu wissen, von Jesu Leiden gehört zu haben, reicht nicht aus, um eine liturgische Veranstaltung zu generieren. Kognitive Erkenntnisse führen ebenso wenig wie Vernunftgründe und erlernte Routinen zu religiösem Erleben. Auch wenn der Protestantismus den verschwenderischen Bilderreichtum des Katholizismus nicht teilt, so kommt er nicht aus ohne Veranschaulichungen und rituelle Handlungen.

In Lukas Bärfuss‘ Stück „Der Bus“ formt der Busfahrer eine Puppe aus einem Klotz Holz, einem Schnürsenkel und einem Fetzen Stoff und fordert die vermeintlich Gläubige, die sich auf dem Weg zu einem Wallfahrtsort befindet, auf, sich die Puppe als Talisman umzuhängen und daran zu glauben. Ein Vorgang, der im Theater ohne weiteres möglich ist: Ich kann einen Kugelschreiber oder jeden beliebigen Gegenstand nehmen, und die Schauspieler bitten ihn anzubeten. Wenn sie dies überzeugend tun, werden wir ihnen ihre Rolle abnehmen. Ihr Gebet wird wirkungslos bleiben.

Hier kommt nun ein fundamentaler Unterschied zum Ausdruck: Auch Religion arbeitet mit Zeichen. Doch hier sind die Bedeutungen fixiert, Brot und Wein sind deutlich definierte Symbole. Dagegen kann sich das Theater die Freiheit nehmen, die bekannten Bedeutungen auf den Kopf zu stellen, die gewohnten Gesetze außer Kraft zu setzen.

Aber religiöse Erfahrung umfasst, ebenso wie ästhetische, mehr als rational und dem Argument zugängliche Bedeutungsgehalte. Sie zu erfassen, zu erklären oder willentlich herbeizuführen, ist kaum möglich. Nicht anders als die Erfahrung von Kunst.

Betrachten wir die ludischen Elemente in Religion und Theater, so ergeben sich weitere Perspektiven. Das Erleben von Spiel geht mit einer besonderen Intensität einher, mit Konzentration und Freude am Vorgang des Spielens, bedeutet Verwandlung innerer Erfahrung in äußeres Geschehen. Spiel heißt Zusammenspiel und Einsatz körperlicher sinnlicher Momente unserer Existenz. Eine Religion, die ohne Veranschaulichung, ohne ästhetisch-sinnliche Zugänglichkeit, ohne spielerische Elemente der Teilhabe und Gestaltung auszukommen meint, bleibt blutleer und letztlich abstrakt. Das Spiel ist es – und auf theoretischer Ebene der Spielbegriff –, das beides, Theater und Ritual, als eine Praxis der Freiheit offenhält und die Veränderung von Ritualen, also Ritualdynamik ermöglicht. In diesem Sinne wäre vielleicht auch von Religionsdynamik zu sprechen, zu der die Künste einiges beitragen können.

Spielerische Erfahrungen, ästhetischer Genuss, Freude und Ergriffenheit sind Bestandteile künstlerischer wie religiöser und ritueller Praxis. Ihnen Raum zu geben, bedeutet, angesichts der steten Verwissenschaftlichung unserer Lebenswelt und der alltäglichen Dominanz rational gesteuerter Prozesse, die Dimensionen menschlicher Existenz zu vergegenwärtigen, in denen wir uns in vollem Umfang als Menschen spüren und entfalten können. Das eben kann die Theaterkunst in ihrer ganzen Vielfalt immer wieder zur Darstellung bringen.

Anmerkungen

  1. Wulf, Zur Genese des Sozialen, 127.
  2. Vgl. Bornet/ Burger, Religions in Play.
  3. Gadamer, Die Aktualität des Schönen.
  4. „Das Kind unterscheidet seine Spielwelt sehr wohl, trotz aller Affektbesetzung, von der Wirklichkeit und lehnt seine imaginären Objekte und Verhältnisse gerne an greifbare und sichtbare Dinge der wirklichen Welt an. Nichts anderes als diese Anlehnung unterscheidet das ‚Spielen‘ des Kindes noch vom ,Phantasieren‘ (Sigmund Freud, Der Dichter und das Phantasieren, in: GW Bd. 7, 214).
  5. Brosius/ Michaels, Ritualforschung heute, in: Ritual und Ritualdynamik, 15.
  6. Vgl. Bell: Ritual Theory, Ritual Practice.
  7. Theatrale Elemente ritueller Praxis sind: Inszenierung, Korporalität, Darstellung/Performanz, Wahrnehmung. Vgl. Fischer-Lichte: Ästhetik des Performativen.
  8. „Ritualdynamik ist daher der Regelfall und nicht die Ausnahme in rituellen Praktiken; das Neue gehört zu Ritualen ebenso wie das Alte.“ Brosius/Michaels, Ritualforschung heute, 16.
  9. Vgl. Hentschel, Wer sieht uns, wenn wir leiden?, 156f.
  10. Turner, Das Ritual sowie Turner, Dramas, Fields, and Metaphorics.
  11. Geertz, Dichte Beschreibung, 107f., vgl. a. Hentschel, Der Gegensatz von Spiel ist nicht Ernst.
  12. Berger, Erlösendes Lachen, 241ff.

Literatur

  • Bärfuss, Lukas: Der Bus (Das Zeug einer Heiligen), in: Meienbergs Tod und andere Stücke, Göttingen 2005
  • Berger, Peter L.: Erlösendes Lachen. Das Komische in der menschlichen Erfahrung (i.O.: Redeeming Laughter 1997), Berlin, New York 1998
  • Bell, Catherine: Ritual Theory, Ritual Practice, New York 1992
  • Brosius, Christiane/Michaels, Axel/ Schrode, Paula (Hg.): Ritual und Ritualdynamik. Schlüsselbegriffe, Theorien, Diskussionen, Göttingen 2013
  • Bornet, Philippe/Burger, Maya (Hg): Religions in Play. Games, Rituals and Virtual Worlds, Zürich 2012.
  • Fischer-Lichte, Erika: Ästhetik des Performativen, Frankfurt a. M. 2004
  • Gadamer, Hans-Georg: Die Aktualität des Schönen, Kunst als Spiel, Symbol und Fest, Stuttgart 1977
  • Geertz, Clifford: Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme (i. O.: Interpretation of Cultures, 1973), Frankfurt a. M. 2002
  • Hentschel, Ingrid: Zeitgenossenschaft. Theater und Kirche zwischen „Marktorientierung“ und genuinem Auftrag, in: Inszenieren – Inspirieren – Konfrontieren. Potentiale zwischen Kirche und Theater, hg. v. Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz in Zusammenarbeit mit dem Zentralkomitee der deutschen Katholiken, Bonn 2011, 53-65 (auch https://dli.institute/wp/wp-content/uploads/2017/11/AH254.pdf)
  • Hentschel, Ingrid: „Der Gegensatz von Spiel ist nicht Ernst, sondern Wirklichkeit!“ Spielverlust und Deep Play – Über performative Paradigmenwechsel im Theater der Gegenwart, in: Vaßen, Florian (Hg.): Korrespondenzen – Theater – Ästhetik – Pädagogik, Berlin 2010, 43-60.
  • Hentschel, Ingrid: Theater und Religion: Zwischen Spiel und Ritual, in: Fischer, S./ Schubeck, B. (Hg.): Kunst-Rituale – Ritual – Kunst. Zur Ritualität von Theater, Literatur und Musik in der Moderne, Würzburg 2019, 102-121
  • Hentschel, Ingrid: Wer sieht uns, wenn wir leiden? Über die Präsenz des Religiösen im Gegenwartstheater, in: COMMUNIO, Internationale Zeitschrift 49. Jg. März/April 2020, Theater – Bühne – Christentum, 139-151
  • Köpping Klaus-Peter: Theatralität als Voraussetzung für rituelle Effektivität, in: Ingrid Hentschel / Klaus Hoffmann (Hg.): Theater – Ritual – Religion, Berlin u. a. 2004, 141–162.
  • Menke, Christoph: Die Kraft der Kunst, Frankfurt a. M. 2013
  • Turner, Victor: Das Ritual. Struktur und Anti-Struktur, Frankfurt a. M. 1989 (i. O.: The Ritual Process, 1969)
  • Turner, Victor: Dramas, Fields, and Metaphorics. Symbolic Action in Human Society, Ithaca/London 1974 (reprint 2018)
  • Wulf, Christian: Zur Genese des Sozialen: Mimesis, Performativität, Ritual, Bielefeld 2005