Didaktik und Spiel

Von Till Meyer

 

Das Spiel nimmt in der Bildung eine Sonderstellung ein. Einerseits deshalb, weil es so gut als Lernmedium geeignet ist, andererseits, weil so wenige Menschen ihm dieses Potenzial zugestehen. Es steht außer Frage, dass Theater, Film, Literatur, Musik, Malerei und welche menschlichen Ausdrucksformen es noch gibt, ernst sein können, sagen wir ruhig: seriös.


Zweifellos gibt es auch den Schwank, ein B-Movie und das großäugige Kind mit Kätzchen in Öl, aber deshalb wird der klassischen Tragödie oder der Mona Lisa nicht ihre Bedeutung für die menschliche Kultur abgesprochen. Beim Spiel ist das anders. Wenn wir erklären, dass wir hauptberuflich Spiele entwickeln – und nicht nur das, sondern didaktische Spiele – dann entstehen Falten auf Stirnen und fragende Blicke. Wobei die Verblüffung nach kurzem Nachdenken erst mal verfliegt: „Ach, so was wie Ravensburger … ?“, und sich dann wiederum massiv Bahn bricht, wenn wir verneinen und erläutern, dass es sich bei unserer Arbeit um Spiele als Informations- und Lernmedium dreht.


Nun gut, es gibt auch Menschen – und ihre Zahl nimmt täglich zu – die spontan ausrufen: „Ach, das ist ja spannend!“, aber in der Regel erwarten wir als nächsten Satz: „Und, äh, etwas Vernünftiges machen Sie nicht?“ Aber warum machen wir bei der Firma „Spieltrieb“1 überhaupt so eine dubiose Arbeit? Unserer Ansicht nach sind Spiele nicht nur ein hervorragendes Lernmedium, sie sind im Grunde sogar das Lernmedium par excellence.


Nun erhebt sich aber auf Seiten der Normal-Spieler*innen Unmut. Es passiert relativ oft, dass auf Messen Menschen mit Neugier und Interesse einen unserer bunten Kartons in die Hand nehmen und nach dem Lesen des rückseitigen Textes ernüchtert fragen: „Äh, ist das etwa ein Lernspiel?“ Und wenn ich dann sage: „Ja, doch, schon“, dann wird ganz schnell das Spiel zurückgestellt mit dem Satz: „Ach, nee, dann nicht. Ich will nichts lernen im Spiel!“


Dabei sind alle klassischen Spiele Lernspiele. Es geht jetzt gar nicht darum, dass Kinder beim Vater-Mutter-Kind-Spielen ihre späteren Rollen im Leben vorwegnehmen oder bei Doktor-Spielen das andere Geschlecht kennenlernen, sondern dass das jedes Kinderspiel geeignet ist, die großen Mysterien des Lebens zu begreifen. Auch jedes traditionelle Spiel ist oder war ein Lernspiel.


Schach beispielsweise diente mit hoher Wahrscheinlichkeit im alten Persien oder Indien zur Ausbildung von Heerführern, beschreibt den Einsatz der verschiedenen Truppenteile und lehrt taktisches und strategisches Denken. Das indische Pachisi – hierzulande bekannt als Mensch ärgere dich nicht – ist nicht etwa ein Kinderspiel, sondern in der Urform die Simulation eines Menschenlebens, das so oft die Stationen von Geburt bis zum Tod (geschlagen werden) durchlaufen muss, bis das Nirvana erreicht ist und der Mensch nicht mehr wieder geboren wird. Ähnliche Wurzeln haben das germanische Gänsespiel oder das Leiterspiel, bei denen es um Tugenden und Untugenden geht.


Aber auch neuere Entwicklungen haben deutliche Bezüge zum Lernen und Leben: Monopoly geht aller Wahrscheinlichkeit nach bis in das 19. Jahrhundert zurück, wo es als Landlord´s Game die Situation von Großgrundbesitzern und Kleinbauern beschrieb. Eugen Oker weist darauf hin, dass eines der berühmtesten Kriegsspiele – Stratego – seinen Ursprung im niederländischen Widerstand während des Dritten Reiches hat. 


Und auch das Prestige bestimmter Spiele oder Spielthemen zu bestimmten Zeiten spricht Bände: Risiko erlangte seine Berühmtheit in den Anfangsjahren des Kalten Krieges, Monopoly wurde in Deutschland in der Wirtschaftswunderzeit zu dem Spiel schlechthin, und ein Großteil der in den letzten Jahren erschienenen Spiele spiegelt den Kolonialismus wider, oder – wenn man so will – die Globalisierung.


Es ist vielmehr die Frage, welche Erwartungen man an das Spielen hat: einfach nur Spaß haben oder Lernprozesse unterstützen? Dem Spiel pädagogische Potenziale abzusprechen ist ebenso falsch, wie Lernspiele als unsinnige Überfrachtung einer Freizeitbeschäftigung anzusehen. Letzteres ist in etwa so, als würde ein begeisterter Sportwagenfahrer allen Lieferwagen die Existenzberechtigung absprechen. Aber eben das ist die Arbeit, die wir bei der Firma „Spieltrieb“ leisten. Ein*e Autor*in normaler Gesellschaftsspiele denkt sich ein spannendes Spiel aus, an dem man einfach nur Freude hat – und es entsteht etwas Flaches, Rotes, Schnelles mit zwölf Zylindern. Wir hingegen gehen von der Überlegung aus, was eigentlich transportiert werden soll. Wie groß muss der Laderaum sein? Was wird überhaupt transportiert und wie weit? Können die späteren Fahrer*innen bereits Auto fahren, oder soll der Lieferwagen auch für ungeübte Menschen leicht handhabbar sein? Ganz gleich, wie diese Fragen beantwortet werden: Es muss auf jeden Fall Spaß machen, mit dem Lieferwagen zu fahren; sonst setzen sich die Menschen einmal rein und dann nie wieder.


Viele didaktische Spiele der 1970er-Jahre – als das Lernspiel langsam wieder Fuß fasste – sind von der Absicht her prima Lieferwagen, aber das Fahren damit war wirklich anstrengend.


Um gute Spiele zu entwickeln – oder, um einen Eindruck davon zu bekommen, ob ein vorliegendes Spiel Spaß machen könnte – sollte man wissen, wie Menschen spielen. Was macht Spaß, ist spannend und fordert die Spieler*innen intellektuell heraus? Dabei ist klar, dass Kinder oft andere Spiele mögen als Jugendliche und Erwachsene, dass Menschen, die sich mit einem Thema bereits beschäftigt haben, andere Ansprüche stellen als solche, denen das Thema noch vollkommen fremd ist.

Unsere Arbeit bei „Spieltrieb“ unterscheidet sich aber ab hier erheblich – um nicht zu sagen: fundamental – von der „normaler“ Mainstream-Autor*innen. Diese entwickeln eine erfolgversprechende Idee und basteln daraus in zeitraubender Arbeit ein tolles Spiel. Oft genug wird erst dann die Frage beantwortet, welches Thema dieses Spiel denn nun bekommen sollte. Seit Jahren sind Wikinger-Spiele en vogue, davor waren es Piraten und natürlich immer wieder Mittelalter. Wenn wir einen Auftrag bekommen, steht das Thema bereits fest, und unsere Aufgabe ist es, eine tolle Umsetzung des Themas zu schaffen. 


Die grundsätzlichen Fragen, die wir uns stellen, wenn wir ein didaktisches Spiel entwickeln, sind: Was ist das Thema des Spiels? Was soll vermittelt werden? Wem soll es vermittelt werden? In welchem Rahmen soll das Spiel eingesetzt werden?


Man muss sich fragen – denn gute Spiele sind immer ein Modell der Realität –, ob die Spielstruktur und die Spielmechanik zum Thema passt. Ein Spiel zum ökologischen Lernen sollte beispielsweise ein hohes Maß an Kooperation besitzen, denn welcher Mensch profitiert allein von einer intakten Umwelt? Ein Spiel zum interkulturellen Lernen sollte den Austausch und das Gespräch unter den Spieler*innen fördern und einen geringen Zufallsanteil haben, denn Vorurteile und Fremdenfeindlichkeit werden nicht zufällig abgebaut, sondern in der Auseinandersetzung mit anderen. Ein Kinderspiel sollte andere Qualitäten von Spielspaß und Spielstruktur haben als eins für ältere Menschen. Wenn ein Spiel in der Schule eingesetzt werden soll, muss es sich am 45-Minuten-Takt orientieren.

Um einen Eindruck davon zu vermitteln, welche unterschiedlichen Spielkonzepte sich aus der Beantwortung der Fragen ergeben können, folgen drei Beispiele aus unserer Tätigkeit.


Unser Spiel Das Buch & Das Leben für die Luther-Kirchengemeinde in Wiesbaden sollte Konfis zeigen, dass die Bibel mitnichten überholt ist, sondern weiterhin vielfältige Bezüge zum täglichen Leben heute hat. Die erste Frage war, wie wir das anfangen können. Eine Möglichkeit war schnell gefunden: Es gibt einen Stapel Karten „Das Buch“, auf denen Bibelzitate stehen, die möglichst viel Raum zum Assoziieren und Interpretieren bieten. Ein zweiter Stapel „Das Leben“ gibt Slogans, Zitate, Nachrichten, Werbeanzeigen etc. wieder. Die Aufgabe der Spieler*innen ist es, ein passendes Bibelzitat zu einer aufgedeckten Karte „Das Leben“ zu finden. Und nach Möglichkeit auch begründen zu können, warum sie diese Wahl getroffen haben. Da für alle dieselbe Karte „Das Leben“ gilt, entwickeln sich meist intensive Diskussionen, weil einige Spieler*innen in einem Bibelzitat Bedeutungen sehen, an die andere überhaupt nicht gedacht haben. Ich mag dieses Spiel immer noch als eines der Liebsten aus unserer Werkstatt. Nicht zuletzt deshalb, weil es mitunter zum Schreien komisch ist, wenn man versucht, einen Mikrowellenbackofen mit einem Bibelzitat in Verbindung zu bringen, und es in der nächsten Runde wirklich ernst wird, wenn es um Hans und Sophie Scholl geht.


So weit, so gut. Dieses Spielkonzept hat in den Tests hervorragend funktioniert und tatsächlich ist ein Gewinncharakter bei diesem Spiel eigentlich sekundär – es geht ja in erster Linie darum, Gedanken und Interpretationen zu teilen und sich gegenseitig vielleicht den einen oder anderen Augenöffner zu vermitteln. Nun sollte unser Spiel aber für die Konfi-Arbeit geeignet sein, und bei Jugendlichen (bei vielen Erwachsenen auch) ist die erste Frage, wenn man ein Spiel erklärt: „Und wie gewinnt man das?“ Viele Menschen brauchen eine Antwort auf diese Frage, um ein Spiel zu verstehen. Also gaben wir dem Spiel einen Gewinncharakter, bei dem man möglichst clever sein Bibelzitat an eine*n Käufer*in verkaufen muss. Dieses Spielziel hat mit dem didaktischen Ziel überhaupt nichts zu tun, und in der Tat haben in der Testphase viele Gruppen den Gewinncharakter völlig unberücksichtigt gelassen.

Ganz anders die Vorüberlegungen bei unserem derzeit entstehenden Spiel Das volle Leben. Dieses Spiel soll Jugendlichen zeigen, wie spannend und abwechslungsreich der Pfarrberuf sein kann, und die Überlegung anregen, ob diese Berufswahl nicht vielleicht für sie selbst die passende sein könnte. Hier geht es also weniger um Austausch und Diskussion als um Vermittlung von Informationen über den Pfarrberuf und die Selbstreflexion der Spieler*innen.


Während Das Buch & das Leben die Konkurrenz nutzt, damit sich die Spieler*innen möglichst gute Argumente überlegen, um ihr Bibelzitat zu verkaufen, wäre ein ähnlicher Wettbewerb bei Das volle Leben ziemlich unrealistisch. Im Gegenteil, Zusammenarbeit, gegenseitige Hilfe und Kooperation ist im Pfarrberuf die Regel. 


Der Zufallsanteil bei Das volle Leben ist vergleichsweise hoch, denn auch dies entspricht dem realen Leben. Man weiß einfach nicht, ob man als Pfarrer*in im nächsten Monat mit einem besonderen Problem überfordert sein wird oder ob man es souverän lösen kann. Entsprechend spielt bei diesem Spiel auch die Entwicklung, das Lernen, eine wesentliche Rolle: Die Spieler*innen beginnen mit einer gewissen persönlichen Grundausstattung auf ihrer neuen Arbeitsstelle, und zuerst werden sie von den Aufgaben schier erschlagen. Überkritische Konfis, schwierige Gemeindemitglieder, zerstrittener Vorstand und nicht zuletzt vielleicht Probleme im Privatleben machen alles nicht ganz einfach. Aber an jeder Aufgabe wachsen die Spieler*innen und lernen dazu. Im Spiel sind die Kompetenzen der „Pfarrer*innen“ in der Basisversion zwar vorgegeben, aber es besteht durchaus die Möglichkeit, dass die Spieler*innen sich selbst spielen und sich vor Spielbeginn fragen: „Wie groß ist eigentlich mein Einfühlungsvermögen? Wie sehr ist mein Humor ausgeprägt?“ Auch dieses Spiel kann man gewinnen, aber es gibt praktisch keine Möglichkeit, aktiv gegeneinander zu spielen; wer zuerst eine Anzahl neuer Gemeindemitglieder sammeln konnte, gewinnt. Da Das volle Leben auch im Religionsunterricht eingesetzt werden soll, wurde dem Spiel eine Variante beigegeben, die es erlaubt, es inklusive Nachbereitung in 45 Minuten zu spielen.

Ein wieder ganz anderes Spiel ist Majority, das ich mit der Gemeindepädagogin und dem Prädikanten der Kirchengemeinde in Merzig entwickelt habe. Auch hier waren die Konfis die Zielgruppe. Das Spiel sollte deutlich machen, dass die Kirche keine unveränderliche Struktur ist, sondern dass sie sich immer wieder durch das Engagement von Menschen ändert und reformiert, die fragen: „Ist dieses oder jenes überhaupt noch zeitgemäß? Oder sollten wir über eine Neuorientierung nachdenken?“ Exemplarisch wurden die Zehn Gebote in den Mittelpunkt des Spiels gestellt. Die Gruppe wurde in zwei Kleingruppen Traditionalist*innen und Progressive aufgeteilt. Der größte Teil der Gruppe war die Gemeinde. Die beiden Kleingruppen erhielten ein paar Minuten Zeit zur Verfügung, um sich ihre Argumentation für oder gegen ein ausgewähltes Gebot zu überlegen. Dann erhielten die Gruppen einige Minuten Redezeit, um zu begründen, warum das Gebot unbedingt so erhalten bleiben müsse bzw. warum es sinnvoll sei, es zu reformieren. Danach bekam die Gemeinde Gelegenheit, einen Tischtennisball entweder den Traditionalist*innen zu geben oder den Progressiven – je nachdem, welche Argumentation ihnen schlüssiger erschien.


Schließlich bereiteten sich die Kleingruppen auf die nächste Runde vor, während in der Gemeinde darüber gesprochen wurde, wer sich wie entschieden hatte und aus welchem Grund. Wir hätten prinzipiell für dieses Spiel ein ähnliches Setting wählen können wie für Das Buch & Das Leben, allerdings war bei Majority eine wesentliche Vorgabe, dass das Spiel im Rahmen eines Spiele-Gottesdienstes gespielt werden sollte. Daher mussten die Regeln einfach und unmittelbar verständlich sein und das Spiel musste ohne viel Spielmaterial auskommen.

Ich hoffe, es ist deutlich geworden, welche Aspekte bei der Entwicklung didaktischer Spiele eine Rolle spielen, und dass bei relativ ähnlicher pädagogischer Zielsetzung drei vollkommen unterschiedliche Spiele entstehen können.


Nun könnte man natürlich fragen: Warum sollen denn überhaupt didaktische Spiele eingesetzt werden, wenn die Entwicklung so komplex ist und der Einsatz höhere Anforderungen an die Fachkräfte stellt? Das Spiel ist das einzige Medium, bei dem die Spieler*innen mit ihrer gesamten Persönlichkeit beteiligt sind. Ein Film, ein Buch, ein Theaterstück ändern sich nicht, egal wer – oder ob überhaupt – jemand liest oder zuschaut. Ein Spiel ändert sich jedes Mal mit den Spieler*innen – oft sogar dann, wenn es dieselben Personen sind. Und die Spieler*innen sind emotional beteiligt. Die emotionale Beteiligung ist aber für einen Lernerfolg immer dann besonders wichtig, wenn Themen behandelt werden sollen, die massiv von Gefühlen geprägt sind. In diesem Zusammenhang ein nicht-affektives Medium einzusetzen, mag sich anbieten, ist aber in etwa so, als wolle man seiner Gruppe eine Tasse Tee anbieten – und dabei auf den Tee selbst verzichten. Zu erzählen, wie das heiße Wasser eigentlich schmecken müsste, wird manchmal erfolgreich sein, aber sicherer ist es doch, auch tatsächlich Teeblätter hineinzutun.

Konfuzius wird der Spruch zugeschrieben: „Sage mir, und ich werde vergessen. Zeige mir, und ich werde mich erinnern. Lass mich teilhaben, und ich werde verstehen.“ Mehr Teilhabe am Lernprozess als mit dem Spiel ist schwer vorstellbar.

 

Anmerkung

  1. Till Meyer betreibt gemeinsam mit Nicole Stiehl die Spieltrieb GbR (www.spiele-entwickler-spieltrieb.de), die Spiele für Unternehmen und Einrichtungen der Bildungsarbeit entwickelt.