Strukturwandel in der Landwirtschaft – Elementare Klärungshilfe im Blick auf religiöse Bildungsprozesse

Von Ina Schaede

Landwirtschaft, Tierwohl, Ernährungswandel …: ein Themenkomplex unter Ideologieverdacht

„Die Zahl der französischen Landwirte ist in den letzten fünfzig Jahren stark zurückgegangen, aber sie ist noch nicht ausreichend zurückgegangen. Sie muss sich noch mal halbieren oder dritteln, damit man den europäischen Standards, den dänischen oder holländischen Standards gerecht werden kann – das meine ich in Bezug auf Milchprodukte, beim Obst setzen Marokko oder Spanien die Standards. Heute gibt es etwas über sechzigtausend Milchviehzüchter; in fünfzehn Jahren werden meiner Meinung nach fünftausend davon übrig sein. Kurz gesagt: Was derzeit mit der französischen Landwirtschaft passiert, ist ein riesiger Entlassungsplan, der größte aktuell laufende Entlassungsplan, bei dem die Leute unabhängig voneinander verschwinden, in ihrer jeweiligen Gegend, ohne je ein Thema (…) abzugeben.“

In seinem Roman „Serotonin“ beschreibt Michel Houellebecq wie nebenbei den Niedergang des adeligen Kleingrundbesitzers Aymeric, der in einem baufälligen Schloss in der Normandie lebt und Viehzucht und Milchwirtschaft betreibt. Aymeric versucht sich an die Anforderungen des Bio-Siegels zu halten. Seine Milchkühe haben Platz und dürfen sogar in den Wintertagen draußen weiden. Es handelt sich also um keine industrielle Aufzucht. „Aber je mehr ich alles korrekt zu machen versuche, desto schlechter komme ich über die Runden“, so Aymeric kurz vor seinem Suizid (145).

Im Jahr 2016 kam es zu einer Suizid-Welle unter Landwirten in Deutschland. Alarmierende Berichte aus europäischen Nachbarländern zeigen, dass – bedingt durch den Strukturwandel – die klein- und mittelständischen landwirtschaftlichen Betriebe zunehmend unter Druck geraten. Zugleich profitieren landwirtschaftliche Großbetriebe mit industrieller Ausrichtung von den Pauschalzahlungen bzw. Agrarsubventionen, die eine Marktregulierung verhindern. Nimmt man die Milchwirtschaft in den Blick, so ist eine merkwürdige Diskrepanz zu beobachten: Während die kleineren Betriebe durch den niedrigen Milchpreis zunehmend unter Druck geraten und aufgeben – mit teilweise dramatischen Folgen für ganze Familien –, fließen Millionen in riesige Landwirtschaftsbetriebe. Die Verzweiflung unter den Kleinbauern nimmt zu. Im Schweizer Kanton Waadt wurde nach einer Serie von Suiziden eigens eine Stelle zur Suizidvorbeugung unter den Landwirt*innen eingerichtet. Der zuständige Pfarrer Pierre-A. Schütz geht in Interviews („Die Zeit“, Nr. 50/ 2016, und die „Neue Zürcher Zeitung“) davon aus, dass die Landwirte sich von der Gesellschaft im Stich gelassen fühlen. Doch auch die Großbetriebe mit industrieller Ausrichtung stehen vor der Herausforderung, trotz millionenschwerer Subventionen ihre Betriebe so zu organisieren, dass sie (auch im digitalen Zeitalter) betriebswirtschaftlich gut aufgestellt sind.

Die agrarwirtschaftliche Gesamtsituation ist – nimmt man die Milchwirtschaft als Beispiel – so komplex, dass sie für einen Menschen ohne Fachexpertise nur schwer zu durchschauen ist. Gerade die Themenkomplexe Landwirtschaft, Tierwohl, Ernährungswandel etc. besonders anfällig für Ideologien. Damit sind nicht nur die „klassischen“ ideologischen Grabenkämpfe zwischen Landwirtschaft und Umweltschutz gemeint. Das Problem besteht darin, dass die Thematik jeweils von einer bestimmten Interessensgemeinschaft aus einem bestimmten Standpunkt heraus aufgerollt wird. Es lassen sich drei Standpunkte unterscheiden: Erstens werden Menschen in den Blick genommen, die bäuerlich leben (anthropologischer Standpunkt). Zweitens stehen Tiere und andere Lebewesen im Mittelpunkt der Überlegungen (tierethischer Standpunkt). Drittens rückt das Ökosystem (Stichwort: Greta Thunberg) in den Fokus (ökologischer Standpunkt). Es ließen sich andere Standpunkte hinzufügen.

Im Blick auf die religiöse Bildungsaufgabe stellt sich die Frage: Welche Zugänge zu diesem komplexen Themenkonglomerat sind für die Bildungsaufgabe geeignet? Und was soll theologisch und religionspädagogisch bei diesen Zugängen geklärt werden?

 

Eine elementare theologische und religionspädagogische Klärungshilfe – drei Zugänge als Beispiel

Zunächst ist der eigene Standpunkt bzw. die eigene Tendenz zu reflektieren: Interessiere ich mich für Menschen, die bäuerlich leben, für das Tierwohl oder das Ökosystem? Entsprechend unterschiedliche Literatur und Netzwerke werden mit dem jeweiligen Standpunkt aufgerufen: Während im Blick auf bäuerliches Leben das seelsorgerliche Interesse im Vordergrund steht (Bsp.: Pfarrer Pierre-A. Schütz), wird in der tierethischen Literatur die Frage nach dem Milch- und Fleischverzicht traktiert. Der Frage nach dem Ökosystem kommt spätestens seit der Fridays-For-Future-Bewegung große mediale Aufmerksamkeit zu.

Sodann sind die unterschiedlichen Standpunkte und Elemente miteinander ins Spiel bzw. ins Gespräch zu bringen. Am Beispiel des Milch- und Fleischkonsums etwa lässt sich aufzeigen, dass die tierethische Literatur den Verzicht auf Milch- und Fleischprodukte für richtig hält. Dies hätte zur Folge, dass der Viehbestand drastisch reduziert werden müsste. Im Extremfall würde Milchvieh überflüssig werden und nur noch im Streichelzoo zu besichtigen sein. Der vollständige Verzicht auf Milch und Fleisch zieht einen Strukturwandel nach sich, der einen radikalen Eingriff in das bäuerliche Leben bedeutet. Damit ist unweigerlich die Frage nach der Gerechtigkeit verbunden. Die Reduktion von Fleischkonsum bedeutet wiederum, dass die Tieranzahl verringert würde, so dass keine Ballungsgebiete entstehen. Damit werden auch Emissionen reduziert, was sich positiv auf das Ökosystem auswirkt. Die Reduktion des Viehbestands zieht eine Preiserhöhung auf Milch- und Fleischprodukte nach sich. Mit diesen ökonomischen Veränderungen ist ebenfalls die Gerechtigkeitsfrage verbunden.

Am Beispiel dieser drei Zugänge lässt sich aufzeigen, dass es jedoch letzten Endes um eine Spannung, wenn nicht gar um ein Dilemma geht. Diese Spannung betrifft die Frage nach dem gemeinsamen Leben, die immer wieder aufs Neue Generationen übergreifend im Ausgleich unterschiedlicher Interessen verhandelt werden muss. Auf Kirchen- und Gemeindeebene wird vorschnell der tierethische Standpunkt eingenommen und der Vegetarismus propagiert. Damit können ideologische Elemente verbunden sein. Vielmehr geht es in theologischer Perspektive darum, die eschatologische Spannung auszuhalten: Dass Löwe und Lamm beieinander weiden und der Löwe Stroh frisst wie das Rind, ist eine biblisch-eschatologische Heilsvorstellung (Jes 65,25), die mit dem Anbruch des Gottesreiches realisiert werden soll. Zu dieser Vorstellung gehört auch, dass Menschen weder Bosheit noch Schaden tun werden. Vegan-Trends ohne Rücksicht auf die Frage nach dem gemeinsamen Leben sind von dieser Vorstellung zu unterscheiden. Die Förderung der Unterscheidungs- und Urteilskompetenz ist Teil der religiösen Bildungsaufgabe.