Moderne Tierhaltung in einer modernen Gesellschaft?

Von Peter Kunzmann

Wir haben es satt

Dass die gegenwärtige mitteleuropäische Gesellschaft (oder wichtige Teile davon) sich massiv und dauerhaft für Fragen der modernen Tierhaltung interessiert, kann ernstlich nicht bezweifelt werden. So gesehen gehört es gerade zu einer modernen Gesellschaft, sich für moderne Tierhaltung zu interessieren. Das Thema Nutztiere scheinen die westlichen Gesellschaften über längere Zeit ausgeklammert und abgeschottet zu haben; umso mächtiger ist es wiedergekehrt, um zu bleiben. Wenn Tausende auf der rituellen Demo zur Grünen Woche unter dem Slogan „Wir haben es satt“ demonstrieren, dokumentieren sie ein breites Interesse an Fragen der Landwirtschaft und hierbei wiederum ganz besonders in ihrem Engagement gegen „Tierfabriken“ oder gegen die „Massentierhaltung”.

 

Massentierhaltung

Es gehört seit Jahren zum Repertoire der Profis aus der Landwirtschaft, hier spöttisch zu fragen, was denn „Massentierhaltung“ überhaupt sei. Eine Untersuchung aus Göttingen gab dafür als Zahl an: Massentierhaltung beginne für Verbraucher bei 500 Rindern oder 1.000 Schweinen oder 5.000 Hühnern beim Geflügel. Wissen die Leute, die gegen Massentierhaltung protestieren, überhaupt um diese Zahlen? Müssen sie darum wissen? Natürlich nicht, denn was sie auf die Straße treibt, sind Bewertungen. Massentierhaltung ist ein so genanntes thick concept, wie Sprachphilosophen es nennen: Ein Begriff, der eine Beschreibung und zugleich eine Bewertung enthält. (Wie etwa „Geld verjubeln“ nicht nur heißt, viel auszugeben, sondern es sinnlos auszugeben.) Was solche Begriffe bedeuten, ergibt sich aus dem, was Menschen in besonderen Sprachspielen damit machen: Anprangern, Verleumden, Protestieren, Beklagen, Aktivieren, Analysieren. Dazu brauchen sie selten Definitionen und (so gut wie) nie wissenschaftliche Definitionen. Es hat wenig Sinn, auf die fehlende Begriffsbestimmung zu verweisen, um damit zu behaupten, die Menschen wüssten nicht, wovon sie reden. Hochspezialisierte Tierhaltungen, große Zahlen einer einzigen Tierart an einem Ort, ein hoher Grad an Technisierung, eine Anpassung der Tiere an eine technisierte Haltungsumwelt, ein geringer ökonomischer Wert des Einzeltieres und folglich eine geringe Wertschätzung des tierlichen Individuums: Das alles meinen Menschen, wenn sie von „Massentierhaltung“ sprechen, üblicherweise mit abwertender Geste. Die Frage, ob tatsächlich die negativen Folgen für das Wohlbefinden des Einzeltiers notwendigerweise mit der Haltung in großen Stückzahlen (also „Massen“), verbunden sind, darf hier außen vor bleiben. Die Kritiker halten diesen Zusammenhang für gegeben und genau das meinen sie mit Massentierhaltung. Ein Ausdruck, der in weiten Teilen der Bevölkerung ja auch offenkundig problemlos verstanden wird. „Zur Verständigung durch die Sprache gehört nicht nur eine Übereinstimmung in den Definitionen, sondern (so seltsam das klingen mag) eine Übereinstimmung in den Urteilen“, sagte der Philosoph Ludwig Wittgenstein (PU § 242). In und durch ihre Urteile können sich Menschen verständigen – und das tun sie. Die arithmetische Zahl der Tiere ist nicht ihr eigentliches Problem, sondern der Untergang des Einzeltiers in einer anonymen Masse. Dies allerdings korreliert natürlich wiederum mit dem Wert des Einzeltiers. Auch darum rangiert die Milchvieh-Haltung im öffentlichen Ansehen deutlich hinter der von Masthühnern und Legehennen. Ein richtig gutes Zeugnis stellt ihr die Bevölkerung allerdings auch nicht aus.

 

Tierrechte, Tierschutz und Gesellschaft

Landwirtschaftliche Tierhalter reagieren gereizt auf die Polemik gegen ihre Wirtschaftsform. Landwirte nehmen diese in erster Linie als einen Angriff auf eine bestimmte Form der Landwirtschaft wahr. Er lässt sich aber als einen Streit über den moralischen Status von Tieren deuten. In einer breit getragenen, nennen wir es: „Solidarisierung“, nehmen sich Menschen auch fremder Tiere an. Der Hinweis der Tierhalter, sie seien hier die Profis und schließlich gehe es um ihre Tiere, verfängt nicht mehr. Getragen von einer enormen moralischen und sozialen Aufwertung der Tiere fühlen sich Zeitgenossen berechtigt und verpflichtet, entsprechende Verhältnisse für Tiere und damit auch für Nutztiere, durchzusetzen. Möglicherweise fühlen sie sich in dieser Rolle den Tieren näher als deren Besitzer*innen. Wenn der Vergleich erlaubt ist: So wie Natur und Umwelt seit den 1980er Jahren zu einem kollektiven Schutzgut geworden sind, entscheiden über Wohl oder Wehe der Tiere nicht mehr allein deren Halter*innen. Die Staatszielbestimmung Tierschutz in Art. 20a des Grundgesetzes steht damit folgerichtig beim Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen, den Teile der Gesellschaft eben nicht mehr allein in die Prokura der Landwirt*innen gelegt sehen wollen.

Um welche Teile der Gesellschaft es sich handelt, muss allerdings differenziert werden, denn die Gesellschaft ist in Tierfragen und in Tierschutzfragen außerordentlich heterogen. Das Verhältnis zu Tieren und das Verhalten ihnen gegenüber variieren zum Teil stark. So ernähren sich vermutlich dreimal mehr Frauen vegetarisch als Männer. Es gibt Milieus, in denen die Botschaft auch egalitärer Tierrechtsbewegungen flächendeckend Fuß gefasst hat, und andere, die davon weitgehend unbeeinflusst sind. Wird es so weit kommen, wie Jakob Hein es in seiner überzeichneten Satire „Wurst und Wahn“ ausgemalt hat? „Der Anblick von toten Tieren darf Minderjährigen und Vegetariern nicht mehr zugemutet werden. Aber es traut sich doch ohnehin keiner mehr, so was zu kaufen … Fleisch verkaufen wir praktisch nur noch als Tierfutter. Eigentlich schade drum.“ Sehr kantig gesagt: In manchen Milieus kann man sich schwer vorstellen, noch in ein Schnitzel zu beißen; in anderen kann man sich schwer vorstellen, dass sich jemand darüber überhaupt Gedanken macht. Ob eine dieser Anschauungen sich ganz durchsetzen wird, ist fraglich. Vielleicht bleibt es bei einer Spaltung in unserer Gesellschaft, die sich dann vermutlich eher noch vertieft und radikalisiert. Sie hat sehr tiefe Wurzeln in weltanschaulichen Positionen. Das heißt aber nicht, dass die Praxis der Nutztierhaltung darauf keinen Einfluss hat: Je größer und offensichtlicher auch unter Tierschutzgesichtspunkten die Defizite sind, desto leichter können sich die Tierrechtsorganisationen ihre „targets“ wählen. Je weniger und langsamer sich das Tierwohl in den Ställen verbessert, desto plausibler wird die grundsätzliche Ablehnung moderner oder „industrieller“ Tierhaltung auch für andere. Eine Tierhaltung, die die Erwartungen an Fortschritte im Bereich des Tierwohls auch nur in Teilen frustriert, wird dafür von außen kollektiv in Haftung genommen.

 

Bürger*innen und Verbraucher*innen

Im Jargon der Landwirtschaft wird hier gerne der „Verbraucher” zitiert; präziser sollte man über den „Bürger” sprechen; allein schon deshalb, weil viele Aktivist*innen sicher keine Verbraucher*innen von Milch und schon gar nicht von Fleisch sind. Verbraucher*innen können ihre Macht an der Ladentheke und eigentlich auch nur dort entfalten. Bürger*innen üben politische Macht aus. Dies kann für die Zukunft der tierhaltenden Landwirtschaft entscheidend sein. Die Verteilung öffentlicher Mittel, die Ausgestaltung der Infrastruktur, die Steuerung der rechtlichen Rahmenbedingungen, die Akzeptanz und entsprechend die Förderung von Tierhaltung als gesellschaftlich legitimierten Erwerbszweig – dies alles hängt nicht vom Kaufverhalten der Verbraucher*innen, sondern vom Zuspruch der Bürger*innen zur entsprechenden Politik ab.

Diesen Zuspruch zu sichern, wird für die landwirtschaftlichen Nutztierhalter*innen zunehmend zur Aufgabe. Die Selbstverständlichkeit, mit der die Produktion von Lebensmitteln, auch mit Hilfe von Tieren, den Landwirt*innen einen privilegierten Platz in der Gesellschaft gesichert hat, hat sich aufgelöst. Das Landwirtschaftsgesetz (§ 1) beschreibt und begründet diese Position seit Jahrzehnten:

„Um der Landwirtschaft die Teilnahme an der fortschreitenden Entwicklung der deutschen Volkswirtschaft und um der Bevölkerung die bestmögliche Versorgung mit Ernährungsgütern zu sichern, ist die Landwirtschaft mit den Mitteln der allgemeinen Wirtschafts- und Agrarpolitik […] in den Stand zu setzen, die für sie bestehenden naturbedingten und wirtschaftlichen Nachteile gegenüber anderen Wirtschaftsbereichen auszugleichen und ihre Produktivität zu steigern.“

Das Bündnis der Gesellschaft mit der Landwirtschaft verdankt sich der Produktion essenzieller Güter. Solange sich mit Fug und Recht sagen lässt, dass der*die Tierhalter*in mich ernährt, kann er*sie meine Förderung und Unterstützung verlangen, wenn ihm diese Aufgabe selbst Nachteile bringt.

Was aber, wenn insbesondere Fleisch und Milch gar nicht mehr für den Konsum vor Ort produziert werden, sondern Teil gigantischer globaler Stoffströme werden? Wie andere Agrarprodukte sind Fleisch, Milch und Eier im Wesentlichen beliebige Handelsgüter, austauschbar, mit wenig charakteristischen Merkmalen. Nur ein Teil der Produktion bzw. der Produkte wird hier verzehrt, der Rest wird in eine andere Ecke dieses Planeten verkauft. Die Rückstände der Produktion in Form von Gülle bleiben im Land. Dann schafft die Nutztierhaltung Probleme, die sich nicht mehr als Kehrseiten der eigenen Nahrungsmittelproduktion ausweisen lassen. Was diese Industrie ins Land holt und dann hierlässt, sind das Tierschutzproblem, dass Gülleproblem, das Nachhaltigkeitsproblem und das Gerechtigkeitsproblem. Diese vier sollen hier nicht einzeln diskutiert werden; das werden sie gerade allerorts. Es kommt hier darauf an zu verstehen, dass ein Wirtschaftszweig, der einer Gesellschaft ein ganzes Bündel von Schwierigkeiten liefert, nicht ohne weiteres mit der ungebrochenen Zustimmung eben dieser Gesellschaft rechnen kann. Besonders dann nicht, wenn gerade die bedrohten Güter innerhalb der Gesellschaft einen wachsenden Wert darstellen, wie eben das Wohl der Tiere.

 

Angebote an die Gesellschaft

Entsprechend wichtig ist es, dass eine Landwirtschaft, die in diesem Umfeld Nutztiere halten will, Angebote an die Gesellschaft macht. Angebote, mit denen sie glaubhaft macht, dass sie sich ihrerseits für die Anliegen der Zeitgenossen interessiert, diese ernst nimmt, auf ihre Fragen Antworten anbieten kann und gegebenenfalls Lösungen sucht. Dazu sind drei verschiedene Perspektiven denkbar, die in der Diskussion um die Nutztiere allerdings üblicherweise durcheinandergehen können:

Alle Menschen wollen, dass es den Tieren nicht schlecht geht. Darin liegt der moralische Minimalkonsens. Das ist auch die so genannte „pathozentrische“ Grundlange des Tierschutz-Rechts: Vermeidung von Leiden. Allerdings unterbieten Teile der Landwirtschaft diese Minimalstandards immer noch und immer wieder, mit negativen Folgen für das Ansehen und die Glaubwürdigkeit aller Tierhalter*innen.

Menschen wollen, dass es den Tieren besser geht: „Vorstellungen von einer idealen Tierhaltung sind durch Begriffe wie ‚Freilandhaltung’, ‚artgerechte Haltung’, […] ‚Verzicht auf Antibiotika’, ‚mehr Kontrollen’ oder ‚Futtermittel ohne Gentechnik’ charakterisiert. Insgesamt wünschten sich die Teilnehmer*innen eine für das Nutztier möglichst artgerechte Haltung, gekennzeichnet durch z. B. ‚ausreichend Platz’, ‚Tageslicht’, gesundes und nicht zu schnelles Wachstum sowie eine ‚artentsprechende Fütterung‘.“ Fraglich ist allerdings fachlich, ob dies tatsächlich in allen Belangen zu einer Hebung von animal welfare, von „Tierwohl“ führt. Und natürlich die seit langer Zeit ungelöste zentrale Frage, wer die Kosten übernimmt.

Schließlich gibt es die Menschen, die wollen, dass es den Tieren einfach super geht. Dabei mischen sich verschiedene Formen utopischer Bilder von Tierhaltung, an denen die reale Landwirtschaft scheitert. Nicht das einzige, aber vielleicht wichtigste Motiv darin ist das Bauernhof-Idyll, in der englischen Literatur „Old Mac Donald‘s Farm“ genannt.

Ohne diese Varianten jetzt durchzudeklinieren: Die Forderung nach konsequenter Einhaltung des Tierschutzes stellt ein Mindestmaß dar, das natürlich nicht unterboten werden darf. Was darüber hinausgeht, etwa die Forderung nach besseren Verhältnissen für die Tiere, treibt die Diskussion seit Jahrzehnten um. Der gordische Knoten eines entsprechenden Systems der Honorierung blieb und bleibt aber fest. Vielleicht aber lässt sich daraus auf Dauer sogar ein Standortvorteil generieren: Wenn sich nämlich klar machen lässt, dass gute Nutztierhaltung unter den hiesigen Bedingungen besser als anderswo stattfindet. Maßstab dafür ist in der Bevölkerung der Schutz der Umwelt und das Wohlergehen der Tiere.

Es sei noch vermerkt, dass Letzteres im Kern von der Größe der Produktion unabhängig zu denken ist: Die Zahl der Tiere limitiert nicht automatisch die Möglichkeit, diese tiergerecht zu halten. Aber sie hat wesentlichen Einfluss auf die Größe der anderen genannten Probleme, ganz unmittelbar beim Thema Nachhaltigkeit und Gülle.

Moderne Gesellschaften interessieren sich für die Herkunft ihrer Lebensmittel, besonders, wenn diese von Tieren stammen. Das tun sie in einer modernen, pluralen Gesellschaft nicht alle, nicht alle gleichzeitig, und nicht alle in dem gleichen Maße. Vielleicht tun es sogar nur Minderheiten innerhalb einer Gesellschaft, aber solche sind dort auch überaus einflussreich. Sie sind auch deswegen so erfolgreich und so wirksam, weil ihre Zeit gekommen ist. Den so genannte Animal Turn, die große Hinwendung zum Tier, vollziehen die modernen Menschen mit großem Elan und in vielen Formen.

 

Literatur

Bündnis 90/Die Grünen: „Zu den verschiedenen Zugängen zu einer Definition”, www.massen tierhaltung-mv.de/die-fakten/begriffe

Busch, Bodo: Die Haltung landwirtschaftlicher Nutztiere, in: Joerden, Jan C., Busch, Bodo (Hg): Tiere ohne Rechte, Frankfurt / Oder 1999, 115-127

Hein, Jakob: Wurst und Wahn. Ein Geständnis, Berlin 2011

Kayser, Maike / Schlieker, Katharina / Spiller, Achim: Die Wahrnehmung des Begriffs „Massentierhaltung“ aus Sicht der Gesellschaft, in: Bundesministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz (Hg.): Berichte über Landwirtschaft, Band 90(3), Stuttgart 2012, 417-428

Kunzmann, Peter: „Es geht um die Moral“, in: DLG-Mitteilungen 6/ 2019, 50-52

Pfeiler, Tamara / Egloff, Boris: Examining the “Veggie” personality: Results from a representative German sample, in: Appetite 120, 1/2018, 246-255

SocialLab-Konsortium, c/o Thünen-Institut für Marktanalyse (Hg.): SocialLab – Nutztierhaltung im Spiegel der Gesellschaft, Braunschweig 2019, www.sociallab-nutztiere.de/fileadmin/sociallab/Dokumente/F_SocialLab_25-Februar-2019_web.pdf