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Nick Cave: The Good Son

von Matthias Surall

 

Väter und Söhne haben oft ein spezielles Verhältnis zueinander, was bei Müttern und Töchtern bisweilen auch vorkommen soll. Es gibt ein Alter, in dem der Vater für den Sohn der Größte und Beste, Stärkste und überhaupt ist – ein klassisches Vorbild eben. In der Pubertier-Phase stellt sich das dann für gewöhnlich leicht differenzierter dar. Noch später gibt es dann alles: vom Nicht-Verhältnis über Nichtangriffspakte bis hin zu versöhnter Verschiedenheit. 

Eines steht dabei fest: Die emotionale Verbandelung von Vätern und Söhnen ist stets vorhanden, teilweise bemerkenswert und oft sogar berührend. Zum Beispiel dann, wenn ein Vater in seinem Sohn die eigenen Schwächen wiederfindet oder wenn ein Sohn sich bewusst für den gleichen Berufsweg entscheidet und seinen Vater – gerade weil er ein Antiheld ist – zum Vorbild kürt.

Doch auch Abgrenzungen und Auseinandersetzungen, Verwerfungen und Verfeindungen haben ihren Platz zwischen Vätern und Söhnen. Das ist so und das weiß auch die Bibel, dieses Buch, dem nichts Menschliches fremd ist. Es gibt viele Vater und Sohn-Geschichten in diesem Buch der Bücher. Und eine ihrer bekanntesten ist das lange Zeit so genannte Gleichnis „Vom verlorenen Sohn“ in Lk 15. Dass die Rezeption und Interpretation dieses Gleichnisnarrativs sich in letzter Zeit verschoben und erweitert hat, lässt sich schon an der inzwischen gebräuchlichen Neutitulierung als Gleichnis „Vom Vater und den zwei Söhnen“ ablesen. Mit dieser neueren Überschrift rückt eine bisherige Randfigur1  dieser Erzählung Jesu stärker in den Fokus. Gemeint ist der daheim gebliebene Sohn des gemeinsamen Vaters oder ältere Bruder dessen, der sein vermeintliches Glück als reicher Erbe in der Fremde gesucht und nicht gefunden hat. 
Genau dieser bislang randständigen biblischen Figur hat der aus Australien stammende Musiker, Songpoet, kurz Künstler Nick Cave2  schon 1990 einen Song gewidmet, dessen Titel gleichzeitig das ihn enthaltende Album aus eben diesem Jahr ziert: „The Good Son“.3  Nick Cave schreibt in diesem Song die bekannte Gleichnisgeschichte unter Anwendung eines radikalen Perspektivenwechsels um. 

Dieser Künstler hat immer schon ein besonderes Interesse an Außenseitern und Outlaws, Verlierertypen und Nebendarstellern. Auch deshalb gilt sein Augenmerk in diesem Song der eigentlichen Randfigur dieses Gleichnistextes, dem älteren Bruder. Aus der quasi neutralen Erzählperspektive der biblischen Geschichte wird hier die Konzentration auf den älteren Bruder und seine Innenperspektive. Weil dieser sich – wie die erste Strophe des Songs verdeutlicht – zutiefst ungerecht behandelt fühlt durch seinen Vater, schmiedet er nun dunkle Pläne. Er erinnert sich daran, wie er gelitten hat, als der jüngere Bruder weg war und seine Eltern ihm, dem Älteren und Daheimgebliebenen gegenüber, taub waren in ihrer Trauer: 

„The good son has sat and often wept
Beneath a malign star
By which he‘s kept
And the night-time in which he‘s wrapped
Speaks of good and speaks of evil
And he calls to his mother
And he calls to his father
But they are deaf in the shadows
Of his brother‘s truancy”.4 

Jetzt kann er nur noch so reagieren, dass er sowohl seine Eltern verflucht als auch seine eigene Tugend und schließlich selber weggeht: One more man is gone:

„And he curses his mother
And he curses his father
And he curses his virtue like an unclean thing
The good son

One more man gone”.5 

Schon zu Beginn des musikalisch zwischen Spiritual und Rhythm and Blues changierenden Songs wird die Situation der Rückkehr des jüngeren Sohnes vorausgesetzt. Das Erzählinteresse gilt dem Innenleben des älteren Sohnes, seinen im Groll geschmiedeten verdächtigen Plänen gegen seine Familienmitglieder, ein deutlicher Gegensatz zu seiner Titulierung als „guter Sohn”. Diese erste Strophe des Songs kulminiert darin, dass der vermeintlich „gute Sohn” die Ungerechtigkeit seines Vaters konstatiert, worin in schöner Korrespondenz von Form und Inhalt, Musik und Text auch die musikalische Klimax liegt, die sich dann zum gesungenen Chorus und Titel „The good son“ hin musikalisch entspannt. 

In der zweiten Strophe des Songs wird deutlich, dass der „gute Sohn” sich in seiner Wut und Traurigkeit bösen, unheilvollen Gedanken hingibt. Die dritte Strophe schließlich offenbart das Ergebnis dieser traurig-wütenden Überlegungen: Er verflucht alle seine drei Familienmitglieder und geht weg – „One more man is gone“. Damit geht Nick Cave deutlich über den biblischen Ursprungstext hinaus und demonstriert, wie insgesamt in diesem Song, seine Freude daran, eine biblische Geschichte zu verfremden, gegen den Strich zu bürsten, sie perspektivisch und auf ihren bzw. seinen Fokus hin neu zu justieren. 

Damit einhergehend werden einer alten biblischen Geschichte neues Leben eingehaucht, ein Nebendarsteller ins Rampenlicht gerückt und ein anthropologisches Grundphänomen, eine entscheidende Facette der conditio humana, poetisch deskriptiv auf den Punkt gebracht. Kein Mensch ist nur gut oder exklusiv böse, auch kein Vater und kein Sohn. Der angeblich „gute Sohn” hat unheilvolle Gedanken und legt einen Fluch über seine Familie. Und der vermeintlich gütige Vater ist letztlich komplett auf den jüngeren Sohn fixiert und damit ungerecht. Also alles fast wie im richtigen Leben. Oder die tiefe theologisch-anthropologische Weis- und Wahrheit Martin Luthers anführend: Jeder Mensch ist zugleich Sünder und Gerechter, wohlgemerkt jeder.

Der vermeintlich oder wirklich gute Sohn in diesem biblisch inspirierten Songnarrativ von Nick Cave hält mir damit den Spiegel vor: Auch du bist so wie ich und keinen Deut besser! Und ich bin geständig: Ja, ich habe zwei Brüder und kenne was davon, mich ungerecht behandelt zu fühlen: Warum immer ich, warum nie der oder von mir aus auch der dritte? Eifersucht, Neid und Missgunst gibt es in jeder Familienkonstellation als Archetyp menschlicher Beziehungsgefüge, keine Frage. Es geht nicht darum, ob es das gibt, sondern vielmehr hierum: Wie gehe ich, wie gehen wir damit um?

Für all das, genau diese Frage und Erkenntnis, und noch viel mehr kann dieser Song – gerne in Kombination mit seinem biblischen Bezugstext – als Impuls und Motor dienen, auch und gerade dann, wenn das Thema „Familie“ im Religionsunterricht, in der Konfi-Arbeit oder in anderen Zusammenhängen dran ist. 

Und er mag als Beispiel dafür dienen, wie befreiend und erkenntnisfördernd es sein kann, einen biblischen Text in (künstlerischer) Freiheit zu modifizieren, ihn fortzuschreiben oder neu zu justieren.

Schließlich demonstriert dieser Song auch die heilsame Wirkung eines Perspektivenwechsels. Damit einhergehend zeigt der Song auf, wie ein Nebendarsteller insofern zum Hauptdarsteller mutieren kann, als sich an ihm allgemein menschliche Grundphänomene aufzeigen lassen – nicht zuletzt in dem uns alle in mannigfacher Hinsicht prägenden familiären Kontext.

Anmerkungen

  1. Interessanterweise kommt genau diese biblische Randfigur nicht in diesem ansonsten instruktiven Buch vor: Keuchen, Marion et al. (Hg.): Die besten Nebenrollen. 50 Porträts biblischer Randfiguren, Leipzig 2006.
  2. Eine kompakte, frei verfügbare und mit Beiträgen diverser Autor*innen ausgestattete Broschüre zu diesem gerade auch in kulturtheologischer Hinsicht ‚ergiebigen‘ Künstler findet sich unter https://kurzlinks.de/65b7 (09.08.2025).
  3. Siehe hier: https://www.nickcave.com/releases/the-good-son (16.04.2025). Und zum kompletten Songtext ebenfalls: https://www.nickcave.com/lyric/the-good-son (16.04.2025).
  4. Ebd.
  5. Ebd.

Ev.-luth. Landeskirche Hannovers (Hg.)
NICK CAVE – Ein Popkosmos in Songs und Literatur. Zehn Beiträge anlässlich seines 60. Geburtstages am 22. September 2017
Hannover 2017
online: https://kurzlinks.de/65b7