Einführung in das Projekt
Das Familienleben mit kleinen Kindern ist in der sogenannten „Rushhour des Lebens“ eine Phase der Gleichzeitigkeit: Die Begleitung der heranwachsenden Kinder, berufliche Entwicklungen und mögliche Veränderungen oder Konsolidierungen von Wohnsituationen passieren geballt in dieser Zeitspanne. Die evangelische Familienarbeit begleitet, unterstützt und stärkt Familien bereits auf vielfältige Weise und an unterschiedlichen Lebensorten.
Angesichts sich verändernder Familienrealitäten und gesamtgesellschaftlicher Transformationsprozesse mit Blick auf Religion und Kirche will das Praxisprojekt „Familienorientierte religiöse Bildung“ aktuelle Forschungsergebnisse für die religionsbezogene Bildungsarbeit mit Familien fruchtbar machen: Ziel ist es unter anderem, ein neues Format für ein alltagsnahes religiöses Bildungsangebot für Familien mit Kindern zu entwickeln (ZusammenWachsen) und religionspädagogisches Material für die praktische Umsetzung zu erarbeiten.
Konzipiert und koordiniert wird das auf drei Jahre angelegte Projekt (Laufzeitbeginn: 2024) im Rahmen der familienbezogenen Arbeit in der Abteilung Bildung im Kirchenamt der EKD.1 Die nachfolgenden Ausführungen geben einen vorläufigen Einblick in die laufende Projektarbeit.
Kontextualisierung
Die Familie als primäre Sozialisationsinstanz und Ort auch des religiösen Lernens ist schon lange Gegenstand religionspädagogischer Forschung.2 Über den Begriff der „Familienreligiosität“ werden gegenwärtig neue, interdisziplinäre Impulse für die konkrete Ausgestaltung der evangelischen Bildungsarbeit herausgearbeitet.3 Dabei plädieren diese Ansätze im Grunde für einen doppelten Perspektivwechsel: Der Ausgangspunkt für die Konzeption von religionsbezogenen Bildungsangeboten sollten nicht mehr kirchlich-institutionelle Vorstellungen, sondern die Familien selbst sein,4 die ihr religiöses Familienleben wiederum mit einem „deutlich erkennbaren Eigensinn“5 gestalten; damit einhergehend sollten auch erwachsenenpädagogische Perspektiven religionspädagogisch stärker Berücksichtigung bei der Gestaltung religionsbezogener Familienbildungsangebote finden.6 Daher plädiert Schweitzer pointiert dafür, diese Angebote an der Frage auszurichten: „Was brauchen Familien?“ und damit von der tendenziell rückläufigen (institutionellen) Religiosität7 den Blick auf die individuell gestaltete Familienreligiosität zu richten; sodann heißt es: „Insofern ist eher davon auszugehen, dass Eltern nach wie vor religiös interessiert oder zumindest offen sind, dass es aber nur sehr bedingt gelingt, Anschlüsse zwischen der Familienreligiosität und den in der Kirche gelegten Formen von Religion zu gewinnen“.8 Einen Ansatzpunkt für eine solche Anschlussfähigkeit bietet mittlerweile die württembergische Studie „Familien gefragt“9 . Da es in diesem Projekt um ein Bildungsangebot für Familien mit Kindern geht, besteht die große didaktische Herausforderung darin, erwachsenenpädagogische und elementarpädagogische Gesichtspunkte inhaltlich und strukturell adäquat zu einem handlungsfeldübergreifenden Bildungsangebot zueinanderzubringen. Anknüpfungspunkte für die organisationale und operative Ebene bietet die EKD-Schrift „Religiöse Bildungsbiografien ermöglichen“. Vor dem Hintergrund eines biografiebezogenen Ansatzes sprechen sich die Autor*innen für eine stärkere Vernetzung bildungsbezogener Handlungsfelder aus und konkretisieren, dass bei der Konzeption von religiösen Bildungsangeboten „nicht von den Organisationsformen her, sondern konsequent von den Subjekten und ihren Fragen, Themen und Bedürfnissen aus gedacht werden“ sollte.10 Religiöse Bildungsangebote für Familien sollten demnach weder strukturell von den vorhandenen Handlungsfeldern noch inhaltlich nach einem normativen Curriculum gestaltet werden; vielmehr geht es darum, Angebote an den Bedürfnissen der Familien zu orientieren, das betrifft u.a. eine vernetzte Zusammenarbeit der für Familien alltagsrelevanten Einrichtungen und eine an die jeweilige Zielgruppe angepasste und anpassbare inhaltliche Ausrichtung.
Für eine religionssensible, die religiös-weltanschauliche Pluralisierung beachtende religiöse Bildung gibt es für die Arbeit mit Kindern und Jugendlichen bereits viele Ansätze; dazu zählt auch die mittlerweile etablierte Kindertheologie, die seit der Mitte der 1990er-Jahre systematisch aufgegriffen und fortentwickelt wurde. In der Unterscheidung zwischen einer Theologie von, mit und für Kinder(n) geht es grundsätzlich darum, das Potenzial des kindlichen (und in der Weiterentwicklung auch jugendlichen) Transzendenzdenkens wahrzunehmen und religionspädagogisch zu begleiten.11 In dem hier beschriebenen Praxisprojekt wird versucht, diesen etablierten Ansatz in einem kooperativ gestalteten Bildungsangebot auf die familienorientierte religiöse Bildung in einer Art Theologisieren mit Familien zu übertragen.
Konzeptionelle Überlegungen
- Familienorientierung bedeutet: Die Vielfalt der Familien, ihre Lebenswelten und ihre Bedürfnisse sind der Ausgangspunkt für religionspädagogisches und organisationales Nachdenken und Handeln. Das betrifft sowohl die Themenauswahl für religiöse Bildungsangebote wie auch die Wahrnehmung der Bedarfe von Familien nach gemeinsamer Zeit, alltagspraktischen und armutssensiblen Bildungs- und Unterstützungsangeboten sowie Orten für Begegnung und Austausch mit anderen Familien.12
- Das Angebot „Zusammenwachsen” ist ausdrücklich offen für alle Familien – mit und ohne kirchliche Vorerfahrungen und mit unterschiedlichen religionsbezogenen Kenntnissen. Eingeladen sind explizit Familien aus allen Religionen und Konfessionen sowie konfessionslose Familien. Die Angebotsverantwortlichen führen das Angebot aus einer erkennbar evangelischen Perspektive durch.
- Die Zielgruppe dieses Projektes sind Familien mit Kindern im Alter von drei bis sechs Jahren. Orientiert am Ansatz des intergenerationalen Lernens kommen elementar- und erwachsenenpädagogische Akteur*innen und Perspektiven zu einem handlungsfeldübergreifenden Bildungsformat zusammen.
- „ZusammenWachsen“ ist als Kooperationsprojekt konzipiert, das in gemeinsamer Verantwortung von Kirchengemeinden und einer/mehreren familienbezogenen Einrichtungen wie evangelischen Kindertageseinrichtungen, Familienzentren oder Familienbildungsstätten durchgeführt werden soll.
- Das Praxismaterial ist modular aufgebaut und somit an die jeweilige Gruppe anpassbar.
Das Bildungsangebot „ZusammenWachsen“
Bei „ZusammenWachsen“ kommen an acht bis zehn Treffen bis zu ca. zehn Familien regelmäßig für ca. zwei Stunden zusammen; das Angebot hat eine wiederkehrende Struktur und wird von einem professionsübergreifenden Team geleitet. Konzeptionell besonders ist, dass hier die kleinen und großen Teilnehmenden religionspädagogisch im Blick sind: Innerhalb des gemeinsamen Angebotes gibt es – wenn organisatorisch möglich – einen getrennten Teil, in dem die Erwachsenen impulsgeleitet Zeit haben, sich zum Thema der Gruppenstunde auszutauschen. Zu dem gemeinsamen Essen sind neben den Teilnehmenden auch weitere Familienmitglieder eingeladen.
Praxismaterial
Eine Fachgruppe bestehend aus Beteiligten aus den Arbeitsfeldern Kirchengemeinde, Kita und Familienbildung erarbeitet kooperativ qualitativ hochwertiges Praxismaterial für die praktische Umsetzung, das thematisch an familienrelevanten Alltagsthemen orientiert ist.13 Für die Erprobungsphase gibt es insgesamt zehn Praxisentwürfe, die sich u.a. den Themen „Zeit“, „Gefühle und Emotionen“, „Rituale in der Familie“ sowie „Nachhaltigkeit und Schöpfung“ widmen; mit unterschiedlichen Methoden können an diesen Themen christliche Werte, Rituale und Geschichten mit religiösen Inhalten als sinnstiftende Deutungsperspektive erschlossen werden. In den Einheiten wird über niedrigschwellige Zugänge gemeinsam wahrgenommen, dass individuelle und gesamtgesellschaftlich relevante Fragen und Entwicklungen auch aus einer reflektierten religiösen Perspektive gedeutet und solche Zugänge auch versprachlicht werden können. Dabei ist auf eine ergebnisoffene Atmosphäre zu achten. Mit erwachsenenpädagogischen Impulsen können die Erwachsenen in einer getrennten Phase ihre eigenen Lebenserfahrungen, ihre Vorstellungen und Fragen vergegenwärtigen, reflektieren und untereinander austauschen.
Die einzelnen Themeneinheiten sind modular aufgebaut: Für die inhaltliche Erschließung stehen unterschiedliche Bausteine zur Verfügung, die von den Ausführenden entsprechend der jeweiligen Gruppen vor Ort ausgewählt und angepasst werden können.
Zielperspektiven
Beziehungsgestaltung in der Familie und im Sozialraum
Familie ist nicht einfach da, sondern muss gezielt hergestellt werden.14 Für diese Beziehungsgestaltung – in deren Entsprechung auch das „doing religion“ steht – braucht es Zeit und Raum füreinander. Mit einem familienorientierten religiösen Bildungsangebot wird diese Bindung innerhalb der Familie gestärkt; denn obwohl die Kleinen schon groß sind, werden hier gemeinsame Aktivitäten wahrgenommen. Der soziale Austausch mit anderen Kindern erweitert die sozio-emotionalen Fähigkeiten und auch die Erwachsenen haben die Möglichkeit, sich kennenzulernen und auszutauschen. Mit dem Angebot werden dafür Begegnungs- und Beziehungsräume geschaffen: für Familienmitglieder unter sich, für Begegnungen mit anderen Familien und schließlich auch mit Kirche. Durch gute Gehstrukturen vor Ort und mit einem kostenlosen Essen erfahren die Familien zudem eine alltagspraktische sowie armutssensible Entlastung und können die Zeit mit ihren Kindern unbeschwert verbringen.
Familienorientierte religiöse Bildung
Das Angebot gibt Familien die Möglichkeit, sich sowohl gemeinsam als auch altersspezifisch mit religiös relevanten Fragen zur Daseins- und Werteorientierung im konkreten Bezug der eigenen Lebensführung auseinanderzusetzen. Ausgehend von den lebenswelt- und alltagsrelevanten Themen unterstützt das Angebot Familien bei einer impliziten wie expliziten Auseinandersetzung mit religionssensiblen Fragen und Perspektiven, indem Werte und Haltungen, Fragen zu Ungerechtigkeiten, Kontingenzbewältigung und zur verantwortlichen Gestaltung des Zusammenlebens individuell und gemeinsam reflektiert, diskutiert sowie kreativ bearbeitet werden können. Dieses Theologisieren von und mit Familien trägt zur Entwicklung und Stärkung der jeweiligen Familienreligiosität bei. Dabei wird der Umgang mit unterschiedlichen religiös-weltanschaulichen Deutungen exemplarisch erfahrbar und die Entwicklung einer wertschätzenden Haltung gegenüber anderen Menschen und ihren Weltdeutungen gefördert.
Kirche und familienbezogene Einrichtungen
Familienorientierung wird in diesem Projekt handlungsfeld- und fachbereichsübergreifend konzipiert und gestaltet, dadurch wird in der religionsbezogenen Familienarbeit Vernetzung gefördert, professionsübergreifende Zusammenarbeit in einem regiolokalen kirchlichen Sozialraum eingeübt und sichtbar gemacht. Kirchengemeinden können sich so noch stärker als bisher als Sozial- und Bildungsräume für Familien positionieren. Zudem profitieren Kirchengemeinden davon, über das Angebot mit Menschen in Kontakt zu kommen, die möglicherweise eher nicht zur Kerngemeinde gehören. Der Austausch zu deren Lebensentwürfen und religiös-weltanschaulichen Vorstellungen fordert die eigene religiöse Sprachfähigkeit positiv heraus. Familienbezogene Einrichtungen werden als wichtige Brückenorte für Familien sichtbar gemacht und Fachkräfte können an einem innovativen Projekt mitarbeiten. Zudem ergeben sich über die gemeinsame Arbeit wichtige Impulse für die Profilentwicklung und schließlich können durch Kooperationen Synergien zwischen kirchlichen und pädagogischen Arbeitsfeldern entstehen, beispielsweise durch kooperative religionspädagogische Fort- und Weiterbildungsformate.
In dem Projekt werden demnach kirchliche Bildungsverantwortung und Kirchenentwicklung miteinander verknüpft. Perspektivisch ist anzustreben, das Format EKD-weit bekannt zu machen und das Praxismaterial digital bereitzustellen. Die Evaluation der Erprobungsphase soll zudem einen empirischen Beitrag zur religionspädagogischen Erforschung der Familienreligiosität leisten; auf der Grundlage der Evaluationsergebnisse können ferner konkrete Erfolgsindikatoren für eine gelingende familienorientierte religiöse Bildungsarbeit identifiziert werden. Diese können wiederum zur Profilierung der religionspädagogischen Familienarbeit als eigenständigem Handlungsfeld evangelischer Bildungsarbeit beitragen.
Anmerkungen
- Für weitere Informationen siehe auch https://kurzlinks.de/l4ye (25.05.2025).
- Vgl. Domsgen, Religionspädagogik.
- Boger u.a., Familienreligiosität.
- Vgl. Schweitzer, Familienreligiosität, 37.
- Domsgen, Offene Fragen, 91.
- Boger u.a., Familienreligiosität, 13.
- Schweitzer bezieht sich hier kritisch auf die (säkularisationstheoretisch eingebetteten) Ergebnisse und Deutungen der V. Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung; zur Auswertung der VI. KMU siehe Ilg u.a., Religiöse Sozialisation, 344-372.
- Schweitzer, Familienreligiosität, 40-41.
- Possinger, Familien gefragt.
- EKD (Hg.), Religiöse Bildungsbiografien ermöglichen, 88.
- Vgl. Simojoki 2023, 130-132.
- Siehe Possinger, Familien gefragt, 164. Die „alltagsrelevanten Themen“ seien u.a. der Umgang mit Medien sowie Fragen rund um das Thema Nachhaltigkeit (182).
- Vgl. dazu ebenfalls Possinger, a.a.O., 157 und 172: Hier betonen die Befragten, dass für eine gelingende Familienarbeit zeitgemäßes und schnell auffindbares Material eine wichtige Voraussetzung ist.
- Vgl. Domsgen, Religionspädagogik, 406-412.
Literatur
- Boger, Miriam / Kleint, Steffen / Schirrmacher, Freimut: Einleitung, in: dies. (Hg.): Familienreligiosität im Bildungshandeln. Theorie – Empirie – Praxis (Erwachsenenbildung 5), Münster 2022
- Domsgen, Michael: Offene Fragen und elementares Know-how zirkulieren. Religionspädagogische Perspektiven für Familien, in: Boger, Miriam / Kleint, Steffen / Schirrmacher, Freimut (Hg.): Familienreligiosität im Bildungshandeln. Theorie – Empirie – Praxis (Erwachsenenbildung 5), Münster 2022
- Domsgen, Michael: Religionspädagogik (LETh 8), Leipzig 2019
- EKD (Hg.): Religiöse Bildungsbiografien ermöglichen. Eine Richtungsanzeige der EKD für die Vernetzung evangelischer Bildung, Leipzig 2022
- Ilg, Wolfgang u.a.: Religiöse Sozialisation in Kindheit und Jugend: Familie und kirchliche Bildungsarbeit, in: Sozialwissenschaftliches Institut der Evangelischen Kirche in Deutschland / Katholische Arbeitsstelle für missionarische Pastoral (Hg.): Wie hältst du’s mit der Kirche? Zur Relevanz von Religion und Kirche in der pluralen Gesellschaft. Analysen zur 6. Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung, Leipzig 2024, 344-372.
- Possinger, Johanna et al.: Familien gefragt. Impulse für eine familienorientierte Kirche, Göttingen 2023
- Simojoki, Henrik: Der unvollendete Perspektivenwechsel: Überlegungen zur Repräsentation von Kindern in der Theologie, in: Berliner Theologische Zeitschrift 40 (2023) 1, 117-138
- Schweitzer, Friedrich: Familienreligiosität – im Verschwinden? Warum es vielleicht doch nicht so einfach ist, in: Boger, Miriam / Kleint, Steffen / Schirrmacher, Freimut (Hg.): Familienreligiosität im Bildungshandeln. Theorie – Empirie – Praxis (Erwachsenenbildung 5), Münster 2022,
- Pädagogisch-Theologisches Institut (PTI) der Evangelischen Kirche in Mitteldeutschland und der Evangelischen Landeskirche Anhalts / Religionspädagogisches Zentrum der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern (Hg.): Arbeitshilfe. Fit für die Zusammenarbeit von Kindertageseinrichtung und Kirchengemeinde, Neudietendorf 2016
- Netzwerk Familie leben! https://www.ekd.de/netzwerk-familie-leben-89094.htm (25.05.2025)