Die Darstellung von Familien in Bilderbüchern hat sich in den letzten Jahren wahrnehmbar gewan-delt. Während ältere Bilderbücher oft die klassische Kernfamilie mit Vater, Mutter und Kind in den Mittelpunkt stellten, bilden sie heute eine deutlich größere Vielfalt an Familienmodellen ab. Zu er-kennen sind:
- Mehr Diversität: Moderne Bilderbücher zeigen zunehmend Patchworkfamilien, Alleinerziehende, gleichgeschlechtliche Eltern und multikulturelle Familien.
- Aufbrechen von Geschlechterrollen: Früher waren Familienbilder oft stark von traditionellen Geschlechterrollen geprägt. Heute gibt es mehr Bücher, die Väter als aktive Bezugspersonen zeigen oder Mütter in Berufen, die früher als „männlich“ galten.
- Inklusive Sprache und Darstellung: Eine Reihe neuere Bilderbücher vermeiden stereotype Darstellungen und setzen auf eine inklusive Sprache, die verschiedene Familienformen wertschätzt.
- Thematisierung von Herausforderungen: Neben der Vielfalt werden auch Themen wie Trennung, Verlust oder Erkrankungen sensibel behandelt, um Kindern ein realistisches Bild von Familienleben zu vermitteln.
Diese Veränderungen nehmen gesellschaftliche Entwicklungen auf und helfen Kindern, ein weiterführendes Verständnis von Familie zu entwickeln. Denn Kinder brauchen Bücher, in denen sie ihre eigenen Lebenssituationen und Alltagserfahrungen wiederfinden. Diese Bücher stärken nicht nur die Kinder in ihrem Selbstwertgefühl. Sie sind auch eine wichtige Voraussetzung, um sich in andere Kinder und Familien einfühlen zu lernen.
Aus der kaum überschaubaren Fülle an neueren Bilderbüchern zu Familienthemen stellt dieser Streifzug eine kleine Auswahl vor: Für das gemeinsame Entdecken zu Hause, in der Kita oder in der Grundschule.
- In aller Vielfalt
Alexandra Maxeiner und Anke Kuhl: Alles Familie!
Fast schon ein Klassiker: Hier treffen wir auf die Alleinerziehenden, die Patchworkfamilien in ihren verschiedenen Mischungen, die Regenbogen-, die Kinderdorf- und Adoptivfamilien.
Wir begegnen Einzelkinderglück, stoßen auf Varianten von Bluts- und Wahlverwandtschaften, erleben Geschwisterstreit samt humorvollen Details und Illustrationen. Beim Betrachten dieses Sachbuches gerät man flugs ins Nachdenken und ins Austauschen über die eigene Familie und was diese Familie besonders macht.
Alexandra Maxeiner (Texte) und Anke Kuhl (Illustrationen)
Alles Familie!
Vom Kind der neuen Freundin, vom Bruder von Papas früherer Frau und anderen Verwandten
Klett Kinderbuchverlag Leipzig 2010
ISBN 978-3-95470-029-5
40 Seiten, 15,00 €
Michael Engler und Julianna Swaney: Das alles ist Familie
Ein Päckchen, das Lars und seine Mutter vor ihrer Haustür finden, gibt den Anstoß zu einer Famili-enkonstellationen-Entdeckungsreise. Von der Anschrift ist nur noch „An Familie“ zu erkennen. Also macht sich Lars auf die Suche. Er lernt zum Glück die Nachbarstocher Lina kennen, gemeinsam er-kunden sie ihre Straße und eine Bandbreite von Familienformen. Was also macht eine Familie aus? „Vielleicht ist Familie sein einfach nur, wenn man sich liebt. Und selbst wenn man sich streitet, im-mer noch lieb hat“, resümiert Lina – und formuliert einen der unterschiedlichen Impulse zum ge-meinsamen Weiterdenken, die das Buch parat hält.
Michael Engler (Texte) und Julianna Swaney (Illustrationen)
Das alles ist Familie
ars Edition, Hamburg 2021
ISBN 978-3-8458-3706-2
32 Seiten, 16,00 €
Sandro Natalini: Familie
Eine vergleichbare Botschaft in einem ganz anderen Setting wählt Sandro Natalini. Auf den ersten Blick wirkt es fast wie ein Tierlexikon. Großformatige, farbenstarke Tierbilder, auf jeder Doppelseite zwei neue Familien und jeweils wenige Worte, die uns mit einem Unterschiedspaar Familien vorstel-len, z. B.: „Vielleicht lebt ihr dicht beisammen (Känguru) oder weit voneinander entfernt (Pinguin).” Oder: „Manche wechseln jedes Jahr ihr Nest, andere wohnen ihr ganzes Leben im selben Haus.” Oder: „Man kann adoptiert sein oder zwei Mamas oder zwei Papas haben.” Wir lesen von unter-schiedlichen Familienzusammensetzungen und Umgangsweisen wie: „Es gibt die Sanften (Pandas) und solche, die oft streiten (Krebse)“. Das Buch erzählt von Familien mit einem weiten Herzen, in-spiriert durch eine Familiendefinition: „Was uns als Familien verbindet, ist nicht unsere Abstam-mung, sondern die Freude, die wir miteinander teilen, und die Liebe, die wir füreinander empfinden. Es sind unsere Herzen, die uns zu Eltern und Kindern machen.“
Sandro Natalini
Familie
Aus dem Italienischen von Joshua Schulz
Loewe Verlag
Bindlach 2020
ISBN 978-3-7432-0722-6
32 Seiten, 14,95 €
Edith Schreiber-Wicke und Carola Holland: Zwei Papas für Tango
Die Geschichte um die beiden Pinguine Roy und Silo macht mit der Familienform ‚zwei Väter‘ ver-traut. Die beiden leben im Zoo, wollen immer nur zusammen sein und bauen sogar ein Nest mitei-nander. Für ein Pinguin-Baby! Zwar sind die Tierpfleger zunächst verwundert; als jedoch ein Pingu-in-Ei von dessen Eltern im Stich gelassen wird, schieben sie es den beiden Pinguin-Männern unter. Und bald darauf sind die beiden stolze Väter des kleinen Pinguin-Mädchens Tango. Dass diese Ge-schichte auf einer wahren Begebenheit beruht und nicht ohne Hindernisse verläuft, trägt zur liebe-vollen Lesespannung bei.
Edith Schreiber-Wicke (Texte) und Carola Holland (Illustrationen)
Zwei Papas für Tango
Thienemann-Verlag Stuttgart 2017
ISBN 978-3-522-45847-4
32 Seiten, 15,00 €
Anna Taube und Meike Töpperwien: Wer holt dich von der Kita ab?
Ein wimmeliges Bilderbuch inszeniert die Abholsituation in der Kita als anregend-vielfältigen Blick in den Kita- und Familienalltag. Nach und nach werden die Kinder abgeholt und dabei jeweils unter-schiedliche Familiensettings sichtbar. Kinder unterschiedlicher Haut- und Haarfarben, Patchwork- und Bonus-Familien, in kleiner oder großer Anzahl werden in wertschätzend-lebendig-turbulenter Weise vorgestellt. Zugleich wird die Abholphase, die für die kleineren Kita-Kinder von großer Be-deutung ist, als eine wichtige Alltagssituation deutlich. Das Familienthema wird damit pfiffig indirekt eingeführt. Viele Details machen Lust, genauer hinzuschauen. Jede Seite enthält eine Suchaufgabe. Ein willkommener Impuls, mit den Kindern weitere Aufgaben auszutauschen.
Anna Taube (Texte) und Meike Töpperwien (Illustrationen)
Wer holt dich von der Kita ab?
Verlagsgruppe Oetinger, Hamburg 2022
ISBN 978-3-7512-0175-9
16 Seiten, 9,00 €
- „Doing Family“ – Familienalltag
Familien bergen ambivalente Erfahrungen. In ihnen schlummern elementare Sehnsüchte und Be-dürfnisse nach Geborgenheit, Schutz und Rückhalt. Familien sind jedoch auch Orte von Konflikten, Überforderungen und Verletzungen. In guten Bilderbüchern tauchen diese Herausforderungen auf.
Pija Lindenbaum: Greta haut ab
Wenn wir das Buch lesen, verstehen wir sehr schnell, warum Greta von zu Hause abhauen will: Sie muss ihr Spiel im Sandkasten abbrechen, um zu einer Erwachsenenfeier zu gehen. Statt des geliebten Matrosenanzugs muss sie ein Kleid anziehen und sie erlebt, wie der elfjährige Egon, der seit einiger Zeit mit seinem Vater bei ihnen wohnt, bevorzugt wird. All dies nährt Gretas Wut, Empörung und Verzweiflung, bis sie wegläuft. Dabei gerät sie in Schwierigkeiten, kann sich jedoch selbst heraus-helfen und erkennt bei der Rückkehr, dass sie noch nicht einmal vermisst wurde. Das Erschrecken der Erwachsenen ermöglicht eine neue Annäherung.
Sichtbar wird, wie schnell Bedürfnisse einzelner Kinder übersehen werden können. Das Buch zeichnet sich dadurch aus, dass es die Entstehung der Gefühle nachvollziehbar werden lässt. Es zeigt ebenso die Herausforderung für Eltern und Kinder in neuen Patchwork-Konstellationen, mit dieser Situation zurechtzukommen. Greta wird als starke Persönlichkeit beschrieben, die ihre Rechte einfordert und damit für andere als ‚anstrengend‘ erscheint. Wir sehen und erinnern uns, dass richtig wütende Kinder für Erwachsene nicht unbedingt leicht zu mögen sind! Ein Buch als anregende Kontrastgeschichte zum „Verlorenen Sohn“.
Pija Lindenbaum
Greta haut ab
Aus dem Schwedischen von Kerstin Behnken
Verlag Friedrich Oetinger, Hamburg 2017
ISBN 978-3-7891-0473-2
40 Seiten, 14,99€
Dan Yaccarino: Der längste Sturm
Ein Haus, drei Kinder, ein Vater, ein Hund – und plötzlich kommt ein Sturm. Er weht nicht einfach nur vorüber – nein, er bleibt. Keiner weiß, wie lange, aber der Sturm sperrt die Familie im Haus ein. Es gibt nichts zu tun, aber viel Zeit, dies ‚nichts‘ zu tun. Alle langweilen sich. Wir erleben mit, wie die Anspannung steigt. Alle beginnen, sich gegenseitig auf die Nerven zu gehen. Bis dem alleiner-ziehenden Vater die Sicherung durchbrennt und er alle anbrüllt. Zugleich sehen wir seine Überfor-derung und Verzweiflung. Nach dem Krach sitzen sie jeweils alleine in ihren Zimmern. „Ist es mög-lich, dass sich eine Familie nichts Nettes mehr zu sagen hat?“ Der Sturm wütet weiter und explodiert mitten in der Nacht. Der Schrecken führt die Familie wieder zusammen. In der Dunkelheit möchte keiner alleine sein. Der Sturm ist immer noch da, aber die Familie schafft es, friedlicher zusammen-zuleben.
Das Buch zeigt – am Beispiel einer Ausnahmesituation – die Herausforderungen und Konflikte unter Geschwistern und Eltern. Beeindruckend wird die Wende erzählt und lässt zugleich Leerstellen, die zum gemeinsamen Nachdenken inspirieren. – Ein Buch fast wie ein Psalm, in dem der Streit und die Klage in neue Hoffnung verwandelt werden.
Dan Yaccarino
Der längste Sturm
Verlag Minedition, Hamburg 2021
ISBN 978-3-03934-010-1
48 Seiten, 20,00 €
Marie Dorláns:
Auf leisen Sohlen durch die Nacht
Familien sind natürlich auch Orte für wunderbare gemeinsame Entdeckungen. Davon handelt Marie Dorláns‘ Auf leisen Sohlen durch die Nacht. Die großformatigen Bilder erzählen die Geschichte ei-ner Familie, die im Morgengrauen zu einer Wanderung aufbricht. Die Illustrationen lassen uns die Welt bei Nacht erleben, ohne dass es gruselt. Alles ist leise und ganz anders als sonst. Man möchte einfach mitwandern. Ein Buch zum Staunen.
Marie Dorláns
Auf leisen Sohlen durch die Nacht
Aus dem Französischen von Ina Kronenberger
Gerstenberg-Verlag, Hildesheim 2. Aufl. 2019
ISBN 978-3-8369-6037-3
40 Seiten, 16,00 €
Rocio Bonilla: Geschwister
Eine ältere Schwester mit einem jüngeren Bruder: Wenn sie beide über einander und das Zusam-mensein erzählen, entstehen unterschiedliche Wirklichkeiten. Aus Sicht der Schwester gipfeln sie in einem Urteil: Ich mag meinen Bruder nicht. Gründe dafür gibt es genug: Das lästige Aufpassen auf den Bruder, der einfach ihre Sachen wegnimmt, einige davon sogar beschädigt, alberne Dinge tut und eine Heulsuse ist.
Dreht man das Buch um, lesen wir, wie der Bruder seine Schwester sieht. Er beschwert sich, dass sie ihn klein macht, langweilig ist, immer schnell wütend wird und ihn damit ansteckt. Der pfiffige Wende-Ansatz erleichtert den Perspektivwechsel. Wir verstehen die Szenen und Beschwerden erst, wenn wir beide Versionen gesehen haben! Beim Lesen und Betrachten erleben wir zugleich, wie sich die Sichtweisen langsam verändern und anreichern. Nach und nach tauchen die schönen und positiven Kehrseiten der anstrengenden Fähigkeiten auf. Die starren Urteile lockern sich allmählich. Die geteilte Schlussfolgerung fällt schließlich verhalten optimistisch aus: Im Grunde ist es gar nicht so schlecht, zu zweit zu sein. Zu zweit? Am Schluss werden beide auf ein Geräusch aufmerksam, das aus dem Nachbarzimmer herüberdringt und eine überraschende weitere Wendung bereithält. Es ist kein Zufall, dass die Bibel eine ganze Reihe von Geschwistergeschichten enthält.
Rocio Bonilla
Geschwister
Jumbo-Verlag Hamburg 2019
ISBN 978-3-8337-3959-0
56 Seiten, 16,00 €
- Trennung
Simona Ceccarelli: Emils kleines Haus
„An dem Tag, als Mama und Papa in verschiedene Häuser zogen, beschloss Emil, dass er auch ein eigenes Haus brauchte.“ Darum will Emil ein Haus mit Rädern, in dem alle seine Lieblingssachen Platz finden. Seine Idee: Er kann damit überall hinfahren, wo es besonders schön ist. Allerdings gibt es einen großen Nachteil: Weder Mama noch Papa noch heißer Kakao sind in seinem kleinen Haus dabei.
Das Buch greift die Erfahrung von Trennung/Scheidung der Eltern aus Kindersicht auf: Muss ich mich jetzt entscheiden zwischen Mama und Papa? Wo soll ich denn jetzt schlafen? Was ist mit meinen Spielsachen? Das Buch erzählt, wie das Leben nach der Trennung weitergehen kann, ganz praktisch und mit der Hoffnung auf das, was zählt: Liebe.
Simona Ceccarelli
Emils kleines Haus
Thienemann-Verlag, Stuttgart 2024
ISBN 978-3-522-46070-5
40 Seiten, 16,00 €
Zum Schluss eine Empfehlung mit einer großen Portion humorvoller Erziehungskritik:
Rike Drust und Lilli L’Arronge: Wenn du nein sagst, stirbt ein Kaninchen!
„Von zu viel Fernsehen bekommst du eckige Augen!“ oder „Iss auf, sonst scheint morgen nicht die Sonne!“ sind nur zwei Beispiele von bekannten Elterndrohungen. Genauso unerquicklich wie die Forderung nach dem „Zauberwort“, die Warnung „bis spätestens 3“ etwas erledigt zu haben oder die Vertröstung auf „gleich“. In diesem Buch gibt es 16 Alltagssituationen, in denen die Rollen ver-tauscht sind und Kinder ihren Eltern genial, etwas gemein und einfallsreich drohen.
„Wenn du zu lange quatschst, … macht dein Mund Popcorn.“ Oder: „Wenn du mich zum Probieren zwingst, … schmeckt für dich alles nach Furz.“ Die frechen und schrägen Kinderdrohungen halten den Erwachsenen einen humorvollen Spiegel vor und zeigen die absurden Seiten der Drohungen. Eine überraschende Variante – gut dafür geeignet, über Respekt und Erziehung ins Gespräch zu kommen.
Rike Drust (Texte) und Lilli L’Arronge (Illustrationen)
Wenn du nein sagst, stirbt ein Kaninchen!
Klett Kinderbuchverlag, Leipzig 2. Aufl. 2021
ISBN 978-3-95470-159-9
40 Seiten (zurzeit nur gebraucht erhältlich)