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Zur Vorstellung und Konzeption von Familie in der Hebräischen Bibel

von Andreas Kunz-Lübcke

Vorbemerkungen 

Diese Publikation zum Thema „Familie“ erscheint in einem deutschen evangelischen Kontext. Unterstellt wird in diesem Text zunächst, dass es sich in der gegenwärtigen Perspektive bei der Konzeption von Familie um eine Konstellation handelt, nach der zwei Personen ein oder mehrere Kinder großziehen. Bei Lebensgemeinschaften, die kinderlos sind bzw. deren Kinder erwachsen sind, wird eher von Paaren als von einer Familie gesprochen.1 

Diese Ausführungen sollen den Blick auf die Vorstellung von Familie in den biblischen Literaturen lenken. Dabei zeigt schon ein Blick in die deutschen Übersetzungen, dass das Unterfangen schwierig ist. So vermeidet die neueste Lutherübersetzung aus dem Jahr 2017 das Wort „Familie“ völlig. Andere Übersetzungen, wie die Elberfelder, gehen zwar mit dem Wort um, verwenden es aber eher spartanisch.

Tatsächlich zeigt ein Blick in die lexikalischen und semantischen Bestände, dass ein Begriff für Familie nach der obigen Definition in den klassischen Sprachen Ägyptisch, Akkadisch, Hebräisch, Griechisch und Latein nicht existiert hat. 
Schon hierbei wird deutlich, dass eine wie auch immer geartete Vorstellung von Familie, insbesondere mit Blick auf christliche Traditionen und Moralvorstellungen, sich aus den biblischen Texten nicht ableiten lässt.


Gab es Ausbrüche aus dem „Normativen“ in den Erzählwelten der Hebräischen Bibel?

Der dem Begriff „Familie“ am ehesten nahe kommende hebräischen Ausdruck ist „Haus des Vaters“. Damit ist schon angedeutet, dass hier eine hierarchische und auf eine männliche Person konzentrierte Vorstellungswelt impliziert ist. Die Publikationen zu diesem Thema sind zahlreich und müssen hier nicht noch einmal reflektiert werden. Vielmehr soll es jetzt darum gehen, ob sich in den biblischen Texten nicht Tendenzen zu einer gewissen Überschreitung der gesetzten Normen erkennen lassen.

Zweifelsfrei basieren moderne Partnerschaften, zwischen wem auch immer, auf (hoffentlich) positiven Emotionen. Sofern und sobald diese nicht mehr existieren, erscheint die Beziehung als obsolet. Die Hebräische Bibel (HB) kennt durchaus ein Wort für Liebe / lieben (zwischen Mann und Frau), allerdings wird dieses sehr zurückhaltend verwendet.2  Es sind gerade die außergewöhnlichen (möglicherweise jenseits der allgemeingültigen Konventionen liegenden) narrativen Diskurse, die ein Schlaglicht auf mögliche „Ausbrüche aus dem Normativen“ werfen. 

Eine erste Erzählung, die ins Auge fällt, ist die Story der beiden namenlosen Figuren in Jdc 19. Jdc 19,1 notiert, dass sich ein Levit eine pilegesh zur Frau genommen hat, die sich dann alsbald wieder von ihm trennt (Jdc 19,2). In der Episode geht es um massive kollektive sexualisierte Gewalt, die zum Tod der Frau führt. Dieses Thema kann hier nicht verfolgt werden. Bemerkenswert ist, dass die Frau sich aus eigenem Entschluss von ihrem Mann/Partner trennt, um zu ihrer Familie zurückzukehren. Der hebräische Text gebraucht einen Terminus, dass sie sich zwischenzeitlich „prostituiert“ (Wortstamm zanah) habe. Die allermeisten Übersetzungen umschiffen das semantische Problem und greifen zu einer Konstruktion wie „(die Frau) wurde zornig“ (Lutherbibel 2017).3  Die Erzählung lässt keine negative Sicht auf die Frau erkennen. Darf sie in diesem narrativen Diskurs (eventuell sogar sexuell) selbstbestimmt leben? Die Geschichte endet gleichermaßen brutal wie chaotisch. Die Frau wird von einem Männerkollektiv vergewaltigt; entweder stirbt sie an den Folgen dieses Verbrechens oder sie wird von ihrem Ehemann getötet und zerstückelt. Man wüsste gerne, welche Emotionen der Erzähler bei seinen Adressaten und Adressatinnen hat auslösen wollen. Es ist aber nicht zu erkennen, dass die Geschichte als ein Exempel hat aufzeigen wollen, wie es Frauen mit einer gewissen Freizügigkeit ergehen könnte. Möglicherweise, das ist aber spekulativ, rechnet der Erzähler mit Sympathie und Anteilnahme für das Opfer.

Eine weitere (wiederum spekulative) Ausnahmegeschichte begegnet in 2Kön 4. Die Rede ist von einer „reichen Frau“, deren Kinderwunsch sich aufgrund des hohen Alters ihres Mannes nicht mehr erfüllen lässt.4  Durch die wundertätige Aktivität Elisas‘ wird die Frau doch noch schwanger und bringt einen Sohn zur Welt. Allerdings verstirbt dieser noch als Kleinkind. Der Vater ist mit der Situation überfordert (2Kön 4,8.14-18). Der plötzliche Tod des Kindes veranlasst die Mutter, wiederum die Hilfe des wundertätigen Propheten zu ersuchen. Die Mutter bricht mit dem toten Kind in der Hoffnung, dass dieser es wieder in das Leben zurückholen könne, zu dem Propheten auf. Auf die ratlose Bemerkung ihres Mannes zum Sinn dieser Aktivität hat sie nur ein Wort parat: „Schalom“ (2Kön 4,23). Wahrscheinlich intendiert die Szene, dass die Mutter unwirsch auf ihren Mann reagiert und selbstbestimmt die „Rettung“ ihres Sohnes in die Wege leitet. Ohne die Geschichte übermäßig zu strapazieren, lässt sich festhalten, dass in dieser eine souverän handelnde und von ihrem Mann nicht dominierte Frau agiert.


Sexualität als wesentlicher Aspekt des Menschseins

Es gehört zu den auffälligsten Besonderheiten in der Geschichte der Auslegung der HB, dass Gen 2 und 3 partnerschaftliche Sexualität als „Ursünde“ präsentieren. Es handelt sich dabei allerdings um eine Fehlinterpretation. Unstrittig ist, dass die gesamte Urgeschichte Gen 1-11 die Entfremdung zwischen Menschen und Gott thematisiert. Eine Fehlinterpretation war und bleibt allerdings, dass sich diese Entfremdung auf das Thema „Sexualität“ fokussieren lasse. Die hebräische Sprache kennt eine Reihe von Begriffen, die sich (im klassischen christlichen Sinne) durchaus mit „Sünde“ übersetzen lassen könnten. Allerdings kommt keiner der relevanten Begriffe in Gen 2 und 3 vor. Dies geschieht erst im Kontext der Geschichte erster zwischenmenschlicher Gewalt in Gen 4.

Hinsichtlich von Sexualität und Erotik äußern sich die Literaturen des alten Orients, einschließlich der Hebräischen Bibel zurückhaltend. Die hebräische Sprache kennt immerhin ein Wort, dass am ehesten mit „Begehren“ übersetzt werden kann. Allerdings ist dieses nur dreimal belegt, in einem Vorkommen ist dieses anthropologisch negativ konnotiert. In der sogenannten Geschichte vom Sündenfall werden der Mann und der Frau verschiedene Strafen aufgebürdet. Die Frau wird unter Gefahr und Schmerz Kinder zur Welt bringen, dennoch wird sie sexuelles Verlangen nach ihrem Mann empfinden. Alle verfügbaren Übersetzungen implizieren einerseits eine negative Sicht auf weibliche Sexualität und zugleich eine Dominanz des Mannes über die Frau. Unbedingt notwendig ist diese Sichtweise nicht.

»Und zur Frau, sprach er: Ich will dir viel Mühsal schaffen, wenn du schwanger wirst, unter Mühen sollst du Kinder gebären. Und dein Verlangen (teschuka) soll nach deinem Mann sein, aber er soll über dich herrschen.« (Gen 3,16)

Diese Übersetzung beinhaltet zwei Stolpersteine. Das deutsche Wort „herrschen” hat eine eindeutig negative Konnotation. Dem zu Grunde liegenden hebräischen Wort „maschal” wohnt diese Bedeutung nicht zwangsläufig inne.5  Möglich ist, dass der Mann gegenüber seiner Frau eine weisheitlich inspirierte, beratende Funktion ausübt.6  Eine vieldiskutierte Parallele bietet Hld 7,11: »Ich gehöre meinem Freund/Geliebten, nach mir ist sein Verlangen (teschuka).«

Yair Zakovitch hat zu dieser Stelle trefflich formuliert: „Der Liebende übt keine Herrschaft aus über die Frau, die sich ihm zugehörig fühlt, auch sie regiert nicht über ihn.“7  

Im Gegensatz zu diesem (möglicherweise) Ausnahmefund wird im Fall von Eheschließungen immer nur formuliert, dass ein Mann eine Frau heiratet, indem er sie „nimmt“. Es gibt keinen Beleg dafür, dass eine Frau einen Mann „nimmt“ bzw. diesen heiratet. 

Auch wenn diese wenigen Bespiele selektiv sind, so zeigen sie dennoch, dass in den Erzählwelten der HB (gelegentlich) ein Gegenüber auf Augenhöhe von Mann und Frau begegnet. Eine negative Sichtweise auf Sexualität findet sich in der HB nirgendwo. 


Eltern und Kinder

Eine negative Sichtweise auf Kinder und die mit ihnen verbundenen Herausforderungen für die Eltern findet sich in der gesamten HB und ihrer Umwelt nicht. Eine solche Sichtweise lässt sich erst in wenigen Belegen in der römischen Literatur mit Blick auf das elitäre Gebärden der Oberschicht eruieren. Wesentlich präsenter ist das in den Erzählwelten der HB begegnende Motiv, dass unerfüllte Kinderwünsche emotionale Krisen auslösen. 

Von ihrer ausbleibenden Schwangerschaft geplagt, äußert Rahel in Gen 30,1 dieses Statement:

»Rachel aber sah, dass sie Jakob keine Kinder gebar, und Rachel wurde eifersüchtig auf ihre Schwester, und sie sprach zu Jakob: Schaffe mir Söhne, sonst sterbe ich. Da entbrannte der Zorn Jakobs über Rachel, und er sprach: Bin ich denn an Gottes Stelle, der dir Leibesfrucht versagt hat?«

Semantisch muss offenbleiben, ob Rahels Äußerung die Geburt von einem Sohn oder einer Tochter impliziert hat. Deutlich ist allerdings, dass eine ausbleibende Schwangerschaft eine Krisensituation bei der Frau (und bei ihrem Partner) eine emotionale Krise ausgelöst hat. Es ist davon auszugehen, dass der Leserschaft dieser und anderer Texte der HB die krisenhafte Situation einer Kinderlosigkeit eher vertraut war als eine „Überbelastung“ durch eine Vielzahl an Kindern. Ebenso offen muss die Frage bleiben, ob Rahels Drohung auf einen Suizid oder auf eine „sozialen Tod“ in Folge der ausbleibenden Schwangerschaft hindeutet. Deutlich ist, dass hier wie in anderen Kontexten auch nicht die Belastung durch Schwangerschaft, Geburt und das Aufziehen von Kindern, sondern eben das Ausbleiben davon eine psychische Krise evoziert hat.8  

In den letzten drei Dekaden sind Untersuchungen publiziert worden, die sich dem Thema „Kinder und ihre Wahrnehmung“ in den relevanten Texten verschrieben haben. Hierbei ist allerdings festzuhalten, dass das Thema „Kindheit und Kinder“ (ebenso wie die erwähnte Emotionalität zwischen Mann und Frau) eher beiläufig erzählt wird und nirgendwo zum Leitthema von narrativen oder argumentativen Texten der HB bzw. ihrer literarischen Umwelt erhoben worden ist.

Fazit

Eine mit der westlich konnotierten vergleichbare ‚moderne‘ Vorstellung von Familie kennt weder die HB noch die Umwelt des biblischen Israels. Offensichtlich ist sowohl die Begrifflichkeit als auch der Vorstellungshorizont von „Familie“ einem steten Wandlungsprozess unterworfen und wird das auch bleiben. 

Anmerkungen

  1. Zur Verdeutlichung: Der Verfasser und seine Partnerin haben insgesamt fünf erwachsene Kinder, allerdings nicht gemeinsam. Wir bezeichnen uns als Paar und eben nicht als Familie. 
  2. Die „Liebespaare“ der HB sind Isaak und Rebekka (Gen 24,67), Jakob und Rahel (Gen 29,18.30). In beiden Fällen „liebt“ der Mann seine Partnerin. Tragisch endet die „Liebe“ Simson zu Delilah (Jdc 16,4). Die einzig liebende Frau ist Michal, die Tochter Sauls (1Sam 18,20); allerdings schlägt diese Liebe in einen handfesten Ehekrach um; vgl. 2Sam 6,20. 
  3. Die ursprüngliche Übersetzung Luthers lautete „und sie hatte neben ihm gehuret“. Bei aller Freiheit der Übersetzungsmöglichkeiten wird kaum zu umgehen sein, dass das Verb eine negative (oder präziser sexistische) Sicht auf weibliche Sexualität impliziert. Die englischen Übersetzungen sind nicht weniger disparat. Die NIV (New International Version) benutzt die Begriffe „concubine“, die sich als „unfaithfull to him“ gebärdet habe. Die neue King James Version drückt sich noch weniger schmeichelhaft aus: „his concubine played the harlot against him.“ 
  4. Es ist nicht zufällig, dass sich in den Textfunden des Alten Orients und Ägyptens nur sehr wenige Belege für die Praxis der Abtreibung finden lassen. Im Gegenzug dazu lassen sich eine Vielzahl von (insbesondere magischen) Texten und Amuletten auflisten, die der Krise der Kinderlosigkeit ein Ende setzen sollten. Hierbei spielen auch Vorstellungswelten eine Rolle, nach denen in einer Ehe, in der Sexualität praktiziert wird, im Fall einer Kinderlosigkeit die Frau die „Schuld“ trägt. Hintergrund ist ein gedanklicher Horizont, nach dem der Mann zerah (Sperma, Nachkommen, Saatgut) in die Frau „einbringt“, vergleichbar dem Vorgang des Aussäens von Saatgut auf dem Feld; vgl. dazu ausführlicher Kunz, Vorstellung von Zeugung. 
  5. Vgl. etwa Sach 9,10. Der eschatologische Friedenskönig wird, nachdem JHWH weltweit alle Waffen entfernt hat, den globalen Schalom verkündigen und dieses Amt als friedvoller Herrscher (nach der damaligen geographischen Weltsicht) weltweit ausüben.
  6. Das entsprechende Nomen teschuka taucht insgesamt nur dreimal auf. Die „Sünde“ hat in Gen 4,7 eine Begierde nach dem Menschen und lauert diesem buchstäblich auf. Im Gegensatz zu dieser eindeutig negativen semantischen Konnotation des Lexems wohnt diesem in Hld 7,11 eine erotisch-freudvolle Bedeutung inne. Die verliebte Frau bemerkt, dass ihr Liebhaber ihr gehöre und sich ihr „Verlangen“ ganz allein auf ihn konzentriere. Bemerkenswert ist hierbei die rabbinische Auslegung. Der Midrasch Bereschit Rabbah (zum Buch Genesis) vermerkt, dass die Frau unter den Schmerzen der Geburt ihr sexuelles Verlangen bitter bereut. Allerdings wird das Verlangen später wieder über sie kommen; eine deutsche Übersetzung bietet August Wünsche, Bereschit Rabbah, 91. Im Gegensatz zu dieser Auslegung bleiben feministische Exegetinnen der traditionellen Sichtweise verbunden, dass insbesondere Gen 2f. eine deutlich erkennbare Überlegenheit des Mannes über die Frau festschreibe; vgl. Fischer, Mann und Frau, 77f. Allerdings verweist auch Fischer auf narrative Sondersituationen, in denen die Frau als ihrem Ehemann überlegen und nicht zuletzt auch überlebensfähiger dargestellt wird. Dies sei insbesondere aus der Erzählung in 1Sam 25 herauszulesen, in der sich Abigail („Mein Vater hat gejubelt“) gegenüber ihrem Ehemann Nabal („törichter Mensch“) intellektuell als überlegen erweist.
  7. Zakovitich, Das Hohelied, 256.
  8. In den Erzähltexten der HB wird intendiert, dass die Ursache für eine ausbleibende Schwangerschaft auf der verweigernden Haltung Gottes/JHWHs liegt; vgl. Grohmann, Empfängnis und Geburt, 67f. Leider wissen wir zu wenig über die Formen der persönlichen Frömmigkeit in Israel und seiner Nachbarn, um dieses Thema hinreichend diskutieren zu können. 

Literatur

  • Fischer, Irmtraud: Mann und Frau, in: Dietrich, Jan / Grund-Wittenberg, Alexandra / Janowski, Bernd / Neumann-Gorsolke, Ute (Hg.): Handbuch Alttestamentliche Anthropologie, Tübingen 2024, 76-80
  • Garroway, Kristine Henriksen: Children in the Ancient Near Eastern Household, Explorations in Ancient Near Eastern Civilizations 3, Winona Lake 2014
  • Grohmann, Marianne: Empfängnis und Geburt, in: Dietrich, Jan / Grund-Wittenberg, Alexandra / Janowski, Bernd / Neumann-Gorsolke, Ute (Hg.): Handbuch Alttestamentliche Anthropologie, Tübingen 2024, 65-68
  • Kunz, Andreas: Die Vorstellung von Zeugung und Schwangerschaft im antiken Israel, in: Zeitschrift für Alttestamentliche Wissenschaft 111 (1999), 1-22
  • Wünsche, August: Der Midrasch Bereschit Rabbah. Das ist die haggadische Auslegung der Genesis, Leipzig 1881
  • Zakovitch, Yair: Das Hohelied. HThKAT. Übers. Dafna Mach, Freiburg 2004