Aus der Realität einer Patchworkfamilie
Der fünf-jährige Leif wurde im Kindergarten nach seinen Eltern gefragt. Darauf antwortete er sehr selbstbewusst: „Ich habe gar keine Eltern. Ich habe eine Mama, ich habe einen Papa und ich habe eine Constanze!“ Dies berichtete die Erzieherin Leifs Oma beim Abholen, was alle Familienmitglieder bis heute mit Freude erfüllt. Leif ist inzwischen 23 und er hat einen 16-jährigen Bruder. Die Lebensumstände aller Beteiligten haben sich in der Zwischenzeit sehr verändert, unter Hinzugewinnung weiterer Familienmitglieder und einer Trennung.
Für diesen Artikel wurde ich als Expertin aus Familienbildung und Religionspädagogik angefragt, komme aber nicht umhin, meine persönliche Geschichte einzubeziehen. Ich selbst bin eine von sieben Patchwork-Geschwistern mit unterschiedlichen Eltern-Konstellationen. Aus persönlicher Erfahrung kann ich sagen, dass ich ein großer Fan von Patchwork bin. Bei allen Herausforderungen, denen Patchworkfamilien begegnen, erweitern sich in Patchwork-Systemen die Möglichkeiten, Beziehungen zu leben und zu gestalten exponentiell. Die sechs Geschwister, mit denen ich teilweise aufgewachsen bin, sind auch in meinem Erwachsenenleben meine wichtigsten Sparrings-Partner*innen, die mich die längste Zeit meines Lebens begleiten und kennen, an ihnen kann ich mich orientieren oder reiben. Wir alle haben Verlusterfahrungen zu verzeichnen, haben manchmal Gefühle mangelnder Zugehörigkeit oder fühlen uns zurückgesetzt. Gleichzeitig gibt es stets die Wahl für die passende Ansprechperson, tiefes Vertrauen und großen Rückhalt.
Ressourcen von Patchworkfamilien
Alle Mitglieder einer Patchworkfamilie haben in hohem Maße Anpassungsleistungen zu erbringen. Zunächst ist da die Bewältigung von Trennung und Verlust zu nennen, das erneute Aushandeln von Elternschaft und Partnerschaft, die Positionierung von Geschwistern untereinander und in Beziehung zum jeweils neuen Elternteil, Loyalitätskonflikte und das Zurechtfinden in unterschiedlichen, aufeinanderstoßenden Familienkulturen sowie eine erhöhte Bereitschaft zur Mobilität, Organisationsleistungen zwischen diversen Akteur*innen im System und ein erhöhter Zeitaufwand. Diese Leistungen verlangen größtmöglichen Respekt und Anerkennung. Sich diesen Herausforderungen zu stellen, öffnet ebenso viele wichtige Lernfenster für das Sozialverhalten:
- Anpassungs-, Selbstbehauptungs- und Bewältigungsstrategien werden erlernt
- Konfliktverhalten, Ambiguitätstoleranz und Geduld werden trainiert
- Rollenmuster werden überdacht und losgelassen
- neue Sichtweisen werden entwickelt
- es wird gelernt, auf bisher nicht zur Familie Gehörende intensiv einzugehen und das Positive im Anderen zu entdecken
- Fehler und Unzulänglichkeiten bei sich und anderen können angenommen und es kann sich damit arrangiert werden
- Privilegien zugunsten anderer werden aufgegeben
- unterschiedliche, nicht gemeinsam erlebte „Geschichten“ und Lebenswelten werden miteinander verbunden
- Kompromisse werden erarbeitet und gemeinsam neue Rituale entwickelt.
Wo Familienbildung ansetzt
Evangelische Familien-Bildungsstätten begleiten Menschen in ihren unterschiedlichen Lebensphasen. Ihr Auftrag ist es, zu gelingender Beziehungsgestaltung beizutragen. Sie richten sich an Menschen in der Vielfalt heutiger Familien- und Lebensformen. Das besondere Augenmerk gilt dabei Eltern mit Kindern und deren Erziehungs- und Beziehungskompetenz ungeachtet ihrer Herkunft, ihres Geschlechts, der Weltanschauung oder des sozialen Status. In dieser Offenheit erfassen Einrichtungen der Familienbildung i. d. R. nicht, welcher Lebensform sich die Teilnehmenden aktuell zuordnen. Gleichwohl gibt es angepasst an die gesellschaftlichen Bedarfe spezielle Angebote z. B. für Ein-Eltern-Familien. Hierbei ist zu beachten, dass einer Stigmatisierung vorgebeugt wird. Keine Familie, egal welcher aktuellen Lebensform, möchte sich als „Herausforderung“ gelesen wissen. Schon hier kann die Würde gewahrt bleiben, wenn Angebote ressourcenorientiert ausgerichtet sind. So finden sich in den klassischen Angeboten der Familienbildung Patchworkfamilien „unerkannt“ wieder. Es gibt Familien-Bildungsstätten, die sich erfolgreich als Umgangshaus für getrennte Familien geöffnet haben. Weitere wichtige Pfeiler sind familienentlastende Maßnahmen wie Ferienbetreuung und Hausaufgabenhilfe. In der Umsetzung eines umfangreichen Konzeptes für Angebote mit Patchworkfamilien in Hannover konnten wir feststellen, dass diese Angebote nicht nachgefragt wurden. Als mögliche Hindernisse vermuten wir, dass die geplanten Zeiten zu umfangreich waren und dass die Angebote eine starke persönliche Öffnung erfordert hätten. Im Vergleich dazu ist die anonyme Online-Beratung für Patchwork-Familien von Katharina Grünewald aus Köln sehr stark nachgefragt.
Chancen der Religionspädagogik
Familienfreizeiten, die inhaltliche Bausteine zu Familienbildern enthalten und gleichzeitig Wert auf familiäre Interaktion im erlebnispädagogischen Bereich legen, können ein guter Anknüpfungspunkt sein und Familien in Umbruchsituationen stärken.
Eine besondere Ressource, die der christliche Glaube mitbringt, ist der Segen. Familien mit spürbarem Segen auszustatten, durch Rituale wie Trennungs-Segnung, Familien-Segnung, Geschwister-Segnung kann stärken und beim Gelingen von Beziehungsauf- und -ausbau unterstützen. Sowohl Eltern als auch Kinder sind schwierigen Situationen und Selbstzweifeln ausgesetzt. Die bedingungslose Zusage Gottes zur Person, zu Gefühl und Entscheidung kann tröstlich, heilsam und stärkend sein, wenn die eigene Kraft mal nicht ausreicht, und kann funkeln, wenn sie sich mit der eigenen Kraft verbindet.