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Spezifika einer queer-sensiblen Kinder- und Jugendseelsorge

von Theodor Adam und Sonja Thomaier


Was ist queer an queer-sensibler Seelsorge?1

Eine queer-sensible Seelsorge versteht sich zunächst als Seelsorge sowohl für Menschen, die sich als Teil der queeren Community bzw. als lesbisch, schwul, bi- bzw. pansexuell, transgeschlechtlich, (gender)queer, intergeschlechtlich oder agender/asexuell (LSBTQ*IA+) verstehen, als auch für diejenigen, die sich in diesem Bereich als suchend, fragend, forschend oder ringend erleben. Die Themen und Anliegen der Seelsorge sind dabei so unterschiedlich wie die Menschen und ihre Lebenswege. Sie befinden sich regelmäßig auf der Schnittfläche von Queerness, deren gesellschaftlichen Resonanzen, der eigenen biografischen Situation sowie den eigenen Glaubenshorizonten. Aspekte wie Coming-out, gelebte Selbstannahme, ein tieferes Verständnis über das eigene Sein und Begehren, die Vereinbarkeit von Glaube und Queer-Sein sowie eine (kritische) Auseinandersetzung mit der eigenen Glaubensgeschichte kommen in den Gesprächen gehäuft und in je individuellen Ausprägungen vor. Queer-sensible Seelsorge kann jedoch auch alles andere, was eine Person gerade beschäftigt und bewegt, beinhalten. In vielen Fällen ist jedoch die Queerness der Person ein Faktor, der Einfluss darauf hat, was die Person beschäftigt und auf die Art, wie es die Person beschäftigt. Als Beispiel sei die Altersarmut eines schwulen HiV-positiven Mannes genannt. Altersarmut ist kein spezifisch queeres oder hier schwules Phänomen. In seinem Fall (wie in vielen anderen Fällen auch) ist sie jedoch durch die HiV-Infektion entstanden, da er kurz nach Bekanntwerden der Infektion frühverrentet worden ist, denn zu seinem Infektionszeitpunkt galt HiV / AIDS als den baldigen Tod bringend. Dabei war er faktisch bis zum gesetzlichen Rentenalter arbeitsfähig und hätte sich selbst tragen und eine eigene Altersvorsorge aufbauen können.

Eine queer-sensible Seelsorge nach unserem Verständnis ist ebenfalls ansprechbar und immer wieder akut gefragt nach tragischen Vorfällen oder vor dem Hintergrund größerer politischer Prozesse (wie Gewalterfahrungen z. B. auf Christopher-Street-Days oder dem Erstarken rechter und queerfeindlicher Parteien nach der Bundestagswahl 2025). In diesem Sinne ist queer-sensible Seelsorge auch eine Form von Community Care. Sie öffnet Räume, schafft Platz für Emotionen und Solidaritätserfahrungen, klopft Handlungsoptionen ab und sorgt sich um die queere Gemeinschaft vor Ort.

Eine queer-sensible Seelsorge, wie wir sie verstehen, ist jedoch nicht nur ansprechbar für Menschen, die sich selbst als queer verstehen oder bezeichnen, sondern auch für diejenigen, die sich zu Queerness in ein spannungs- bis konfliktreiches Verhältnis setzen. Auch Menschen, die ihr „Problem mit queer“ zur Sprache bringen wollen, können seelsorgliche Bedürfnisse haben und zum Beispiel an ihrer eigenen Einstellung leiden oder Wut und Unverständnis über die Werte ihrer Erziehung empfinden. Auch für mit Queerness hadernde oder mit sich selbst in Bezug auf Queerness hadernde Menschen ist nach unserem Verständnis queer-sensible Seelsorge da, so lange persönliche Grenzen und die Grenzen der Menschenwürde nicht verletzt werden. Diese Anfragen, die oft tieferliegende seelsorgliche Anliegen offenbaren, können im Sinne einer Community Care verstanden werden, da hier eine Sorgefunktion übernommen wird, die andere queere Personen an anderen Stellen entlasten kann. Zugleich sollte die Seelsorge an queer-skeptischen Menschen um ihrer selbst willen ein Anliegen sein: In diesem Sinne inklusiv zu arbeiten, bedeutet eine wahrhaftige Pluralitäts- und Vielfalt fördernde Diskursfreundlichkeit, die eine Ambiguitätstoleranz aller Beteiligter voraussetzt.


Haltung in queer-sensibler Seelsorge2

Eine aus unserer Perspektive hilfreiche Haltung sei durch eine Geschichte illustriert:

Ein Designer kam zu einem Zen-Meister. „Meister“, sagte er „ich habe schon viel über Zen gelesen. Ich habe auch schon versucht, Zen in meinen Entwürfen umzusetzen. Die Menschen sollen ruhiger werden durch meine Entwürfe, sich besser fokussieren können…“ Während er sprach, bereitete der Zen-Meister Tee zu. Das dauerte lange und der Designer sprach lange. Er erzählte dem Zen-Meister alles, was er wusste, und dann alles, was er sich dazu gedacht hatte. Der Zen-Meister schwieg. Dann goss er den fertigen Tee in eine Tasse und der Designer sprach noch immer. Der Zen-Meister goss weiter und die Tasse lief über. „Was tust du da?“ fragte der Designer, als der Tisch schon ganz nass und voller Tee war. „Ich male ein Bild von dir“, antwortete der Zen-Meister. „Du läufst über wie eine übervolle Tasse. Was kann ich dir da noch sagen? Du könntest es ja doch nicht aufnehmen.“ Der Zen-Meister hörte auf einzuschenken und wischte den Tee auf. Dann sagte er: „Leere deine Tasse. Und ich leere meine. Dann treffen wir uns wieder. Dann ist Raum für das, was zwischen uns entstehen wird.“

Die leere Tasse ist ein treffendes Bild für eine seelsorgliche Haltung, die der Seelsorge suchenden Person unvoreingenommen, ergebnisoffen und prozess-sensibel Raum für ihr Anliegen bietet. Ein Jugendlicher ruft an und bittet um Begleitung bei seinem Coming-out. Ein lesbisches Paar meldet sich und bittet um eine Trauung. Natürlich springen sofort die Assoziationsketten an: Wie ist es mit den Eltern bei dem Jugendlichen? Kommt er in seiner Klasse gut zurecht? Welche sozialen Kontexte können unterstützen, welche hemmen und hindern gerade? Und bei dem Paar: Wünschen sie sich vielleicht Kinder? Was liegt dann vor ihnen: Kinderwunschpraxis, Stiefkindadoption? STOP. Das müssen wir uns auch selbst immer wieder sagen. Nur, weil wir ähnliche Fälle schon begleitet haben, heißt das nicht, dass wir diesen Fall schon kennen oder gar einschätzen könnten. Die Kunst ist, die Tasse wirklich leer zu halten, ganz offen, unvoreingenommen und vor allem ohne Zuschreibungen in die Begegnungen zu gehen. Eine transgeschlechtliche Frau kann ganz andere Erfahrungen machen als die, die vor drei Wochen anrief. Und ein älterer schwuler Herr hat zwar die politischen Entwicklungen miterlebt, die andere ältere schwule Herren auch erlebt haben, aber hat er sie auch ähnlich empfunden? Das muss nicht zwingend so sein. Was aber viele queere Personen teilen, ist das Gefühl des „Abgestempelt-Seins“, wenn sie ihr Label nennen. „Ach so, du bist schwul / lesbisch / trans* wie…“ und manchmal werden dann Personen aus dem öffentlichen Leben als Vergleichsgrößen genannt oder vorgeprägte Bilder beschrieben. Aber alle queeren Personen sind auf die Weise queer, wie nur sie selbst queer sind. Und viele nennen es gar nicht queer, definieren sich auch nicht so, sondern haben ganz eigene Worte dafür. Diese Individualität gilt es wahr und ernst zu nehmen. Dann kann echte Begegnung entstehen, wenn die Tasse leer und das Herz offen ist.

Manchmal stellen Menschen, die sich selbst nicht als queer definieren, in Frage, ob sie selbst queer-sensible Seelsorge anbieten oder leisten können. Eigentlich ist die Geschichte von der leeren Tasse schon die Antwort darauf. Das Wichtige ist die Haltung, die Offenheit, die Bereitschaft, jemandem unvoreingenommen und frei von vorgeprägten inneren Bildern, Zuschreibungen oder gar Urteilen zu begegnen. Ebenfalls teilen nicht alle queeren Personen, die queer-sensible Seelsorge leisten, die Form von Queerness, die die Seelsorge suchende Person lebt. (In bestimmten Fällen kann eine zu große Nähe sogar hinderlich sein, zum Beispiel dann, wenn der*die Seelsorger*in zum Rollenmodell wird und die Seelsorge suchende Person nicht ihren eigenen Bedürfnissen folgt.) Queere Seelsorgende kennen jedoch den Minderheitenstress, gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit und in der Regel community-interne Termini und Gepflogenheiten und bringen ein gewisses Vorwissen über bestimmte Aspekte unterschiedlicher Formen von Queerness mit, das jedoch nicht zwingend ausreichend ist. Grundsätzlich setzt eine queer-sensible Seelsorge bestimmte Kenntnisse und eine Aufgeklärtheit über queere Lebensrealitäten voraus, damit die Seelsorge suchenden Personen sich nicht immer wieder neu erklären müssen. Zudem bedarf es eines Empathievermögens, eines Differenzierungsvermögens innerhalb des queeren Spektrums und einer besonderen Aufmerksamkeit hinsichtlich der je aktuellen und je nach Form der Queerness auch unterschiedlichen Akzeptanz queerer Personen in der Gesellschaft und einer Wachsamkeit für gesellschaftliche Stimmungen in unterschiedlichen Szenen. Queer-spezifische Fragen, Konfliktlinien und Themen bezüglich Theologie, Glaube und der Beziehung zur Kirche sollten bekannt und einmal durchdacht worden sein.


Coming-out als Thema queer-sensibler Seelsorge

Coming-out of the closet (deutsch: aus dem Schrank herauskommen) oder kurz Coming-out ist im englischsprachigen Raum mittlerweile ein geflügeltes Wort und die Metapher für eine queere Person, die ihr Queer-Sein offenbart. Der Kontext kann sich dabei verschieden gestalten, von einem vertrauten Gespräch bis hin zu einem öffentlichen Statement.

Das Bild des Schrankes, der verlassen wird, ist dabei so einfach wie eindrücklich: Etwas, das vorher verborgen war, tritt nun ans Tageslicht und wird sichtbar und sagbar. Etwas, das vorher in einem verschlossenen Raum gehalten wurde, bekommt nun Luft zum Atmen. Das ist die befreiende Seite des Coming-outs: Ein Ich spricht sich über sich selbst aus. Das Unsagbare wird nun ersetzt durch dieses Sich-Aussprechen-Können. Zugleich ist dieses Ans-Licht-Treten auch eine Form des Sich-Exponierens. Mit einem Coming-out macht sich eine Person zugleich angreifbar: Dort, wo sie sich zeigt, kann sie angenommen oder abgelehnt werden. Je nachdem, wie feindlich die jeweilige Umwelt gegenüber queerem Leben eingestellt ist, kann dies nicht nur Gefahr für die Seele bedeuten, sondern auch an Leib und Leben.3  Das ist die vulnerable Seite des Coming-outs.

Das sogenannte Im-Schrank-Sein (also das Ungeoutet-Sein) lässt sich als eine Art der Überanpassung beschreiben: Um zu einem Sozialgefüge dazugehören zu können und von diesem akzeptiert zu werden, wird ein wesentlicher Teil des eigenen So-Seins bewusst zurückgehalten. Der emotionale Preis, den eine queere Person dafür bezahlt, ist oft hoch. Denn hier können Schamgefühle und Selbstnegation entstehen und internalisiert werden. Dennoch kann es gute Gründe dafür geben, „im Schrank“ bleiben zu wollen wie Sicherheitsbedarfe oder fragile Beziehungsnetzwerke. So verstanden ist ein Coming-out ein mutiges Zu-sich-Stehen, auch wenn es eine Person wichtige Beziehungen, Achtung oder Anerkennung kosten kann. Darum sind sogenannte „Fremdoutings“ hochgradig problematisch: Fremdouting bedeutet, dass eine Person das Queer-Sein einer anderen Person offenbart ohne deren Zustimmung (und manchmal sogar ohne deren Wissen), z. B. wenn eine Kollegin dem Kollegen von der lesbischen Beziehung einer gemeinsamen Kollegin berichtet, die nicht öffentlich bekannt ist.

Ein Coming-out – sei es selbstbestimmt, sei es fremdbestimmt – hat also etwas mit Grenzüberschreitung zu tun. Dass es nach wie vor notwendig ist, sich zu outen, kennzeichnet das soziale Gefüge, in dem wir leben, als nicht queer-inklusiv. Allein die Existenz von Coming-outs offenbart die impliziten und expliziten Normierungen unseres gesellschaftlichen Gewebes oder kurz gesagt: Nur dort, wo Queer-Sein nicht selbstverständlich ist, sind Coming-outs nötig.

Wichtig ist zudem, dass ein Coming-out nichts Statisches oder Einmaliges ist. Unabhängig davon, wie lange eine Person schon geoutet lebt, muss sie sich immer wieder in neuen Kontexten und Umfeldern outen; in der Regel gewinnt die Person lediglich an Souveränität, diesen Prozess zu managen. Zudem gibt es unterschiedliche Dimensionen eines Coming-outs: Im Allgemeinen lässt sich zwischen einem „inneren Coming-out“ und einem „äußeren Coming-out“ unterscheiden. Inneres Coming Out meint den Prozess des Sich-selbst-gewahr-Werdens oder Sich-selbst-Eingestehens des eigenen Queer-Seins – also ein Coming-out vor sich selbst. Dieser Prozess geschieht in der Regel nicht im ‚stillen Kämmerlein‘, sondern findet angeregt durch und in Auseinandersetzung mit anderen queeren Lebensgeschichten oder entsprechenden Informationen statt, wie etwa mit Hilfe von queerem Storytelling in sozialen Medien oder in queerem Film und queerer Literatur. Im Prozess des inneren Coming-outs finden queere Personen erste Worte, Konzepte und Begriffe für eine Realität, die sie schon vorher an sich festgestellt oder erahnt haben. Es ist ein Realisieren der Konstitution des eigenen Selbst. Ein „äußeres Coming-out“ bedeutet, diese Realität bewusst vor Anderen auszusprechen. Wenn von Coming-out gesprochen wird, ist in der Regel das äußere Coming-out gemeint. Daher ist es wichtig zu wissen, dass einem äußeren Coming-out ein Prozess vorausgeht, der sich über einen längeren Zeitraum erstrecken kann.

Festzuhalten ist: Coming-out ist ein vielschichtiges und komplexes Phänomen, dass die Wechselwirkungen zwischen dem persönlichen Sich-Verstehen bzw. So-Sein sowie den gesellschaftlichen Verstehenskategorien und den Begrenzungen des „Normalen“ offenlegt. Zu einem Coming-out kann auch dazugehören, dass die eigenen Werte, Selbstverständlichkeiten und Ansichten unter der Erkenntnis des Queer-Seins nochmal neu sortiert werden müssen, dazu können auch religiöse Glaubenssätze, Überzeugungen und Bilder gehören. Auch dies kann Thema einer queersensiblen Seelsorge sein: lebensförderliche und queerfreundliche Glaubensperspektiven zu eröffnen.


Queer-sensible Seelsorge im Kindes- und Jugendalter

Queerness ist ein Querschnittsthema. Queere Menschen gibt es daher in allen Lebensaltern, in allen Einkommensbereichen, in der Stadt und auf dem Land. Queere Kinder und Jugendliche stehen dabei, je nach Form der Queerness, vor unterschiedlichen Herausforderungen und sind entsprechend auf Unterstützung durch ihr Umfeld angewiesen.

Stellen Kinder oder Jugendliche fest, dass sie nicht wie viele ihrer Altersgenoss*innen ein heterosexuelles Interesse entwickeln oder auf andere Weise in der Frage der sexuellen Orientierung anders veranlagt sind als ihr nächstes Umfeld oder die Mehrheitsgesellschaft oder aber genderqueer sind, erleben sie sich als individuell und vor allem auch als ‚anders‘, unter Umständen sogar als ‚nicht richtig‘. Ob sie dieses Erleben artikulieren, hängt dann unter anderem davon ab, ob sie ihr Umfeld als offen, verständnisvoll und zugewandt erleben oder als (in dieser Frage und aus unterschiedlichsten Gründen) grundsätzlich kritisch, verschlossen, feindlich, abgewandt. Geraten Kinder und Jugendliche unter einen Minderheitendruck und/oder sprechen sie nicht über ihr Selbsterleben, wächst in der Regel der Leidensdruck. Wie queere Menschen aller Altersgruppen können auch Kinder und Jugendliche Opfer bzw. Betroffene von gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit und von Diskriminierungserfahrungen werden. In bestimmten Machtgefügen und Abhängigkeitskonstellationen wie zum Beispiel gegenüber Lehrer*innen, Ausbilder*innen, aber auch Eltern oder älteren, dominierenden Geschwistern sind queere Kinder und Jugendliche besonders vulnerabel. Ähnlich wie manche Kinder und Jugendliche mit Behinderung oder mit Migrationshintergrund versuchen manche queere Kinder, durch besondere Leistungen in der Schule, im Sport oder durch besonderes soziales Engagement ihre dann als Makel empfundene Queerness wettzumachen.

In Fragen der sexuellen Orientierung ist das Spezifikum des Kindes- und Jugendalters, noch keine Erfahrung im Umgang mit Sexualität oder dem Anbahnen von Beziehungen zu besitzen. Für viele queere Jugendliche sind hier dann also mindestens zwei große Fragen präsent: die mit allen Jugendlichen gemeinsame Frage nach dem grundsätzlichen Entdecken von romantischen Gefühlen und Sexualität und zudem die Frage danach, was es bedeutet, in diesen Dingen anders zu fühlen als viele Altersgenoss*innen. Oft ist es hilfreich und gibt Sicherheit und Orientierung, wenn sich eine Person im Umfeld befindet, die ein ähnliches Erleben hat und so zum Role Model (deutsch: Rollenmodell) werden kann. Eine weitere, triangulierende Person kann vor Überidentifikation mit dem Role Model schützen oder aber auch vor einem Ausgenutztwerden bzw. einem In-eine-Abhängigkeit-Geraten des Kindes bzw. der jugendlichen Person.

Bei genderqueeren Kindern und Jugendlichen sind die Spezifika der jeweiligen Form der Genderqueerness zu beachten. Liegt bei einem Neugeborenen eine offensichtliche Intergeschlechtlichkeit vor, ist zu untersuchen, ob es eine Notwendigkeit für medizinische Maßnahmen gibt, zum Beispiel, weil die Harnwege nicht funktionsfähig sind oder ob das Kind auch ohne Operation auskommen kann. Bis vor wenigen Jahren wurden Kinder auch ohne Notwendigkeit für medizinische Maßnahmen operiert und damit in eine äußerliche Geschlechtszugehörigkeit überführt, die in vielen Fällen später als ‚fremd‘ oder ‚nicht eigen‘ erlebt wurde und wird. Dieses Vorgehen ist seit Mai 2021 in Deutschland jedoch gesetzlich verboten. Andere intergeschlechtliche Personen erfahren erst im Jugendalter oder im jungen Erwachsenenalter von ihrer Intergeschlechtlichkeit, zum Beispiel, wenn im Bauchraum einer vermeintlich weiblichen Jugendlichen angelegte Hoden entdeckt werden oder eine Prostata oder im Bauchraum eines vermeintlichen Jugendlichen eine Gebärmutter und oder Eierstöcke. In der Seelsorge stellt sich dann oft die Frage nach der eigenen Identität, nach einem möglichen Defizitär-Sein, nach göttlichem Schöpfungshandeln, nach einem Umgang mit in diesem Fall in der Regel schon erlebten Leiderfahrungen medizinischer und sozialer Art, nach Freund*innenschaften und Beziehungsoptionen und nach Vertrauen, auch nach einem biologisch eigenen und möglicherweise nicht erfüllbaren Kinderwunsch.

Trans*geschlechtliche Kinder äußern ihr Geschlechtlichkeitsempfinden teilweise schon im Kindergartenalter bzw. kurz nach dem Spracherwerb und dem Erkennen des eigenen Selbst als Ich. Andere finden im Laufe der Kindheit oder Jugendzeit Worte dafür, bei vielen ist der Beginn der Pubertät ein elementarer Einschnitt, der eine deutliche Verschlechterung des Befindens mit sich bringt, so dass in dieser Phase nach einer Diagnose und entsprechenden Worten gesucht wird. Seelsorge kann hier durch gemeinsam verbrachte Zeit, das Bereitstellen eines Raums der Annahme, Offenheit und Sicherheit, durch Zuwendung und Ermutigung Unsicherheiten mit aushalten oder gar zu Mut, Selbstbewusstsein und Selbstvertrauen verhelfen. Seelsorge kann mit nach stimmigen Worten und nach guten Umgangsweisen suchen und mit aushalten, dass es in der Regel keine schnellen und einfachen Lösungen gibt, sondern eher lange und in Teilen auch leidvolle Wege bevorstehen. Seelsorge kann Resonanzraum und auch Ausagitationsraum für alle Gefühle sein, die sonst keinen Raum haben oder als sozial unbequem und unangenehm empfunden werden. Seelsorge kann zudem einzelne Schritte begleiten, mitfeiern und eine stabilisierende Funktion übernehmen. Medizinisch stellt sich vor der Frage nach Operationen die Frage nach der Gabe von Hormonen bzw. Hormonblockern, die den Eintritt in die Pubertät verhindern und damit auch die Ausbildung körperlicher Merkmale unterdrücken, die als unstimmig mit der eigenen Geschlechtsidentität empfunden werden. Da Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren solch weitreichende Entscheidungen nicht ohne Einverständnis Erziehungsberechtigter umsetzen können, sind sie hier auf besondere Unterstützung angewiesen. Eine weitere Form der Genderqueerness, die viele queere Personen dem trans*Spektrum zuordnen, ist die Nicht-Binarität, also das eigene Sich-nicht-einordnen-Können und/oder -Wollen innerhalb der binären Mann-Frau-Unterteilung. Auch hier kann Seelsorge eine begleitende, stabilisierende und anerkennende Funktion dieser ‚In-between-Identität‘ haben.

Seelsorglich ist hier also wichtig, neben dem Kind oder der jugendlichen Person auch das Umfeld im Blick zu haben, von dem die Person abhängig ist. Dabei gilt es, die Sorgen, Ängste oder Hoffnungen und Freuden des Umfeldes nahezu ebenso stark wahrzunehmen wie die Emotionen des Kindes bzw. der jugendlichen Person selbst, da das Kind bzw. die jugendliche Person nicht vollumfänglich selbstbestimmt und eigenständig agieren kann, sondern dies immer im Kontext, in Abhängigkeit und in der Regel auch unter dem Einfluss ihres Umfeldes tut. Queer-sensible Seelsorge an Kindern und Jugendlichen ist entsprechend auch system-sensible Seelsorge.


Queer-sensible Seelsorge als System-sensible Seelsorge

Das System, in dem ein queeres Kind oder eine jugendliche Person lebt, besteht aus selbst und eher selbst gewählten und gesetzten und eher gesetzten Anteilen. Selbst gewählt ist in der Regel der Kreis der Freund*innen. Auch Sport- oder andere Vereinskamerad*innen sind eher selbst gewählt, dazu die Zugehörigkeit in Jugendgruppen, Schularbeitsgemeinschaften, in temporären Gemeinschaften wie dem Tanzschulkurs oder dem Ferienlager. Gesetzt sind hingegen die personelle Situation und Konstellation, in die ein Kind hineingeboren wird. Eher gesetzt sind dazu der Wohnort und damit verbunden alle lokalen Gegebenheiten wie der Schulbezirk oder auch die Zugehörigkeit zu einer Kirchengemeinde. An den Stellen im System, in dem das Kind oder die jugendliche Person die größtmögliche Entscheidungsfreiheit hat, wer wie eng ins System eingebunden ist, sind in der Regel elementare stabilisierende Ressourcen zu vermuten, da hier die entsprechende Person selbst entscheidet: Wer tut mir gerade wie gut? Mit wem fühle ich mich sicher? Hier geraten Freund*innen und Personen, die das eigene Empfinden teilen (z. B. in Selbsthilfegruppen) besonders in den Blick.

In jedem Fall spielt jedoch die Familie, selbst wenn sie abwesend ist, eine zentrale Rolle, da Abstammungsfragen und Identitätsfragen einen hohen Konnex aufweisen und Familie da, wo sie funktioniert und trägt, neben familiärer Vergangenheit und Traditionen auch eine Gegenwartsklärung und Zukunftsorientierung bietet. Daher ist häufig auch das Coming-out in der Urspungsfamilie einer der elementarsten Schritte in queeren Biografien. Eine länger begleitende Seelsorge würde früher oder später also immer auch nach der Ursprungsfamilie fragen, da die Annahme oder Verletzungen durch sie eine besondere Qualität haben.

In weiteren sozialen Systemanteilen wie der Schule oder dem Sportverein ist es in der Regel hilfreich, nach Verbündeten zu schauen: Wer kann wie stabilisierend und unterstützend da sein, wenn es einmal eine ungute Situation geben sollte? Wer darf was wissen, wer ist vertrauenswürdig? Sobald pro sozialem Teilsystem eine solche Person oder Personen identifiziert sind, wird das Teilsystem in der Regel als deutlich sicherer und damit angenehmer erlebt als zuvor.


Queer-sensible Seelsorge in Abgrenzung zur „neuen Rechten“ und anderen queer-feindlichen Strömungen

„Dass Gender-Fragen sich zu einem einflussreichen Faktor rechtspopulistischer Bewegungen entwickelt haben, ist spätestens seit dem Erstarken der AfD und ihrer geschlechterpolitischen Profilierung im bundesdeutschen Parteienspektrum unübersehbar“4  – so lautet die Eingangsthese von Ruth Heß und Antje Buche in der Publikation zu Antifeminismus des Studienzentrums der EKD für Genderfragen „In a Nutshell“. Queere und genderbezogene Themen haben eine politische Dimension und werden politisch instrumentalisiert. Hier gilt es, eine theologische Wachsamkeit zu entwickeln: Wer behandelt Fragen nach Gender und Queerness mit welchem Impetus, mit welchen versteckten Agenden und welcher Zielsetzung und auch unter welchen Deckmänteln? Menschen, die z. B. queere Personen ‚gesund beten‘ wollen und Konversionstherapien anbieten, stehen für eine Theologie, die mit Queer-sensibler Seelsorge nicht vereinbar ist. Konversionstherapien gehören zu einer queer-feindlichen, da Queerness ausmerzen wollenden ‚Seelsorge‘ und somit in den Bereich spiritueller Gewalt und geistlichen Missbrauchs und sind in Deutschland gesetzlich verboten. Nicht immer, aber durchaus immer öfter und öffentlicher auffindbar verbinden sich solche ,theologische Positionen‘ mit rechtspopulistischen Narrativen.

Das Erstarken einer extremen Rechten findet sich auch im Kontext der queer-sensiblen Seelsorge wieder: Einerseits können religiöse Auslegungen und Motive des Anti-Gender-Diskurses5  Thema eines Seelsorgegespräches sein oder andererseits Gewalterfahrungen mit rechten Akteur*innen – sei es digital, sei es auf der Straße – Thema sein. Selbst wenn die politische Dimension nicht – wie in den eben genannten Beispielen – explizit vorkommt, so bleibt es doch implizit Teil des gesellschaftlichen und somit seelsorgerlichen Settings und hat Anteil an dem sog. „Minderheitenstress“6 , den queere Menschen tagtäglich erleben.

Ein grundständiges Wissen über die Zusammenhänge und Brückenfunktion von religiös-christlicher und rechter Rhetorik und Diskursverschiebung sowie die potenziellen Implikationen und Gefahren für queere Menschen ist unseres Erachtens genauso wichtig wie eine klare Abgrenzung und Haltung gegen rechte Akteur*innen.7

Queer-sensible Seelsorge benötigt wie nahezu jede spezifische Seelsorge also neben einer entsprechenden Haltung und poimenischem Handwerkszeug ein gewisses Basiswissen über queere Lebensrealitäten und ihre Bedingungen, eine Wachsamkeit für die Systeme, in denen eine queere Person lebt, und die Geduld bzw. ein Verständnis für die Langfristigkeit bestimmter Entwicklungen (Prozesssensibilität).8

Anmerkungen

  1. Dieser Abschnitt wird in leicht abgewandelter Form in einer Arbeitshilfe zur Queer-sensiblen Gemeindearbeit erscheinen, die zurzeit (Juni 2025) von einer Arbeitsgruppe im Auftrag der Landessynode der Ev.-luth. Landeskirche Hannovers erarbeitet wird.
  2. Auch dieser Abschnitt wird in leicht abgewandelter Form in der Arbeitshilfe erscheinen, die in Fn. 1 genannt wird.
  3. Ein erschütterndes wie gegenwärtiges Beispiel für diese Seite eines geouteten Lebens ist die Geschichte von Muhis Hendricks, einem schwulen Imam und Person of Color, der im Februar 2025 auf offener Straße ermordet wurde, Vgl. Söderblom, Rest in Peace and Power! (06.06.2025).
  4. Heß; Buche: Anti-Gender – Antifeminismus, 1.
  5. Zum Zusammenhang von Religion und Anti-Gender-Diskurs vgl. ebd.
  6. Eine kurze Einführung in das Thema Minderheitenstress im Kontext queersensibler Seelsorge gibt Söderblom, Queersensible Seelsorge, 60–62.
  7. Literaturempfehlung: Probst u.a. (Hg.), Topoi und Netzwerke der religiösen Rechten. Strube u.a. (Hg.): Anti-Genderismus in Europa; Hark / Villa (Hg.): Anti-Genderismus.
  8. Zur Vertiefung: Söderblom, Queersensible Seelsorge. Zum Hintergrund / zur Worterklärung: Becker / Wenzel, Was ist eigentlich dieses LGBTIQ*?

 

Literatur

  • Becker, Linda; Wenzel, Julian: Was ist eigentlich dieses LGBTIQ*?, 2. Aufl., Hamburg 2021
  • Hark, Sabine / Villa, Paula-Irene (Hg.): Anti-Genderismus. Sexualität und Geschlecht als Schauplätze aktueller politischer Auseinandersetzungen, Bielefeld 2015 (Open Access)
  • Heß, Ruth / Buche, Antje: Anti-Gender – Antifeminismus, In a Nutshell #3 (2022)
  • Probst, Hans-Ulrich / Gautier, Dominik / Ritter, Karoline; Jacobs, Charlotte (Hg.): Topoi und Netzwerke der religiösen Rechten. Verbindende Feindbilder zwischen extremer Rechter und Christentum, Bielefeld 2024 (Open Access)
  • Söderblom, Kerstin: Rest in Peace and Power!, URL: https://kurzlinks.de/4et0 (09.08.2025, Content Note: Gewalt und Queerfeindlichkeit)
  • Söderblom, Kerstin: Queersensible Seelsorge, Göttingen 2023
  • Strube, Sonja A. / Perintfalvi, Rita / Hemet, Raphaela / Metze, Miriam / Sahbaz, Cicek (Hg.): Anti-Genderismus in Europa. Allianzen von Rechtspopulismus und religiösem Fundamentalismus. Mobilisierung – Vernetzung – Transformation, Bielefeld 2021 (Open Access