Welche Rolle spielt Religion für Bildung?

Von Rolf Wernstedt

 

I.

Wenn man die Frage, welche Rolle die Religion für Bildung spielt, beantworten will, ist man sofort gezwungen, auf die Komplexität der Begrifflichkeit und ihrer gegenseitigen Beziehung hinzuweisen. Denn weder ist endgültig zu bestimmen, was Religion noch was Bildung ist. Es kann also nur um einen Annäherungsversuch gehen.

Grundsätzliches zur Religion

In allen Völkern und zu allen Zeiten hat es Religion gegeben. Man kann sogar behaupten, dass es keine Menschheitsgeschichte ohne Religion gibt. Denn da der Mensch bis heute nicht alles wissen und sich rational erklären kann, ist er zu Versuchen gezwungen, für unbeantwortbare Fragen, die mit der Existenz, dem Sinn des Lebens, des Todes und der Sterblichkeit, der Angst, der Hoffnung, des Leides, des Zusammenlebens, der geltenden Werte etc. zusammenhängen, Antworten zu finden und sein Leben danach einzurichten. Das führt zu ganz verschiedenen Antworten, in denen immer das Moment des Glaubens dominierend ist. Das Ergebnis sind die unterschiedlichsten Formen und Religionen.

Die monotheistischen Religionen (Judentum, Christentum und Islam), mit denen wir es intensiver zu tun haben, haben ihren zentralen Ansatz in dem Glauben, alles in Zeit und Raum gründe in einem Gott. Dessen Offenbarungen sind für jeden Menschen bindend, so dass er sich in seinem Verhalten immer an dessen geglaubten Erwartungen auszurichten habe.

Die Grundlage dieser Religionen sind die Texte des Alten und Neuen Testaments und der Koran. Da die Texte in zentralen Aussagen nicht eineindeutig sind und auch Widersprüche enthalten, sind die Erscheinungsformen innerhalb der Religionen unterschiedlich. Grob gesagt kann man formulieren, dass in der Bibel Gottes Wort im Menschenwort erscheint und damit der Interpretation zugänglich ist. Im Unterschied dazu gilt für viele Muslime der Koran als unmittelbare Verlautbarung Gottes (Allahs), so dass es nur den wortgetreuen Gehorsam geben kann.

Über die konkreten Formen des Respektes vor Gott in kirchlichen Zusammenhängen (Gebete, Gottesdienste etc.) und im Lebensvollzug befinden die jeweiligen Religionsgemeinschaften und ihre religiösen Instanzen.

Grundsätzliches zur Bildung

Bildung ist mehr als Wissen, aber ohne Wissen ist keine Bildung möglich. In dieser These steckt die Erfahrung, dass das bloße Ansammeln von Wissen nicht gebildet macht. Überspitzt kann man sagen, dass ein Lexikon oder Wikipedia über viel mehr Informationen verfügen, als ein Mensch jemals haben kann, aber dass damit beide nicht bildend sind. Es kommt darauf an, ob man das, was man weiß, verstanden hat, wenn man damit umgeht. Die Beherrschung von Grundwissen in Lesen, Schreiben und Rechnen sowie möglicherweise Sprachen sind Voraussetzungen für die Ermöglichung von Wissenserwerb. Auch Grundkenntnisse in anderen Fachgebieten, die sich in der Regel in den Schulfächern abbilden (es können aber auch ganz andere Bereiche sein), sind für Bildung förderlich und anregend.

Die pädagogische Diskussion der letzten 200 Jahre hat sich darum gedreht, möglichst vielen Heranwachsenden ein Mindestquantum an Wissen zu vermitteln und bei den Gymnasien darüber hinaus gesellschaftlich und politisch wünschenswerte Kenntnisse zu verankern. Die Erfüllung eines solchen Kanons sollte die Gesellschaft strukturell abbilden. Dagegen wandte sich mit dem ausgehenden 19. Jahrhundert die wachsende Arbeiterbewegung.1 Die Pädagogik hatte im Gefolge solcher Leute wie Pestalozzi schon im Blick, dass man vom Kinde aus zu denken habe, um wirklich Lernprozesse erfolgreich und lange zu kreieren.

Dennoch hat auch die quantitative Ausweitung von Kenntnissen und Wissen und ihre Widerspiegelung in den Abschlüssen der Schulen, die bis zum Abitur und zur Berufsreife führen, bis heute nicht dazu geführt, von einer gebildeten Gesellschaft zu sprechen.

Es hat eine bis heute anhaltende Diskussion darüber gegeben, wie man Lernprozesse an Schulen und Hochschulen möglichst lebendig und einfühlsam für die Adressat*innen machen könne. Das hat überall zu lebendigen und gegenüber der Paukschule aufgelockerten neuen Methoden geführt. Damit ist allerdings keineswegs ausgemacht, dass alle gelernt haben, in welchem Gesamtzusammenhang das Gelernte steht. Hat das Gelernte eine eigene Bedeutung? Ist es missbrauchbar? Was muss man noch wissen, um es irgendwo anwenden zu können? Hat es für mich oder für andere Menschen eine Bedeutung? Beantwortet es andere Fragen? Ist es förderlich für das weitere Lernen und die Urteilsfähigkeit?

Leichtes und lebendiges Lernen ersetzt nicht die Frage, was zu lernen ist und welche Bedeutung das Gelernte in einem größeren Zusammengang hat. Weder Vielwisserei noch Spezialistentum noch Spaßpädagogik erfüllen die Idee eines gebildeten Menschen.

Es ist in Deutschland von nicht zu unterschätzender Bedeutung, dass im Bildungsauftrag für die Schulen in fast allen Bundesländern auch vom Christentum die Rede ist. Im Niedersächsischen Schulgesetz heißt es im § 2: „Die Schule soll […] die Persönlichkeit der Schülerinnen und Schüler auf der Grundlage des Christentums, des europäischen Humanismus und der Ideen des liberalen, demokratischen und sozialen Rechtsstaats weiterentwickeln.“2


II.

Wenn man sich der Titelfrage nähern will, bedarf es ergänzender, vielleicht sogar entscheidenderer Überlegungen.

Es war bis zur Aufklärung in allen theoretischen und praktischen Aspekten von Bildung in unserem Kulturkreis unbestritten, dass man von einem festgefügten Weltbild ausgehen konnte, das im Wesentlichen christlich geprägt war. Die Institutionen der Kirche, ob orthodox, katholisch oder dann auch reformatorisch, sahen es als selbstverständlich an, dass sich alle Lerngegenstände und zu lernenden Fähigkeiten an die kirchlichen Vorgaben zu halten haben. Sie stabilisierten damit die kirchlichen und politisch-gesellschaftlichen Strukturen.

Am kürzesten hat dieses Denken Johann Amos Comenius (1592 bis 1670) formuliert, als er forderte, dass omnia omnes omnino zu lernen hätten, also alle alles vollständig. So gut es gemeint war, so setzt es doch voraus, dass das Weltbild geschlossen und damit begrenzt ist.

Die Aufklärung mit ihrem Prinzip, nach Richtigkeit und Ursachen zu fragen, veränderte diese Sichtweise. Der Gebrauch der Rationalität, des Verstandes und darüber hinaus der Vernunft erfasste alle Bereiche des Lebens und der Erkenntnis. Dieser Prozess hält bis heute an.

Es ist Gottfried Wilhelm Leibniz (1646 bis 1716), der genau im Schnittpunkt dieser Entwicklung steht. Er war gottgläubig, konnte aber die festgefügten und gedankenlosen Predigten seiner Pastoren nicht ausstehen. Zugleich hat er in unvorstellbar vielen Sachgebieten mit den Mitteln des mathematischen, technischen und konstruktiven Verstandes gearbeitet und gedacht. Seine Ratschläge umfassen fast alle denkbaren Sachgebiete naturwissenschaftlich-technischer, ökonomischer, politischer, ja sogar medizinischer Provenienz. Ohne seine Entwicklung des binären Zahlensystems würde auch heute kein Computer existieren.

Mit dem Fortschreiten der Rationalität im wissenschaftlichen Terrain des 18. und 19. Jahrhunderts etablierte sich auch die Haltung des Zweifels und die Praxis der Kritik. Diese machte natürlich auch nicht vor den ökonomischen und politischen Strukturen halt. Die Französische Revolution und ihre Auswirkungen kann man auch in diesem Kontext sehen.

Da sich die Kirchen in diesem Prozess sehr lange an die scharfe Trennung von Kirche und Staat hielten, waren auch kritische theologische Gedanken, die sowohl die Herrschaftsverhältnisse als auch erstarrte Formen kirchlichen Lebens betrafen, nicht erfolgreich.

Kritische Rationalität in den Schulen war erst im 20. Jahrhundert zu finden. Die Schulaufsicht in Deutschland unterstand noch bis 1918 den Kirchen. Und noch in den fünfziger Jahren gab es in der Bundesrepublik erbitterte Kämpfe um die sog. konfessionellen Schulen. Dabei ging es nicht um Religion, sondern um unterstellte Kirchengefolgschaft der Eltern und ihrer Kinder und damit um gesellschaftspolitische Fragen.

Religionsunterricht bestand bis dahin im Kern aus dem Kennenlernen biblischer Erzählungen und ihrer offiziellen kirchlichen Interpretation, dem Auswendiglernen kirchlicher Lieder und einiger Bibelstellen. Der jeweilige Vorbereitungsunterricht in beiden Kirchen, ob zur Erstkommunion oder zur Konfirmation, vertiefte diese Usancen.

Erst sehr spät begannen sich andere Fragestellungen auch im Religionsunterricht durchzusetzen. Die stetige Entfremdung weiter Teile der Kirchenmitglieder von ihrer Kirche – in der DDR war der Anteil kirchlicher Anhänger auf unter 20 Prozent der Bevölkerung gesunken – ist nicht gestoppt.

Vielleicht hängt diese Entwicklung auch mit der Nichterkennung oder gar Nichtachtung religiöser Potenziale für die Persönlichkeitsentwicklung zusammen. So richtig die Praxis ist, die Kenntnis der Struktur der Bibel, kultureller christlicher Manifestationen und der Botschaft christlicher Texte zu behandeln, so zweifelhaft ist die Verengung religiösen Denkens auf die ritualisierte Quellenausrichtung.

Im Begriff der Bildung steckt auch die Erwartung, dass man über die Rekapitulation von Wissen hinaus existenzielle Fragen ernst nimmt, die in jedem Alter, auch im Kindesalter, vorhanden sind. An dieser Stelle kann der Religionsunterricht eine unverzichtbare Verantwortung wahrnehmen. Religion thematisiert die Transzendenz, was kein anderes Fach weder in der Schule noch in der Hochschule noch in den beruflich-ökonomischen Alltagsverrichtungen vermag.

Kinder und Jugendliche haben Fragen, die man ihnen früher fälschlicher Weise abgesprochen hat. „Dafür bist du noch zu klein oder zu jung“, war die allfällige elterliche Abwiegelung. Solche sind beispielsweise: Was ist der Sinn des Lebens? Was geschieht nach dem Tod nicht nur der Menschen, sondern auch der Tiere? Kommt das geliebte Meerschweinchen in den Himmel? Welche Verantwortung habe ich mir selbst und anderen gegenüber? Gibt es einen Anfang und ein Ende der Welt? Wieso gelten bestimmte Regeln? Wieso gibt es Kriege? Wie verhalte ich mich fremden Menschen gegenüber? Welche Werte gelten für alle? Muss man immer perfekt sein, z.B. in Kleidung, Erscheinung, Sprache, Verhalten? Was bedeutet der Unterschied zwischen Mann und Frau, Mädchen und Jungen? Ist Gott männlich oder weiblich? Usw. Im Religionsunterricht kann neben den obligatorischen eng auf das Christentum (oder andere Religionen) bezogenen Fragen der Horizont der Inhalte weit geöffnet werden. Es sind Fragen, die nur ansatzweise und anlassbezogen in anderen Fächern zur Sprache kommen (im Literaturunterricht, der Kunst, der Musik o.ä.).

Es geht um die „Mehrdimensionalität von Bildung, die auch menschlich wertvolle und gesellschaftlich wichtige Fähigkeiten wie Phantasie, Originalität, Verantwortungsgefühl, Kooperationsfähigkeit sowie moralische und soziale Empfindsamkeit“ beinhalten.3 Deswegen ist es wichtig, darauf hinzuweisen, dass es nicht ausreicht, die Menschen möglichst sachlich und zielgerichtet zu unterrichten, sondern auch die Fragen zu berücksichtigen, die darüber hinausgehen. Es ist konstitutiv zu wissen, dass es „für die Frage nach Gott ebenso wenig eine Halbwertzeit gibt wie für alle philosophischen, ethischen und historischen Grundfragen“.4

Die religionspädagogische Debatte hat sich in den letzten Jahren intensiv um die Frage gekümmert, wie man mit Kindern und Jugendlichen in religiösen Dingen umgehen sollte. Heutige Heranwachsende sind durch neue Medien und vielfache interkulturelle Begegnungen in Kindergärten, Schulen, Jugendeinrichtungen und anderen Gruppen vielfältigen Einflüssen und Erfahrungen ausgesetzt. Deswegen ist ihnen vielfältige kulturelle Begegnung selbstverständlich. Die entscheidende Frage dabei ist freilich, welche eigenen Überzeugungen und Selbsteinschätzungen für die einzelnen Kinder und Jugendlichen gelten. Diese Dimension ist heute deswegen noch drängender als in früheren Zeiten, weil sich im Gefolge dominierender ökonomischer und demokratisierender Verhältnisse die Tendenz zur Individualisierung verstärkt hat. Wenn Menschen nicht gelernt haben, gedanklich und sprachlich mit Zweifeln, Unsicherheiten und möglichen Antworten umzugehen, bleiben sie orientierungslos und sind anfällig für irrationale und vereinfachende Erklärungen und Lösungen.

Religion ist für alle Gläubigen die Dimension, in der durch den Verweis auf Gottes Willen Hoffnungen zum eigenen und fremden Überleben hervorgerufen werden. Da wir aber weder Rationalität noch Zweifel aus dem Kopf bekommen können und sollen, kommt das Paradox zum Vorschein, dass man in der Religion deswegen so viel Halt bekommen kann, weil man gelernt hat, mit dem Zweifel umzugehen. Der Gläubige und der scheinbar Ungläubige sind gehalten, Zweifel nicht mit Gewissheiten zu leugnen, sondern auszuhalten. Der christliche Glaube hat dabei anzubieten, dass er aus dem Transzendentalen des Gottesverständnisses in der Gestalt von Jesus Christus die grundsätzliche Liebe Gottes zu ihm voraussetzen kann. Dieses Vertrauen schließt auch die „Sünde“ ein, d. h. Verfehlungen jeglicher Art.

Dass dies in Freiheit geschieht, ist ein belastendes, aber eben auch befreiendes Geschehen. In den aktuellen weltumspannenden Auseinandersetzungen kann deswegen Religion hilfreiche Perspektiven für die Menschen bieten, die handeln müssen und Verantwortung tragen, aber auch ihr alltägliches Leben gestalten. Sie lernen dabei, dass es unzureichend ist, nur für sich als Einzelnen und seine unmittelbare verwandtschaftliche oder nachbarschaftliche Umgebung da zu sein und zu denken, sondern auch darüber hinaus.

Beispiele:

1. Aktuelle Fragen des Rassismus haben eine religiöse Dimension. Ohne Verweis auf die Gleichheit aller Menschen vor Gott wäre die grundgesetzliche Setzung, dass die Würde des Menschen (d.h. aller Menschen) unantastbar ist, nur eine politische. Die Menschenrechte ebenso.

2. Die immer wieder auftauchenden Zeichen des Antisemitismus sind ohne religiöse Dimension nicht glaubwürdig behandelbar. Die dogmatische Auslegung der alten Kirche, den in der Bibel beschriebenen Tod Christi für antijüdische Propaganda zu missbrauchen, haben tiefsitzende Ressentiments begründet.

3. Auch die massiven Ausbrüche von Fremdenfeindlichkeit müssen sich auf ihre unaufgeklärten religiösen Vorstufen befragen lassen. Wer gibt einem Menschen das Recht, sich anderen Menschen nur wegen ihrer Herkunft, ihres Aussehens, ihrer Kultur oder anderer fremd erscheinender Haltungen, gehässig und feindselig zu betragen? Dass man in einer Welt ungeheurer Mobilität und millionenfacher Migration sich rational und aktiv handelnd zu bewegen hat, ist eine Setzung, die säkular und/oder religiös begründet werden muss. Das bedeutet eben nicht, sich nur bemitleidend zu benehmen.

4. Der Klimawandel hat selbstverständlich insofern eine religiöse Dimension, als es um die Bewahrung der Lebensbedingungen auf dieser Welt geht. Christlich gesprochen geht es um die Schöpfung. Das betrifft nicht nur die eigenen Nachkommen, sondern alle Menschen und Lebewesen. Es stellt sich die Frage, welche Werte gegenüber der ganzen Welt gelten sollen, wenn alles Leben in Gefahr gerät. Religiöses Denken hat es immer mit dem Wissen darüber zu tun, dass alle Entscheidung nur vorläufig gültig ist. Das schützt vor Dogmatisierung und heilsversprechender Ideologie.

5. Die Corona-Krise hat wie kaum ein anderes weltumspannendes Ereignis nach dem Zweiten Weltkrieg gezeigt, wie verletzlich und damit vorläufig unser Leben ist. Die Nähe des pandemisch begründeten Todes erinnert an die Unverfügbarkeit unseres Daseins. Das schließt das Bewusstsein ein, dass trotz aller lobenswerten Anstrengungen von Medizin und Politik und aller disziplinierten Haltung aller Menschen es keine ewig geltende Sicherheit gibt.

Es wäre also fatal, wenn wir glaubten, wir könnten ein gebildetes Leben repräsentieren, wenn wir die religiöse Dimension ausschließen. Ohne transzendentale Dimension und Werte, die in Freiheit und Selbstkritik ausgehandelt werden, bleibt alles fragil.

Anmerkungen

  1. Wilhelm Liebknechts Rede: Wissen ist Macht (1872), Berlin 1904, ist verfügbar unter https://reader.digitalesammlungen.de//de/fs1/object/display/bsb11128194_00005.html (letzter Zugriff 15.7.20).
  2. www.schure.de/2241001/nschg.html (letzter Zugriff 29.07.2020).
  3. Vgl. Kirchenamt der EKD (Hg.): Maße des Menschlichen. Evangelische Perspektiven zur Bildung in der Wissens- und Lerngesellschaft. Eine Denkschrift, Gütersloh 2003, 19.
  4. A.a.o., 2