All the good girls go to hell – Die Enden der Religionskritik in der Popkultur

Von Andreas Mertin

My Lucifer is lonely – Mein Luzifer ist einsam, singt Billie Eilish in ihrem Ende 2019 veröffentlichten, endzeitlich zugespitzten Song „All the good girls go to hell”. Das Lied der 2001 geborenen Künstlerin ist ein Indiz dafür, dass die bisher vertraute Religionskritik in der Popmusik an ihr Ende gekommen ist. Selbstverständlich gibt es diese Kritik an der Religion weiterhin, aber sie ist rhetorisch trivialisiert, eine bloße Chiffre im Symbolreservoir kritischer Popmusiker. Stattdessen steht heute nicht mehr die Religion in Frage, sondern die gesamte Menschheit: Man is such a fool / Why are we saving him? Es ist, als ob Satan im Buch Hiob den Menschen nicht mehr als satisfaktionsfähig ansehen würde. Warum noch mit Gott um den Menschen streiten?

Der Religionskritik in der Popmusik geht es ein bisschen so wie der modernen Kunst am Ende des 20. Jahrhunderts. Nach 1945 war die Zuwendung zur zeitgenössischen Kunst ein Modernitätserweis. Die „Alten“, also die ästhetisch im Nationalsozialismus Sozialisierten, konnten mit zeitgenössischer Kunst nichts anfangen. Deshalb wendete sich die junge Generation dezidiert moderner Kunst zu, um zu zeigen, dass man selbst liberal und modern war. In dem Moment, in dem auch die Älteren begannen, sich der Moderne zu öffnen und in Ausstellungen zeitgenössischer Kunst zu gehen, war der Modernitätserweis durch Hinwendung zur avantgardistischen Kunst hinfällig. Kunst war nun etwas für Yuppies und Reiche. Jugendliche mussten sich andere Abgrenzungsstrategien suchen.

Mit der Religion und der Religionskritik im popkulturellen Sektor verhält es sich ähnlich. Solange in der Gesellschaft und der Kultur Religion eine etablierte soziale Größe war, gehörte es zum Prozess der jugendlichen Selbstfindung wie auch der Akzentuierung als popkulturelle Avantgarde, dass man sich kritisch zur Religion verhielt. Noch die scheinbar religionskritischen, eigentlich aber an Modernisierung interessierten Impulse Madonnas aus den 1980er-Jahren (Like a prayer) gehören in diese Kategorie der Ichfindung durch Abgrenzung. Aber schon bei den Rolling Stones war es Ende der neunziger Jahre nur noch Attitüde, als sie sangen: You‘ll never make a saint of me. Niemand würde Mick Jagger und Keith Richards den Heiligenschein glauben. Und der dazugehörige Videoclip erwies das Ganze als Schmierenkomödie, wirkliche Religionskritik sieht anders aus.

Niemand profiliert sich in der Popmusik heute mehr durch Religionskritik. Natürlich, in der Heavy-Metal-Musik gehört es weiterhin zum routiniert abgespielten Standard, und manche alt gewordenen Bard*innen wie Lisa Fitz meinen, sie müssten sich immer noch an der Religion reiben. Aber für die nächste und jüngste Generation steht längst etwas anderes auf dem Spiel: das Anthropozän selbst. Und angesichts dessen geht es darum, ob die alte Rede von Himmel und Hölle, Gott und Teufel, ja von Religion oder Kirche überhaupt noch in irgendeinem Sinn hilfreich sein kann, um die Gegenwart zu verstehen und konstruktiv zu verändern.

Was lässt sich also noch sagen, um auf Billie Eilish zurückzukommen, wenn auch die gutwilligen Mädchen keine Chance haben, der Hölle, heute der Erde, zu entrinnen? Die alte religiöse wie religionskritische Rede lebte davon, dass man noch wählen konnte, so dass die Rede vom Himmel noch eine Option war. Das scheint nicht mehr gegeben: heaven’s out of sight. Nicht weil die Religionen nichts zu sagen hätten oder die Religionskritik sich bei der Entzauberung der Welt durchgesetzt hätte, sondern, weil es bald nichts mehr zu retten gibt.

Billie Eilish scheint nun nahezulegen, man könne doch Göttin und Teufel, Religiöse und Religionskritiker*innen, Gläubige und Atheist*innen in dasselbe Boot holen, um die Erde und die Menschheit zu retten. Aber selbst das ist zu optimistisch gedacht. Vielmehr singt sie, die Göttin sei so verzweifelt, dass sie selbst mit dem Teufel paktieren würde:

‘Cause even God herself has enemies

And once the water starts to rise

And heaven‘s out of sight

She‘ll want the devil on her team.

Diesen Gedanken, der für manchen in fundamentalistischen Gemeinden immer noch blasphemisch ist, plausibilisiert Eilish in ihrem Videoclip, indem sie eine Bildmetaphorik der Christenheit aufgreift, die die Menschen über Jahrhunderte fasziniert hat und die Eilish nun neu liest und re-aktualisiert: die Erzählung von den gefallenen Engeln. Populärkulturell ist diese Erzählung hoch ironisch in einigen amerikanischen Fernsehserien und Kinofilmen beheimatet. In der Serie „Lucifer“ (nunmehr in der 6. Staffel bei Netflix) hilft der gelangweilte Luzifer der Polizei beim Aufklären von Verbrechen. In der Fantasy-Satire „Dogma“ wollen zwei gefallene Engel auf Teufel komm raus wieder zurück in den Himmel. All das hat kein intellektuelles Format, es tut nur so, als ob es religionskritisch wäre, ist aber durch und durch Kulturindustrie.

Das ist bei Billie Eilish anders. Zum einen beerbt sie von der religiösen Überlieferung den Tonfall der Ambiguität: Ihre Rede ist deutungsbedürftig, selbst ihre Fans sind nicht sicher, welche Schlüsse sie nun aus dem Text ziehen sollen (siehe die Kommentare der Leser*innen zum Lied auf Genius.com). Zum anderen hat Billie Eilish ähnlich wie einst die religiöse Überlieferung durchaus eine Botschaft: die Rettung der Menschheit vor dem Untergang durch den Klimawandel.

Und dennoch: Den religionskritischen Gestus, den wir etwa im Alten Testament gegenüber den Göttern der altorientalischen Umwelt vor Augen geführt bekommen, wendet Eilish nun auf die jüdisch-christlichen Überlieferungen selbst an: An ihren Früchten werdet ihr sie erkennen. Und so fragt sie: Wo ist der Glanz [= die orientierende Funktion] des himmlischen Jerusalem geblieben?

Peter‘s on vacation, an open invitation – Pearly gates look more like a picket fence. Von Bewahrung der Schöpfung keine Rede mehr, das perlenbesetzte himmlische Jerusalem ist zum ölverschmierten Vorstadtghetto mit Bauzaun geworden. Billie Eilish wendet mit anderen Worten die Macht der religiösen Sprache gegen die Religion.

Visuell knüpft das Musikvideo dort an, wo Eilishs vorheriges Video zu „Bury a friend“ (ebenfalls 2019) aufgehört hatte. Da waren der Künstlerin am Ende spektakulär zahlreiche medizinische Spritzen in die Schulter gerammt worden. Genau dort sprießen nun große Engelsflügel aus ihrer Haut. Einer spätmittelalterlichen Ikonographie (etwa bei Hieronymus Bosch) folgend, fällt Eilish (= Lucifer) dann als weißer Engel vom Himmel und schlägt als schwarzer Engel auf der Erde auf.

Der Engelssturz ist hier auf jeden Fall post-lapsarisch (nach dem Sündenfall), vermutlich aber eher apokalyptisch gedacht, denn die Welt, auf die Eilish stürzt, ist bereits die von der Menschheit ökologisch zugrunde gerichtete Welt: Lucifer fällt in eine tiefe Ölschlamm-Lache. Lucifer/Eilish kämpft sich daraus hervor und ihre nun ölgesättigten Federn geraten nach einiger Zeit in Flammen, ebenso wie die Welt um sie herum, in deren Feuer einige Gestalten/Teufel*innen tanzen. Der Weltenbrand – freilich eher ein Motiv der nordischen Mythologie – vollendet sich. Am Ende bleibt nur das Inferno – aber anders als bei Dantes Göttlicher Komödie gibt es wenig Aussicht auf ein reinigendes Purgatorium oder gar ein Paradies.

Wie soll man das lesen? Unter expliziter Aufnahme der christlich-orthodoxen Ikonografie zum letzten Buch der Bibel erklärt Eilish die engeren religiösen Fragestellungen für überholt. Wozu noch Heil und Heilsgeschichte, wozu der Kampf der Guten gegen das Böse, wenn doch die ganze Welt untergeht? Es ist als würde man aus einer klassischen Weltgerichtsdarstellung Jan van Eycks einfach den oberen Teil herausschneiden und nur die Hölle und den Tod übriglassen. Scheint es nicht so, als ob Gott sich angesichts des Anthropozäns endgültig von der Menschheit abgewandt hat? So könnte der Pre-Chor in Eilishs Song die Haltung Gottes spiegeln: Hills burn in California / My turn to ignore ya / Don‘t say I didn‘t warn ya.

Leicht erkennbar ist es das Szenario der Klimakatastrophe, das Eilish umtreibt, sozusagen der denkbare Worst Case eines von den Menschen selbstverschuldeten Endes der Erde. Hier vertritt sie eine Perspektive, die der Walter Benjamins nicht unähnlich ist: „Der Begriff des Fortschritts ist in der Idee der Katastrophe zu fundieren. Dass es ‚so weiter‘ geht, ist die Katastrophe. Sie ist nicht das jeweils Bevorstehende, sondern das jeweils Gegebene. Strindbergs Gedanke: Die Hölle ist nichts, was uns bevorstünde – sondern dieses Leben hier.”

Billie Eilish wird das vermutlich ähnlich sehen. Nur wendet sie sich von dem Gedanken ab, der Benjamin noch beflügelte: der Messianismus samt dem Gedanken eines heilsamen Abbruchs der Geschichte. Konkret: Wenn die Apokalypse keine religiöse ist, wenn die Plagen nicht gottgesandt, sondern menschengemacht sind, was bringt dann noch der religiöse Diskurs? Betreibt er nur noch öffentliche Theologie zur Befriedung des Streits um die einzuschlagenden Wege?

Unter das Video hat Eilish folgende Notiz gesetzt: A note from Billie: Right now there are millions of people all over the world begging our leaders to pay attention. Our earth is warming up at an unprecedented rate, icecaps are melting, our oceans are rising, our wildlife is being poisoned and our forests are burning.

Im binnenkirchlichen Kosmos wäre das unter dem Stichwort Konziliarer Prozess gelaufen. Davon gibt es bei Eilish keinerlei Spur mehr, keine Rede von Gott als Souverän der Welt oder als Anwalt der Armen und Benachteiligten, nicht einmal mehr als Instanz eines Appells oder einer Anklage. Und natürlich auch kein Jüngstes Gericht, nur noch eine menschengemachte Apokalypse. Insofern könnte man – trotz der Aufnahme von Symbolen aus der christlich-orthodoxen Ikonografie – ihren Song mit guten Gründen post-religiös nennen.

Religion und religiöse Ikonographie zitiert sie so, wie wir uns heutzutage auf die altägyptische oder die griechische Götterwelt beziehen. Und das mit Gründen: Peter‘s on vacation, an open invitation. Religion (die christliche Religion) bietet keine Differenzierungsperspektiven mehr, denn ‚Peter‘ ist hier auf die Schlüsselgewalt des Petrus bezogen. Und Petrus macht Urlaub und so kommt nicht einmal am Jüngsten Tag der Tun-Ergehens-Zusammenhang zur Geltung. Wozu dann Religion?

In der Sache ist und bleibt Eilish hier (religions-)kritisch, aber sie invertiert die Verhältnisse: My god is gonna owe me. Meine Göttin ist mir etwas schuldig. Aber eigentlich spielt das keine Rolle mehr. Stark finde ich die post-religiöse Religionskritik deshalb darin, dass sie nicht blind wie die Religionskritik des Rock’n’Roll gegen die etablierte religiöse Institution Kirche ankämpft, sondern dezidiert fragt: Wozu brauchen wir in der heutigen Lage noch Religion? Tritt für das singuläre Ich Religion überhaupt noch ins Blickfeld, braucht es Religion? Offenbar nicht. Und da ist es eben auch nicht überraschend, wenn selbst für den Youtuber und Pfarrerssohn Rezo das ökologische Engagement der Kirchen und Religionsgemeinschaften außer Sichtweite liegt, wie er in der ZEIT freimütig einräumte. Es erstaunte ihn, dass die da auch etwas tun. Zwar scheint das „Was“ der Religion irgendwie weiterhin klar zu sein (irgendwas mit Gott) und wird von den Religionen und ihren Institutionen auch vertreten, aber das „Wozu“ ist problematisch geworden, wenn die Singularitäten unserer Gesellschaft es einfach nicht mehr auf sich beziehen.

Und hier ist Billie Eilish wirklich „state of art“, denn diese Frage treibt auch junge Theolog*innen um. Wie können wir Religion plausibilisieren? Man könnte einwenden, zumindest liefere Religion noch jene Bilder und Forme(l)n, in der die gegenwärtigen Herausforderungen gespiegelt und zum Ausdruck gebracht werden können. Wie hätte Eilish denn ihre (An)Klage sonst ausdrucksstark zu Wort/ins Bild bringen können? Aber das ist kein wirklicher Trost, denn es bindet Religion an die großen Bilder/Formeln der Vergangenheit. Dann ergeht es ihr aber wie der ägyptischen oder griechischen Götterwelt. Auch diese haben ausdrucksstarke Bilder, nur eben kein Leben, sie werden nur noch als Chiffren genutzt oder werden allenfalls, wie Schiller in seinen Briefen zur ästhetischen Erziehung am Beispiel der Göttin Juno zeigt, ästhetisch goutiert: „Tolle Idee, das mit dem Engelssturz“.

Wolfgang Vögele hat diesen Prozess in einer Besprechung von Andreas Reckwitz‘ „Gesellschaft der Singularitäten“ im Magazin für Theologie und Ästhetik bündig so zusammengefasst: „Empirie … zeigt, dass die meisten Menschen in ihrer Alltagsethik ohne religiöse Dimension auskommen. Die Wertsetzungen des Kuratierens haben Religiöses und Theologisches eindeutig in die Schmuddelecke von Aberglaube, Sektierertum und Fundamentalismus abgedrängt. ‚Man‘ braucht das nicht mehr.“[1]

Als religiöser Mensch wird man sich damit kaum zufriedengeben können, man wird vielleicht daran erinnern, dass das, was die Klimabewegung heute fordert, schon seit Jahrzehnten Thema ökumenischer Versammlungen und Protestbewegungen ist. Das Problem ist, dass dies in der Lebensorganisation vieler Menschen immer weniger eine Rolle spielt. Es käme also darauf an, wie dieser „schleichenden Religionskritik“ begegnet werden kann. Die eingetretenen Pfade helfen nicht weiter, weder lehrt Not beten (wie die aktuelle Corona-Krise zeigt), noch helfen die Allianzen öffentlicher Theologie mit der öffentlichen politischen Vernunft. Erst wenn Religion sich in die Lebenswelt junger Menschen so plausibilisiert, dass sie von diesen auch wahrgenommen und ins eigene Lebensprogramm aufgenommen wird, würde diese Form der Religionskritik enden.


[1]   www.theomag.de/125/edit125.htm (16.07.20).