Dimensionen von Trost und Hoffnung sind nicht messbar

Von Ralf Meister

 

Das Metermaß wurde zur Messlatte und die Einhaltung staatlicher Vorgaben zum Brennpunkt einer Relevanzdiskussion: Kirche sei feige. Sie habe sich zurückgezogen und ihre zentralen Aufgaben nicht erfüllt. So lautete die Kritik in den Wochen des Lock-Downs. Populismus machte sich breit, leider auch am Rande der Kirche, der ohne Kenntnis der engagierten Arbeit in den Kirchengemeinden, den diakonischen Einrichtungen, den Schulen und Verbänden und zumeist frei von eigener Verantwortungsübernahme pauschal Kritik übte. Diese Kritik traf die christlichen Kirchen, die jüdischen und die muslimischen Verbände gleichermaßen zu Unrecht. Noch nie sind in einem so kurzen Zeitraum so viele neue Ideen zur religiösen Begleitung von Menschen entstanden wie im Frühling dieses Jahres. Gleichzeitig wurden in dieser Zeit auch Fehler gemacht. So bleibt für mich festzuhalten: Noch stärker hätten wir Partei ergreifen müssen für die, die unter den Kontaktverboten am meisten gelitten haben. Noch klarer hätten wir sprechen müssen für die, die keine Stimme haben.

Doch schwächt das die Relevanz von Religion? Die einen fragen, was Religion geleistet hat in diesen Krisenmonaten. Bei einer solchen Frage steht Religion neben der Wissenschaft, der Politik oder der Wirtschaft und übernimmt für eine Gesellschaft und für das Individuum bestimmte Funktionen. Ein solch funktionaler Religionsbegriff beschreibt die Außenseite der Religion. Die Frage nach Systemrelevanz sucht nach dem momentanen Zweck in einer Krise. Sie gräbt sich durch die gesellschaftlichen Phänomene und sucht nach rationalen und objektiven Nützlichkeitserwägungen.

Diese funktionale Beschreibung sagt nichts über die Binnenperspektive religiösen Bewusstseins aus. Niemand beginnt zu glauben, weil ihm die Nützlichkeit des Glaubens demonstriert wird. Ein substanzieller Religionsbegriff fragt nicht nach Nützlichkeit von Religion, sondern nach der Erfahrung des Glaubens. Diese Erfahrung in den Fokus zu nehmen heißt, religiöse Praxis lesen zu lernen. Dimensionen von Trost und Hoffnung in Krisenszenarien sind nicht messbar. Religiöse Praxis von Gebet, Seelsorge und Deutung des fragmentarischen Weltgeschehens lässt sich nicht von außen erschließen. Doch sie prägt ganze Kulturen: Was es für den Menschen heißt, als Bild Gottes geschaffen zu sein; welche Bedeutung die Erzählung vom Sündenfall für unsere Schuldkultur hat; welche Bedeutung die Psalmen für unseren Umgang mit Kontingenzerfahrungen haben; welche Bedeutung die zehn Gebote wie das Doppelgebot der Liebe für unser Sozialgefüge haben. All diese Erzählungen prägen unser Selbst-und Wirklichkeitsverständnis und tragen maßgeblich dazu bei, wie wir moralische Probleme wahrnehmen. Vermutlich wird auch diese Krise, wie schon andere in der Vergangenheit, die Pluralisierung und Individualisierung religiösen Bewusstseins befördert haben. Das ist kein Verlust, sondern das Wirken des Heiligen Geistes. Dass dabei die Kirche als Institution ihren diakonischen Auftrag sehr ernst genommen hat, den Schwächsten zur Seite stand und deren Gefährdung minimieren wollte, ist keine Schwäche, sondern ihre Stärke gewesen.

Religionen verwalten ein uraltes religiöses Symbolkapital, das existenzielle Deutungsmuster für Menschen beinhaltet. Dieses Kapital muss in einem säkularen Staat kommuniziert werden. Das bleibt unser Auftrag. Der Begriff der „Systemrelevanz“ wird vermutlich das Unwort des Jahres 2020 sein. Weil es bedeutend machen wollte, was nützlich sei. Dabei wird gerade diese funktionale Beschreibung menschlichen Miteinanders durch religiöses Handeln zerstört. Eine Gesellschaft, die sich zerteilt in einem Schema der Systemrelevanz, verliert jedes Menschenmaß. Der Anspruch, eine Bedeutung zu haben, ist herausfordernd. Der Antrieb, etwas verändern zu wollen, ist motivierend. Die Einsicht, dabei fehlerhaft und lernend zu bleiben, ist mühsam. Dankbar bin ich allen, die in unseren Kirchen die Bedeutung Gottes für die Humanität in unserer Gesellschaft in diesen Krisenmonaten großgemacht haben. Nicht weil sie in einem System relevant sein wollten, sondern weil sie dem Nächsten dienten und Gott darin die Ehre gaben.