Zum Überwinden von Krisen müssen wir lernen, mit G‘tt zu hadern, zu ringen

Von Gábor Lengyel

 

Wir sind verletzt! Wir, die häufig pathetisch betonen, dass wir unsere Tätigkeit in Kirchen und Synagogen als eine „göttliche Berufung“ empfinden, erfahren in der Corona-Zeit etwas „Unerwartetes“. Bei der Definition der sogenannten „systemrelevanten Berufe“1  erfahren wir, dass wir Pastor*innen und Rabbiner*innen „nicht systemrelevant“ sind. Warum?

Eine rabbinische Weisheit lehrt: Eines Tages wird in Sassow in Galizien ein reicher Mann in Verruf gebracht, ein Geizhals zu sein. Als der Rabbi das hört, lässt er den reichen Mann zu sich kommen. Er gibt dem Gast einen Handspiegel. „Was siehst du in dem Spiegel?“, fragt der Rabbi. „Ich sehe mich selbst“, erwidert der Mann. „Nun schau aus dem Fenster hinaus. Was siehst du jetzt?“ – „Ich sehe Menschen“, antwortet der Mann. Der Rabbi: „Fensterscheibe und Spiegel sind beide aus demselben Material – aus Glas. Worin liegt aber der Unterschied?“ Der reiche Mann schweigt. Der Rabbi erklärt: „Das Glas des Spiegels ist auf einer Seite mit einer Silberschicht bedeckt. Dieses Silber versperrt die Sicht nach außen, daher siehst du nur dich selbst. Das Glas der Fensterscheibe wird aber nicht bedeckt. Es ermöglicht dir, auch andere Menschen zu sehen.“

Um Ängste zu überwinden, beten wir zu G’tt2. Häufig zitieren wir dabei schöne Bibelverse, wie z.B.: „Fürchte dich nicht, denn ich bin bei dir.“3 Wir lesen Worte aus der Bibel: „Wenn ihr meinen Geboten gehorcht, die ich euch heute gebiete, den Ewigen zu lieben, euren G’tt, und ihm zu dienen mit eurem ganzen Herzen und mit eurer ganzen Seele.“4 Ich frage mich: Wie viele Menschen erreichen wir mit diesen wichtigen biblischen Versen?

In der Pandemie-Zeit erzählen wir: „Die Menschen brauchen jetzt Trost, Ansprache und Hoffnung. Zum Glück sind wir digital gut aufgestellt und können vieles über die sozialen Medien und andere Plattformen auffangen.“ Was sagen solche schönen Formulierungen für Menschen, die den Weg zu unseren Kirchen und Synagogen leider nicht finden?

Es ist gut und schön, dass so viele Online-Gottesdienste stattfinden, aber wo sind die kritischen Auseinandersetzungen mit Fragen wie: Ist diese Pandemie von G’tt gewollt? Wo sehen wir die Sinnstiftung dieser Epidemie?

Für mich persönlich ist es zu einfach, jetzt in der Pandemie zu sagen: “G’ttesdienst ist, Kraft und Segen zu tanken und G‘tt zu danken!“ Wobei – ich schätze die wenigen Menschen sehr, im Judentum zum Beispiel die Chassidim, welche mit vollem Herzen beten. Zum Überwinden von Krisen müssen wir auch lernen, mit G‘tt zu hadern, zu ringen, wie die folgende persönliche Geschichte es zeigt: Mein Vater hat Buchenwald überlebt und ist nach Palästina ausgewandert. Einmal ging er in Jerusalem mit einem sehr orthodoxen Rabbiner spazieren. Plötzlich fragte ihn der orthodoxe Rabbiner: „Hast du die Krematorien gesehen?“ Die Antwort kam schnell. „JA!“ Danach die zweite Frage: „Hast du auch den Rauch gesehen?“ „JA!“, lautete die Antwort. Schließlich die dritte Frage mit erhobenem Blick in den Himmel: „Hast du ihn auch gesehen?“ Mein Vater antwortete laut: „JA, Aber wie! Und ich habe mit ihm da oben laut geschimpft!“5

Wenn wir bereit sind, offen und ehrlich mit G’tt zu ringen und unsere Religionen kritisch zu sehen, dann können wir hoffen, dass wir eines Tages „Systemrelevanz“ erreichen können.

Anmerkungen

  1. www.bmas.de/DE/Schwerpunkte/Informationen-Corona/Kurzarbeit/liste-systemrelevante-bereiche.html
  2.      Diese Schreibweise ersetzt bewusst den Vokal – o mit einem Apostroph, weil im Judentum aus Respekt vor der Heiligkeit des Gottesnamen JHWH (Tetragramm) dieser ebenfalls nicht vokalisiert und nicht laut ausgesprochen wird.
  3.      Jesaja 41,10.
  4.      5. B.M./Dewarim 11,13 (aus dem Schmá Gebet).
  5.      Von meinem modern orthodoxen Lieblingsrabbiner in Israel, Rabbi Dr. Beni Lau.