Religionskritik bei Yuval Noah Harari

Von Andreas Behr

 

Yuval Noah Harari hat mit seinem Buch Eine kurze Geschichte der Menschheit und mit den beiden Folgebänden Homo Deus und 21 Lektionen für das 21. Jahrhundert drei Bestseller in Folge gelandet. In der christlichen Community wird Harari dabei als Religionskritiker betrachtet, was überraschen kann, da er die Religion kaum kritisiert und sie schon gar nicht einer kritischen Analyse unterzieht.

Harari beschreibt die Geschichte der Menschheit sehr überzeugend und widerspruchsfrei, ohne dass religiöse Konstruktionen dabei eine Rolle spielten. Die Geschichte der Menschheit ist in Hararis Darstellung eine Geschichte, in der Religion zwar vorkommt, schon allein, weil es sie nun einmal gab; die Menschheitsgeschichte kann aber erzählt werden, als würde es Gott nicht geben. Um sie darzustellen, braucht es einen Blick auf die Religion, aber es braucht keinen Gott.

Dies ist allerdings kein neuer Gedanke. Spätestens seit der Aufklärung wird versucht, Wissenschaft von Gott losgelöst zu betreiben. Ethische Überlegungen versuchen ohne Metaphysik auszukommen. Dietrich Bonhoeffer dachte angesichts der Säkularisierung darüber nach, wie man leben und denken (und glauben) könne „etsi deus non daretur“ (als wenn es Gott nicht gäbe). Thomas Altizer und in Deutschland Dorothee Sölle waren prominente Vertreter*innen der „Gott-ist-tot-Theologie“ bzw. des christlichen Atheismus. Eine Welt ohne Gott – kein neuer Gedanke.

Vielleicht ist ein anderer Gedanke von Harari deshalb stärker dafür verantwortlich, dass Christmenschen verunsichert auf seine Lektüre reagieren: Seine Geschichte der Menschheit, sowohl der Blick in die Vergangenheit als auch der Ausblick in die Zukunft, lässt jede Teleologie vermissen; das heißt, Geschichte läuft bei Harari nicht auf ein Ziel hinaus. Damit hat sie natürlich auch keinen Anfang, der dieses Ziel bereits anvisiert. Das Leben an sich und die Entwicklung des homo sapiens sind zufällig entstanden. Die Geschichte hat sich zwar auf eine Weise entwickelt, die eine Beschreibung einer logischen Abfolge zulässt, die aber sinnlos bleibt, das heißt, ihren Sinn nicht auf ein Ziel richtet.

Harari ist der Meinung, der Mensch könne sich selbst Ziele setzen und damit Sinn schaffen. Auch deshalb könne man den Menschen als homo deus bezeichnen, denn Sinnschaffung (in der Bedeutung einer Ausrichtung auf ein Ziel) wäre bisher den Göttern vorbehalten gewesen. Jetzt setze der Mensch Ziele, was bedeute, dass das Leben und die Geschichte an sich sinnlos seien.

Hararis Beschreibung ist aber nicht nur deshalb als Widerspruch zu religiösen Vorstellungen zu verstehen, weil er der Menschheitsgeschichte (und damit dem ganzen Universum) jeden Sinn abspricht, sondern auch, weil sich die Menschheitsgeschichte in weiten Teilen recht grausam liest. Die Menschheit macht sich die Schöpfung zunutze und zerstört sie dabei. Nur wenig pointiert gesagt, ist die Geschichte der Menschheit nach Harari ein seit 70.000 Jahren  währender Vernichtungskrieg des homo sapiens gegen jede Form von Leben. Was dem homo sapiens nicht nützt oder ihn gar gefährdet, wird vernichtet; was ihm nützt, z.B. Kühe, Schweine und Hühner, wird versklavt. Und damit kommt der Mensch durch; kein Gott greift ein.

Dass es Gott bzw. Götter nicht gibt, setzt Harari einfach voraus. Religion betrachtet er rein unter funktionalen Gesichtspunkten: Sie wird ihm da wichtig, wo sie erklärt, warum sich der Mensch auf eine bestimmte Weise entwickelt hat. Das ist erhellend zu lesen und entspricht wie alles, was der Historiker schreibt, dem Stand der Wissenschaft.

Nachdem sich, so Harari, die Sprache weit genug entwickelt hatte, war es dem Menschen möglich, auch fiktive Sachverhalte zu beschreiben, sich also Mythen und Götter auszudenken und darüber mit anderen in Kommunikation zu treten.2 Dies führte dazu, dass Menschen in der Lage sind, in großen Gruppen zusammenzuarbeiten: Ein von allen anerkannter Mythos schafft gemeinsame Ziele, aber auch Beweggründe, Handlungsweisen, Ethik und Orientierung. Das ist nachvollziehbar. Für einen Historiker ist es zudem sinnvoll, die Geschichte so weit wie möglich zu schreiben etsi deus non daretur.

Wäre Harari Religionskritiker, müsste er an dieser Stelle reflektieren, ob die Möglichkeit, sich einen Mythos und damit eine ganze Religion auszudenken und damit eine Fiktion auszugestalten, beweist, dass jeder Mythos und jede Religion grundsätzlich Fiktion sind. Dass der Mensch sich einen Gott ausdenken kann und dass viele Menschen dann kollektiv an diesen Gott glauben können und dass dieser Glaube als gemeinsamer Mythos dem Kollektiv Vorteile in der Entwicklung gegenüber anderen Tieren bzw. Menschen sichert – all das beweist nicht, dass es keinen Gott gibt. Und sei es auch nur, weil Fiktionen gelegentlich ungewollt die Wirklichkeit abbilden.3

Interessant ist, wie Harari Religion definiert: „Eine Religion lässt sich [...] als ein System von menschlichen Normen und Werten definieren, die sich auf den Glauben an eine übermenschliche Ordnung stützen.“4 Dazu gehöre, dass diese übermenschliche Ordnung „keinen menschlichen Launen entspringt und nicht auf menschliche Vereinbarungen zurückgeht.“5 Außerdem gehöre es zu einer Religion, dass sie „Normen und Werte aufstellt, die ihrer Ansicht nach bindend sind.“6

Harari diskutiert keine weiteren Möglichkeiten, wie Religion verstanden werden kann; so bleibt er einer einseitigen und unzureichenden Definition von Religion verhaftet. Oder anders gesagt: Hararis Definition von Religion ist stimmig und benennt eine wichtige soziale und entwicklungsgeschichtliche Funktion von Religion; möglicherweise berührt sie damit aber kaum das, was eine Religion im tiefsten Inneren ausmacht. Zumal die Funktion von Religion als ordnungsgebende Macht religionsgeschichtlich spät anzusiedeln ist. Die Rechtsbücher des Alten Orients zeigen, dass Normen und Gesetze vom König festgelegt und auch durchgesetzt wurden. Eine Gottheit legitimierte lediglich den König dazu, dies zu tun.7

Noch im Bundesbuch der Bibel, das sich im Buch Exodus niederschlägt, ist der Gott Israels weder Gesetzgeber noch Richter, „sondern allenfalls Garant und Hüter der Rechtsordnung“.8 Dass Gesetze auf einen göttlichen Gesetzgeber zurückgeführt werden, ist eine sehr späte Entwicklung. Auch danach bleibt es selbstverständlich, dass Gesetze sich ändern können oder ihre konkreten Ausführungen je nach Ort und Situation unterschiedlich gehandhabt werden können. Das heißt, im Blick auf die 70.000 Jahre1 währende Geschichte der Menschheit haben Mythen sicherlich früh zu gemeinsamen Narrativen geführt, die sich funktional auf die Entwicklung der menschlichen Zivilisation ausgewirkt haben. Ein Rechtswesen hat sich aber erst vor ca. 5.000 Jahren zu etablieren begonnen, dabei legitimierte eine Gottheit lange Zeit den König zur Gesetzgebung. Vor gut 2.500 Jahren wurde der Gedanke eines göttlichen Gesetzgebers in Israel etabliert. Erst damit entstanden, wenn man so will, die modernen Religionen, die Harari hier im Blick hat und deren Funktionalität er weit in die Vergangenheit zurück projiziert.

Harari bleibt auf der funktionalen Ebene: Für ihn ist Religion dafür da (gewesen), technische Probleme zu lösen, z.B. festzulegen, wann die beste Zeit für Saat und Ernte ist9, politische und ökonomische Entscheidungen zu treffen10 oder Identität zu stiften11. Im Gegensatz zu religiösen Menschen, die sich also diesen Problemen und Fragestellungen im Rahmen einer Religion zuwenden würden, stünden die säkularen Menschen, die auf solche Vorstellungen „vermutlich mit Spott oder Besorgnis“12 reagieren. Harari selbst würde sich den säkularen Menschen zuordnen, scheint aber dabei nur unzureichend das eigene Narrativ zu reflektieren. Denn auch für einen säkularen Menschen gilt: „[A]lle Massenidentitäten beruhen auf fiktionalen Geschichten, nicht auf wissenschaftlichen Fakten oder gar auf wirtschaftlichen Notwendigkeiten.“13 Worin aber unterscheidet sich dann Religion von „Wissenschaftsgläubigkeit“? Wählt diese doch auch ein Narrativ aus und weist damit andere Narrative ab: „Geschichte besteht nicht nur aus einem einzigen Narrativ, sondern aus Tausenden von alternativen Erzählungen. Indem wir uns entscheiden, eine davon zu erzählen, entscheiden wir uns auch, die anderen zum Schweigen zu verdammen.“14 Harari hat sich entschieden, die Geschichte der Menschheit aus geschichtswissenschaftlicher Sicht zu erzählen und nicht aus religionswissenschaftlicher Perspektive. Das ist legitim, aber noch keine Religionskritik.

Harari benennt nicht, aus welchen Gründen er religiöse Narrative nicht mehr für eine Diskussion als würdig erachtet, sondern er tut solche Narrative schlichtweg als veraltet ab. Für ihn als säkularen Menschen dient zur Orientierung nur noch die Wissenschaft, die bei ihm Züge einer großangelegten Wissensanhäufung trägt, die sich nebenbei bemerkt auch in alttestamentlichen Weisheitsschriften findet und bereits innerbiblisch als überholt und für die Orientierung als nicht tragfähig erweist.

Harari betont zu Recht: „Religionen, die den Bezug zu den technologischen Realitäten der Gegenwart verlieren, verlieren ihre Fähigkeit, die Fragen, die gestellt werden, überhaupt zu verstehen.“15 Das gilt dann aber auch andersherum: Wissenschaften, die nur dem wissenschaftlichen Narrativ folgen, verlieren womöglich den Bezug zu anthropologischen Realitäten und können deshalb menschliche Fragen – zum Beispiel nach dem Sinn – nicht mehr verstehen, geschweige denn etwas mit Antworten auf diese Fragen anfangen.

Nun ist für Harari die Sinnfrage auch gar nicht wesentlich. Die große Frage der Menschheit ist für ihn: „Wie beenden wir das Leiden?“16 Leid ist für Harari „die realste Sache auf der Welt“17. Hier zeigt sich besonders deutlich, was säkulare Menschen wie Harari von einem religiös denkenden Menschen unterscheidet: Für letzteren ist das Leid auch eine große Frage, womöglich sogar die größte, aber ihm geht es nicht um das wissenschaftlich rational erfassbare und ggf. messbare Leid, sondern um die Erfahrung, dass Leiden oft persönlich ist und kaum umfassend mit wissenschaftlichen Methoden erfasst und dann auch nicht mit diesen Methoden verringert werden kann. Wobei wissenschaftliche Erkenntnisse selbstverständlich viel Leid lindern können. Völlig offen bleibt bei Harari aber unter anderem die Frage, woran wir uns beispielsweise orientieren sollen, wenn es nicht möglich ist, alles Leid zu verringern. Diese Frage taucht ja nicht erst dann auf, wenn nur ein Beatmungsgerät für zwei Corona-Kranke zur Verfügung steht. Ist es besser, die Summe des Leidens zu reduzieren oder geht es im Hinblick auf das Leid immer um das konkrete leidende Individuum, wie es z.B. Dorothee Sölle in ihrem Buch Leiden durchdenkt18, die ähnlich wie Harari von der Voraussetzung ausgeht, „dass die Aufhebung der Zustände, in denen Menschen durch Mangel und Herrschaft zum Leiden gezwungen werden, das einzig human denkbare Ziel ist“?19

Die Minimierung von Leid als oberste ethische Maxime zu postulieren, scheint einleuchtend zu sein. Das könnte einen paradoxen Grund darin haben, dass das Leid – zumindest in der Leser*innenschaft Hararis – nicht so allgegenwärtig ist. Es gibt für viele Menschen die Möglichkeit, ein recht leidfreies Leben zu führen und gerade deshalb Zeit zu haben, Harari zu lesen.20 Diese Menschen haben auch Zugang zu mannigfaltigen Möglichkeiten, sinnstiftend zu agieren. Menschen suchen sich eine sinnvolle Arbeit, engagieren sich sinnvoll oder aber sie akzeptieren, dass das Leben sinnlos ist. Was relativ leicht geht, wenn man leidfrei (oder zumindest leidarm) durchs Leben geht. Die Frage nach dem Leid und dessen Minimierung über die Sinnfrage zu stellen, fällt möglicherweise nur Menschen ein, für die Leid vor allem das Leid anderer Geschöpfe ist.

Laut biblischem Zeugnis hat Jesus gerade nicht das ganze Leid der Welt weggenommen oder es zumindest drastisch reduziert. Im Gegenteil, in einer Welt, in der die meisten Menschen versehrt waren21, weil auch leichte Verletzungen zu bleibenden Behinderungen führten, hat Jesus exemplarisch einige wenige Menschen geheilt, um so das nahe Gottesreich als Ahnung sichtbar zu machen. „In den Krankenheilungen adressiert Christus die untragbaren Risiken der biologischen Evolution. Diese Interventionen zeigen Gottes Absichten und Ziele mit verletzlichem Menschsein an.“22 Jesu Predigt vom nahen Gottesreich aber geht der Frage nach dem Sinn vor der Frage nach dem Leid nach, denn er ruft dazu auf, die Richtung zu wechseln und sich auf das Reich Gottes auszurichten; das heißt, er gibt eine Richtung vor, und Sinn meint immer eine Richtung auf ein Ziel hin, wie es in solchen Begriffen wie „Uhrzeigersinn“ anklingt.

Harari trägt mit der Fokussierung auf die Leidfrage letztlich auch eine sinnstiftende Idee ein: „Wenn Sie […] die Wahrheit über das Universum, über den Sinn des Lebens und über Ihre eigene Identität erfahren wollen, so beginnen Sie am besten damit, Leid wahrzunehmen und zu erkunden, was Leid wirklich ist.“23 Solche Wahrnehmung trainiert Harari auf spirituelle Weise, nämlich indem er meditiert.

Eine besondere Pointe liefert Harari an dieser Stelle nach: „Wenn Sie mit irgendeiner großen Erzählung konfrontiert sind und wissen wollen, ob sie real oder erfunden ist, lässt sich das mithilfe einer Schlüsselfrage herausfinden: Kann der Held der Geschichte leiden?“24 Im Sinne des von Harari vorgetragenen Narrativs ist dies geradezu ein Gottesbeweis: Der Gott, der im literaturwissenschaftlichen Sinne der Held der gesamten biblischen Literatur ist und dort in Jesus Christus als in der Welt lebend beschrieben wird, kann – darüber lassen die Bibel und die Theologie keinen Zweifel – vor allem dies: leiden!

Eine wichtige Facette von Religion sieht Harari durchaus: Religionen helfen Menschen, mit der Kontingenz der Welt umzugehen, also mit den Gegebenheiten, die oft widersprüchlich sind, zumindest aber nicht logisch zu sein scheinen. Harari spricht hier von der Erfahrung einer „kognitiven Dissonanz“, das heißt der Notwendigkeit, „gleichzeitig völlig unvereinbare Vorstellungen und Werte zu vertreten.“25 Religion geht mit Widersprüchen um, indem sie dahinter einen letzten Sinn vermutet bzw. glaubt. Das heißt nicht, dass Religion einfach das Unerklärbare erklärt. Dazu dient Religion nicht, denn das bringt sie schnell an ihr Ende. Wer den biblischen Schöpfungsmythos als naturwissenschaftliche Beschreibung der Entstehung der Erde begreift, muss ihn als veraltet ansehen, wenn physikalische Erklärungen diese Prozesse besser beschreiben. In der Religion geht es um die Fragen, die nicht widerspruchsfrei beantwortet werden können, weil ihre Antwort beispielsweise von einer bestimmten Situation abhängen. Auch die Frage nach dem Sinn gehört in diesen Bereich.26 Religionen lösen Widersprüche nicht auf, sondern versuchen sie zu integrieren und zwar ins Leben.

Es ist bedauerlich, dass Harari diese Funktion von Religion nicht wertschätzen kann. Lapidar urteilt er beispielsweise: „Suchen Sie [...] nach Konflikten und Widersprüchen, mit denen sich die Muslime dauernd herumschlagen und die niemand lösen kann. Eine Frage, auf die kein Muslim eine Antwort hat, ist ein Schlüssel zum Verständnis seiner Kultur.“27 Hier übersieht Harari, dass Religionen, nicht nur der hier angegriffene Islam, gerade darin ihre Stärke haben, mit den Fragen umzugehen, die niemand lösen kann, die aber – zumindest für manche Menschen – nicht zu ignorieren sind.

Harari scheint Religion und Wissenschaft gegenüberzustellen, indem er der ersten den Begriff Glauben und der anderen den Begriff Wahrheit zuordnet. Beide Begriffe gelte es zu unterscheiden.28 Damit reduziert Harari den Wahrheitsbegriff auf den Bereich dessen, was man wissenschaftlich erfassen kann. Dies ist wissenschaftstheoretisch überholt.

Vor allem aber reduziert Harari den Menschen in seinem Wesen, wenn er Glaube und Wahrheit trennt. Der homo sapiens (also der weise oder zumindest vernunftbegabte Mensch) ist ja nicht nur homo faber (also der schaffende und wirkmächtige Mensch), sondern immer auch homo querens29 (also der suchende und fragende Mensch), der Wahrheit eben auch in religiösen Dimensionen zu finden vermag. Auch Harari beschreibt sich als einen solchen suchenden Menschen30, verweigert sich aber dem Gedanken, dass er hier selbst zumindest Berührungspunkte mit der Religion hat31. Dabei folgt er doch spirituell einer Bewegung, die Dorothee Sölle einmal beschrieben hat als die „alte Fähigkeit von Menschen, zu überschreiten, was ist. Sie wird ‚Tanszendenz‘ genannt oder ‚Glauben‘ oder ‚Hoffen‘ – oder auch das Hören auf das ‚Stille Geschrei‘. Es ist die wichtigste Bewegung, die ein Mensch in seinem Leben lernen kann.“32

Harari betont immer wieder, dass das menschliche Bewusstsein wissenschaftlich nicht erklärt und schon gar nicht in künstlichen Intelligenzen nachgeahmt oder gar nachgebaut werden kann.33 Hier scheint sich ein Bereich aufzutun, den Wissenschaft nicht allein beschreiben kann.

Siri Hustvedt34 und Volker Gerhardt35 haben in jüngster Zeit auf je eigene Weise plausibel gemacht, dass das menschliche Bewusstsein und damit zusammenhängend die Frage nach dem Geist nicht allein durch naturwissenschaftliche Methoden beantwortet werden kann. Diese Frage bleibt Frage der Philosophie und damit auch der Theologie, die nebenbei bemerkt ebenfalls zu den Wissenschaften gehören.

Das Reden über das Bewusstsein, den menschlichen Geist und damit die Individualität ist ein Ort, an dem Religion etwas zu sagen hat. Allerdings muss die Theologie auch hier vorsichtig sein, um nicht Gefahr zu laufen, doch wieder nur Unerklärliches erklären zu wollen, bis eine bessere (naturwissenschaftliche) Erklärung gefunden ist. Es ist ja nicht ausgeschlossen, dass irgendwann erklärt werden kann, wie im Gehirn des Menschen „Datenströme Bewusstsein und subjektive Erfahrungen erzeugen können.“36 Falls es eine Antwort auf die Frage „Was ist der Mensch?“ gibt, dann hat die Theologie an dieser Stelle wieder Boden verloren. Es sei denn, es gelingt ihr, plausibel zu machen, warum diese Frage auch dann nicht beantwortet ist, wenn Bewusstsein naturwissenschaftlich erklärt werden kann.

Anmerkungen

  1. Harari, Geschichte, 24.
  2. Vgl. hier und im Folgenden Harari, Geschichte, 37ff.
  3. Das sehen wir ja im Moment daran, dass uns viele Science-Fiction-Filme einfallen, die die Corona-Krise vorwegzunehmen scheinen.
  4. A.a.O., 254.
  5. Ebd.
  6. Ebd.
  7. Vgl. Schmid, Schröter, Bibel, 132ff.
  8. Schmid, Schröter, Bibel, 135.
  9. Vgl. Harari, Lektionen, 178.
  10. Vgl. a.a.O., 180ff.
  11. Vgl. a.a.O., 185ff.
  12. A.a.O., 177.
  13. A.a.O., 185.
  14. Harari, Homo Deus, 276.
  15. A.a.O., 414.
  16. Harari, Lektionen, 401.
  17. A.a.O., 402.
  18. Vgl. z.B. Sölle, Leiden, 141. Sölle macht deutlich, dass das individuelle Leiden stets im Blick zu behalten ist und dass Leidenserfahrungen, eben weil sie individuell sind, auch nicht gegeneinander aufgewogen werden können, etwa durch die Schwere des Leidens. „Eine fünfzigjährige Akkordarbeiterin hängt nicht weniger am Kreuz als Jesus, nur länger.“ (ebd.)
  19. Sölle, Leiden, 10.
  20. Man bedenke, dass auch das Hiob-Buch, das in der Bibel in besonderer Weise das Leid thematisiert, aus der Sicht einer eher wohlhabenden und gebildeten Oberschicht heraus das Leid reflektiert. Dort geht es aber nicht um Minimierung des Leids, sondern um den Sinn dahinter.
  21. Vgl. hier und im Folgenden: Janssen, Leiden, 129f.
  22. Thomas, Schatten, 13.
  23. Harari, Lektionen, 404.
  24. A.a.O., 402.
  25. Harari, Geschichte, 204.
  26. Z.B. die Frage, wie damit umzugehen ist, dass wir ins Leben geworfen sind und uns vieles zufällt; aber auch konkrete Fragen, wie z.B. warum auch „gute“ Menschen leiden müssen, oder anders gesagt die Grundfrage des Lebens „Warum gerade ich?“
  27. Harari, Geschichte, 204.
  28. Vgl. Harari, Lektionen, 278.
  29. Vgl. Gerhardt, Humanität, 22 ff. Bezeichnenderweise beginnt Gerhardt seine Überlegungen zum Geist der Menschheit nicht mit dem homo faber, sondern er geht von der Philanthropie, also der Liebe zum Menschen aus, betrachtet dann zuerst (sic!) den homo querens, dann den sozialen und seiner selbst bewussten Menschen, um dann erst den homo sapiens als homo faber in den Blick zu nehmen.
  30. Vgl. Harari, Lektionen, 404 ff.
  31. Damit soll nicht gesagt sein, dass Harari eigentlich doch religiös ist.
  32. Sölle, Mystik und Widerstand, 353.
  33. Vgl. z.B. Harari, Lektionen, 108.
  34. Vgl. Hustvedt, Illusion.
  35. Vgl. Gerhardt, Humanität.
  36. Harari, Homo Deus, 603.

Literatur

  • Gerhardt, Volker: Humanität. Über den Geist der Menschheit, München 2019
  • Harari, Yuval Noah: Eine kurze Geschichte der Menschheit, München, 312019
  • Harari, Yuval Noah: Homo Deus. Eine Geschichte von Morgen, München 52019
  • Harari, Yuval Noah: 21 Lektionen für das 21. Jahrhundert, München 62019
  • Hustvedt, Siri: Die Illusion der Gewissheit, Hamburg 2020
  • Janssen, Claudia: „Er kümmerte sich um alle Krankheiten und alles Leiden im Volk“ (Mt 4,23). Heilung im Matthäusevangelium, in: Geiger, Michaela und Stracke-Bartholmai, Matthias (Hg.): Inklusion denken. Theologisch, biblisch, ökumenisch, praktisch, Stuttgart 2018
  • Schmid, Konrad; Schröter, Jens: Die Entstehung der Bibel. Von den ersten Texten zu den heiligen Schriften, München 22019
  • Sölle, Dorothee: Leiden, in: dies.: Gesammelte Werke Bd. 4, Stuttgart 2006
  • Sölle, Dorothee: Mystik und Widerstand, in: dies.: Gesammelte Werke Bd. 6, Stuttgart 2007
  • Thomas, Günter: Im Schatten der Krise. Die Corona-Pandemie provoziert das theologische Nachdenken, in zeitzeichen 5, 2020, 12ff.