De homine - Die Geburt des modernen Menschen in Joseph Haydns Oratorium ‘Die Schöpfung’ (1798)

von Michael Wermke

 

1. Einige Vorüberlegungen zu den didaktisch-methodischen Chancen und Grenzen des Unterrichts über biblische Anthropologie

Das Sek II Kursthema 'Anthropologie' ist eines hinsichtlich der Vermittlung des theologischen Anliegens entscheidende, aber hinsichtl. der Vermittlung das schwierigste. Denn bei keinem weiteren Oberstufenthema ('Christologie', 'Ethik', 'Gottesfrage') geraten das biblisch-theologische und das moderne Selbstverständnis in einen solch scharfen Widerspruch wie bei der Frage nach dem biblisch/christlichen und dem modernen, bzw. postmodernen Menschenbild, scheint es doch zu sein, dass wir von einer Inkompatibilität beider Menschenbilder reden müssen.

Die Fragen haben sich gewandelt. Der heutige Mensch steht weder wie einst Luther vor der Frage: Wie bekomme ich einen gnädigen Gott? Noch vor der Frage: Wo ist Gott? Die modernen Fragen sind die Fragen nach der Identität, der Persönlichkeitsentfaltung und Selbstverwirklichung: Wer bin ich? Was mache ich aus mir? Wer will ich und wer soll ich sein?

Theologisch formuliert: Die anthropologischen Frage nach dem Sinn und der Aufgabe menschlicher Existenz hat sich von der soteriologische Frage nach der Rechtfertigung und von der theologische Frage nach der Existenz Gottes gelöst und sie beide für obsolet erklärt.

Der unter dem Einfluss von Karl Barth stehende Theologe Walter Kreck gibt uns hier nun folgenden Hilfe:

Weil der Freispruch Gottes in Jesus Christus allein in Gott selbst begründet ist, weil sich darin Gottes Gottheit offenbart, darum kann und muss er überall verkündet werden

- ohne Rücksicht darauf, ob nach unserer Meinung die Situation dafür günstig ist oder nicht. Die törichte Rede, weil heute der Mensch nicht wie Luther nach der Rechtfertigung durch Gott frage, da ihm Gott selbst überhaupt fragwürdig sei, deshalb könne man sie auch nicht verkündigen, sondern müsse zunächst auf die Sinnfrage bzw. die Frage der Existenz Gottes überhaupt eingehen, verrät eine völlige Unkenntnis dessen, was Gerechtigkeit Gottes heißt. Als ob der sich verkrümmte Mensch nach diesem Deus iustificans von sich aus recht fragen könne! Er ist ja der Mensch, der - wie Luther sagt - nicht will und nicht wollen kann, dass dieser Gott Gott ist, er muss ein Gottesleugner sein.

Abgesehen davon, dass hier wohl etwas aus der Mode geratene religionspädagogische Konzeption zugrunde liegt, erklärt sich ja der zeitgenössische Mensch in der Lage, auf die Frage nach seiner Existenz eigenständige Antworten geben zu können. M.a.W.: Der Mensch erkennt sich als erlösungsbedürftig und hält sich gleichermaßen als selbsterlösungsfähig.

Wenn aber die Frage nach dem Menschen und die Frage nach Gott soweit auseinanderfallen, dass der Mensch sich nicht mehr bewusst ist, dass er von Gott als Mensch definiert ist, gerät er unter den Zwang, sich ständig vor dem Forum seiner selbst rechtfertigen zu müssen.

Für den Philosophen Odo Marquard formuliert sich die Sinnfrage des heutigen Menschen so:

Mit welchem Recht gibt es dich überhaupt und nicht vielmehr nicht, und mit welchem Recht bist du so, wie du bist, und nicht vielmehr anders? Unter dem Druck dieser Frage muss sich fortan jeder Mensch in toto ständig zur Disposition stellen: jedermann hat - als säkularisiertes causa sui - ohne Pardon die totale Beweislast für sein eigenes Seindürfen und Soseindürfen. Zum exklusiven menschlichen Lebenspensum wird: vor einem Dauertribunal, bei dem der Mensch zugleich als Ankläger und Richter agiert, die Entscheidung dafür leben zu müssen, dass es ihn gibt, und nicht vielmehr nicht, und dass es ihn so gibt, wie es ihn gibt, und nicht vielmehr anders.

An die Stelle der Erfahrung mit Gottes, der 'deine Gerichtigkeit heraufführen wird wie das Licht und dein Recht wie den Mittag' (Ps 37,6), tritt der Legitimationsdruck, Selbstleistungszwang und Rechtfertigungsdruck. Die von mir und vor mir selbst zu beantwortende Frage nach dem Grund und dem Wesen meiner Existenz bedeutet eine ständige In-Frage-Stellung und Selbstrechtfertigung meiner selbst.

Für Gnade, Vergebung und Trost ist jedoch kein Raum, wo ich mich selbst vor mir selbst rechtfertigen muss.

Wie nahe sich Selbsterlösung/Rechtfertigung und Selbstzerstörung kommen, zeigt der Soziologe Ulrich Beck:

Die Konsequenz ist, dass die Menschen immer nachdrücklicher in das Labyrinth der Selbstverunsicherung, Selbstbefragung und Selbstvergewisserung hineingeraten. Der (unendliche) Regress der Fragen: 'Bin ich wirklich glücklich?', 'Bin ich wirklich selbsterfüllt?", "Wer ist das eigentlich, der hier >ich< sagt und fragt?", führt in immer neue Antwort-Moden, die in vielfältiger Weise in Märkte für Experten, Industrien und Religionsbewegungen umgemünzt werden. In der Suche nach Selbsterfüllung reisen die Menschen nach Tourismuskatalog in alle Winkel der Erde. Sie zerbrechen die besten Ehen und gehen in rascher Folge immer neue Bindungen ein. Sie lassen sich umschulen. Sie fasten. Sie joggen. Sie wechseln von einer Therapiegruppe zur anderen. Besessen von dem Ziel der Selbstverwirklichung reißen sie sich selbst aus der Erde heraus, um nachzusehen, ob ihre Wurzeln auch wirklich gesund sind.

 
Was ist dem entgegenzusetzen?

Das meine und glaube ich, dass ich Gottes Geschöpf bin, das ist, dass er mir gegeben hat und ohne Unterlass erhält Leib, Seele und Leben, Gliedmaßen klein und groß, alle Sinne, Vernunft und Verstand, und so fort, ..., dazu alle Kreatur zu Nutz und Notdurft des Lebens dienen lässt: Sonne, Mond und Sterne am Himmel, Tag und Nacht, Luft, Feuer, Wasser, Erde und was sie trägt und hervorzubringen vermag, Vogel, Fisch, Tier, Getreide und allerlei Gewächs, ferner was mehr leibliche und zeitliche Güter sind: gut Regiment, Friede, Sicherheit.

Auch gerade an der poetischen Qualität des Textes wird spürbar, dass hier ein Mensch spricht, der sich eins weiß mit sich selbst und der Natur, der sein Vertrauen darauf setzt, dass er trotz seines Sündigseins durch die Gnade Gottes gerechtfertigt ist, der weiß, dass er so, wie er ist, von Gott gewollt und geliebt ist.

Nun wäre der Text unangemessen ausgelegt, wenn wir ihn in einer Art anthropozentrischen Engführung so deuteten, als sei die Schöpfung mit mit ihren Schöpfungsgaben allein und nur auf den Menschen als der Krone der Schöpfung hin ausgerichtet. Nein, so wie der Mensch verantwortlich für ein 'gut Regiment, Friede und Sicherheit' ist, so ist er gleichermaßen verantwortlich für den Erhalt der Schöpfung, deren Teil er ist.

Die hier deutlich werdende Erfahrung Luthers kann aber doch eigentlich nur dann verständlich und vermittelbar gemacht werden, wenn man Rechtfertigung nicht nur als Lehre, als Theorie oder zentralen Glaubensartikel versteht, sondern als die in der Lebensgeschichte verankerte Glaubenserfahrung, dass Gott dem Menschen rechtfertigend zuvorgekommen ist.

Die Aufgabe müsste darin bestehen, einen Zusammenhang zwischen den theologische Aussagen und der existentiellen Situation der SchülerInnen herzustellen. Im Sinne der Korrelationsdidaktik wäre es ja, stets nach den 'Anknüpfungspunkten' von Lebensgeschichte und Theologie zu fragen. Allerdings dürfte es im Sek II Unterricht zu spät sein, solch eine Form des erfahrungsbezogenen/-vermittelnden, d.h. ganzheitlichen Unterrichts zu leisten.

Was jedoch zu leisten ist, ist, dass wir mit den SchülerInnen über die Paradoxie, dass die Frage nach Erlösung eigentlich immer noch gilt, dass jedoch die Antwortsuche in diametral gegenüberliegende Richtungen weisen, reflektieren können. Die Chance, die Thema bietet, beruht auf den, die SchülerInnen unmittelbar betreffenden und interessierenden Konfliktfeldern, die für mich in dem Spannungsfeld von Freiheit und Verantwortung einzuordnen sind.

Zu einer Konzeption für einen Sek II. Kurs 'Anthropologie':

Der Mensch auf der Suche nach Identität, Lernfeld C (A, D)

 

1. Einstieg:

1.1 Der Mensch auf der Suche nach Identität

  • Labyrinth als Symbol der Suche nach Grund und Ziel des Lebens

 

1.1 Das Menschenbild der Moderne (EA 1, 3)

  • Joseph Haydn, Der zur Mündigkeit bestimmte Mensch

 

1.2 Das biblische Menschenbild: Der Mensch als imago dei und imago mundi zwischen Freiheit und Verantwortung

  • die biblischen Schöpfungsberichte im Vergleich: die anthropologischen (kosmologischen und theologischen) Aussagen
  • Vergleich der anthropologischen Aussagen mit Platons 'Kugelmythos'
    => der Mensch, das vom göttlichen Ich in die Freiheit, aber auch in die Verantwortung gerufene Du
  • die Bedeutung der Ur-Sünde im Werdungsprozess des Menschen (EA 5)
    => Sündigsein als Merkmal des Menschseins
  • ... und doch angenommen: Die Erlösung des Menschen im Glauben (Lk 15, Röm 3)
    => Erlösungsbedürftigkeit als Merkmal des Menschen

 

2. Konkretionen:

2.1. Der Mensch in seinem Verhältnis zwischen Gott und Natur (EA 1)

2.1.1 Menschenbilder in philosophischen Entwürfen (Descartes, Kant, Marx, Nietzsche, Freud, Sartre u.a.)

2.1.2 biblisches Menschenbild contra Aufklärungsoptimismus

  • Heinz Zahrnt, Glanz und Elend der Aufklärung
    => der selbstverantwortliche Mensch, der verstärkt die Unverfügbarkeit des Daseins erfährt


2.2. Der Mensch in den Verantwortungsbeziehungen vor Gott (EA 2)

2.2.1 Der Mensch in der Verantwortung für den Mitmenschen

  • Helmut Gollwitzer, Das Hohelied der Liebe
    => der Mensch, der in der Liebe Gottes seine (personale) Identität findet


2.2.2 Der Mensch in der Verantwortung für den Schöpfungsprozeß

  • Wolfgang Huber, Der Mensch zwischen Schöpfungsgedanken und Fortschrittsglauben
    => Verantwortung als Selbstbegrenzung des Menschenmöglichen

 

3. Zusammenführung: Der Mensch vor Gott

  • Martin Luther, Von der Freiheit, 1520
  • Günter Brakelmann, Leistung frei von Zwang (EA 3; 4)
    => 'simul justus et peccator' als Antwort auf den Glauben an die Machbarkeit des eigenen Menschseins als Grund der Selbstverfehlung

 

4. Ausblick: Der Mensch, der in der Not auf Gott vertrauen und hoffen kann (EA 6)

  • Dietrich Bonhoeffer, Wer bin ich?
    => der Mensch, der trotz Bedrängnis seine Identität im Glauben bewahrt

 

I. Zur didaktischen Relevanz des Themas

Mein Anliegen lässt sich damit umschreiben, dass ich versuche, die neuzeitliche Entwicklungslinien des Selbstverständnisses des Menschen und seines Verhältnisses zu Gott aufzuweisen. Das moderne Selbstverständnis des Menschen steht in der Tradition der Aufklärung. Der Mensch identifiziert sich selbst als ein autonomes, vernünftiges und verantwortungsfähiges Subjekt, das sich von der Leitung Anderer freigemacht hat und somit mündig geworden ist: zum Beherrschen und Erklären der Welt und seiner selbst.

Dieses 'Projekt der Moderne' ist mehr als fraglich geworden. Der Mensch sieht sich heute in einem für ihn unübersichtlich gewordenen Netz selbstgeschaffener Zwänge ausgeliefert, die ihm letztlich jeglicher Selbständigkeit und Verantwortung entheben.

Nicht zuletzt die ökologischen Folgen der Selbstermächtigung des Menschen - hier ist beispielsweise auf die Rheinüberschwemmungen hinzuweisen -, die zwar noch als 'Jahrhundertereignisse' relativiert werden, zeigen an, dass wir es mittlerweile nicht mehr 'nur' mit Naturkatastrophen und mit einer umfassenden 'Kulturkatastrophe' zu tun haben.

Angesichts dieser Situation ergibt sich als Aufgabe für den RU zweierlei:

  • Der RU muss die biblische Botschaft in Erinnerung rufen, dass sich das Menschensein aus der Verantwortungsbeziehung gegenüber dem Schöpfer und gegenüber den Mitgeschöpfen ableitet.
  • Der RU muss aus der Perspektive der biblischen Überlieferung in dem modernen Autonomiestreben die menschliche Hybris, des 'Sein-Wollens-wie-Gott', aufdecken und gleichzeitig auf die befreiende Bedeutung der biblischen Botschaft verweisen, dass der Mensch sich nicht - bspw. kraft seiner Vernunft - aus sich selbst heraus erklären muss, sondern sich als das von Gott gewollte und geliebte Geschöpf betrachten darf.

Mein didaktisches Interesse ist - zusammenfassend formuliert - darauf ausgerichtet, den Selbstwerdungsprozess des Menschen in Bezug zu seinem Gottes- und Weltverständnis anhand verschiedener Welterklärungsmodelle aufzuzeigen.

Zum Menschenbild in Joseph Haydns Oratorium, Die Schöpfung (1798)

Das 1798 in Wien uraufgeführte Oratorium 'Die Schöpfung' von Joseph Haydn (1732-1809) beruht auf dem Libretto von Gottfried van Swieten (1734-1803), der sich wiederum an John Milton, Paradies Lost, 1665, orientiert hat. Der Erfolg war in allen Aufführungen überwältigend. Der Haydn-Forscher Martin Stern schreibt: "Wenn man (...) die Dankesschreiben und die Berichte jener Aufführung überliest, die Haydn zugestellt oder von Hörern und Rezensenten weitergegeben und veröffentlicht worden sind, befestigt sich der Eindruck, in diesem Werk hätten sich Lieblingsvorstellungen und -wünsche einer ganzen Epoche künstlerisch erfüllt."

Diese Bewertung begründet die Bedeutung des Oratoriums geradezu als ein Paradigma des sich formierenden modernen Selbstverständnisses. Es soll mir als Anknüpfungspunkt dafür dienen, nach den Voraussetzungen und Folgen des aus der Religionsepoche erwachsenenmodernen menschlichen Selbstverständnisses im Beziehungsgefüge zwischen Gott und Welt zu fragen.

 

II. Zum Wesen des Oratoriums

Zunächst eine Vorbemerkung zum Wesen des Oratoriums in Abgrenzung von der Oper, um die besondere theologische Aussagekraft des Oratoriums von Haydn erschließen zu können.

In der Musikwissenschaft handelt es sich bei dem Oratorium "um eine Erzählung einer vergangenen Geschichte, die es gilt (,) ins gegenwärtige Bewusstsein zu bringen." In dem der epischen/ erzählenden Gattung zuzurechnenden Oratorium wird mit den Mitteln des Chor- und Solovortrags von einer vergangenen Welt, bzw. Zeit erzählt, die nicht mehr die unsrige ist. Anders in der Oper. Hier wird mit typisch dramatischen Elementen des Dialogs und auch der Mimik und Gestik ein an sich schon abgeschlossenes Geschehen auf der Bühne wieder vergegenwärtigt, in Szene gesetzt. Der Musikwissenschaftler Winfried Kirsch formuliert es so: In der Oper geht es um die "anschauliche Darstellung einer Geschichte, die sich einst und irgendwo abspielte und sich nun gegenwärtig (auf der Bühne) wiederholt."

Das heißt also: Während in der Oper Vergangenheit hör- und sichtbar zur Gegenwart erhoben wird, bleibt das Oratorium der Schilderung der Vergangenheit verhaftet. Oder auch so: In der Oper wird ein sich gerade ereignendes, im Oratorium ein sich bereits ereignetes Geschehen aufgeführt.

Allerdings werden im Oratorium insofern Vergangenheit und Gegenwart miteinander in einen Zusammenhang gebracht, als dass hier geschichtliche Ereignisse berichtet werden, die in unsere Gegenwart hineinwirken. Seiner Intention als geistliches Chorwerk nach will also das Oratorium Heilsereignisse als geschichtliche Ereignisse in ihrer gegenwärtigen Bedeutung darstellen. Mit anderen Worten: Das Oratorium stellt uns ein heilsgeschichtliches Ereignis vor, unter dessen Wirkung wir heute noch stehen. Die formal-inhaltlichen Möglichkeiten des Oratoriums und die heilsgeschichtliche Verkündigungsabsicht kommen so zur Deckung: Das Oratorium dient der Bewusstmachung des transzendental Fortbestehenden.

 

III. Zum Aufbau des Oratoriums 'Die Schöpfung'

Haydns Oratorium gliedert sich in drei Teile. Der Erste (1.-14.) und der Zweite Teil (15.-26.) beinhalten die Darstellung der sechs Schöpfungstage. Nach der präludierenden Schilderung des ersten Tages folgen die weiteren Tage, die in etwa nach folgendem Schema aufgebaut sind: Auf das Bibelwort folgt eine Arie, rezitativisch wird die Schilderung beendet, und der Lobpreis Gottes durch die Engel bilden den triumphalen Abschluss. Der Dritte Teil (27.-32.) enthält die Schilderung des Paradiesglücks und besteht im wesentlichen aus zwei ausgedehnten Duetten zwischen Adam und Eva.

Bemerkenswert ist, dass die ersten beiden Teile mit den biblischen Schöpfungsbericht in einem engen textlichen Zusammenhang stehen, während der Dritte Teil als eine Art Anhang erscheint, weil sein Inhalt weder einen inhaltlichen Bezug zum eigentlichen Schöpfungsakt noch einen Bezug zum Text der Genesis aufweist. Gleichwohl ist er für die Deutung des Textes von zentraler Bedeutung.

 

IV. Zur Analyse des Textauszugs

Bevor wir uns den Textauszügen zuwenden, müssen wir uns noch einer stilistischen Besonderheit annehmen.

Das Schöpfungsgeschehen wird in einer sehr naturalistischen Weise als ein Prozess beschrieben, der sich in sechs gewaltigen 'qualitativen Sprüngen' aus dem Nichts in die Vollendung verwirklicht und nun in dieser Weise jedem Menschen gewärtig ist. Ein durchgängiges Stilelement im Ersten und Zweiten Teil ist die Verwendung unterschiedlicher grammatischer Zeitformen für den eigentlichen Schöpfungsbericht im Rezitativ (episches Präteritum; s. Nr.23 und 25) und für die Kommentierung und dem Schöpferlob in der Arie und dem Chor (Präsens; s.Nr.24 und 26). Diese wechselnde Tempuswahl für den Vergangenheitsbericht und die gegenwärtige Betrachtung macht einerseits den Unterschied deutlich "zwischen Gott, der die Dinge 'machte', d.h. zwischen dem in der Vergangenheit liegenden Schöpfungsvorgang(,) und denjenigen, die das Geschaffene anschauen, d.h. gegenwärtig haben." Andererseits wird durch die Wahl der Tempusform Präsens daraufhingedeutet, dass der gegenwärtige Zustand als die Vollendung der von Gott gewollten Schöpfung zu betrachten und zu bewundern ist.

Übertragen auf die Erschaffung von Adam und Eva bedeutet dies, dass das erste geschichtliche Menschenpaar in die Gegenwart der diese Geschichte rezipierende Menschen gerückt wird und diese sich, bzw. ihre Idealtypik hierin wiederfinden.

24. Arie

Mit Würd' und Hoheit angetan,

Mit Schönheit, Stärk' und Mut begabt.

Gen Himmel aufgerichtet, steht

Der Mensch,

Ein Mann und König der Natur.

Die breit gewölbt' erhabene Stirn

10 

Verkünd't der Weisheit tiefen Sinn

Und aus dem hellen Blicke strahlt

Der Geist,

Des Schöpfers Hauch und Ebenbild.

An seinen Busen schmieget sich,

15 

Für ihn aus ihm geformt,

Die Gattin hold und anmutsvoll.

In froher Unschuld lächelt sie,

Des Frühlings reizend Bild,

Ihm Liebe, Glück und Wonne zu.

Dieses ganz im Sinne des Menschenbildes des Aufklärungszeitalters gestaltete Menschenpaar bildet Höhepunkt und Abschluss des göttlichen Schöpfungsaktes, das durch ein kräftiges Gotteslob abgerundet wird.

26. Chor und Terzett

Chor Vollendet ist das große Werk;

Der Schöpfer sieht's und freuet sich.

25

 Auch uns're Freud' erschalle laut!

Des Herren Lob sei unser Lied!

Mit diesem Finale im Zweiten Teil ist der Schöpfungsakt eigentlich abgeschlossen, und dem Oratoriumsablauf wäre eigentlich Genüge getan. Das Oratorium endete dann in dem Moment, wo die 'historischen' Situation des ersten Menschenpaares im biblischen Paradies für einen Augenblick zu einer realen, gegenwärtigen Existenz wird, um sich wieder in die Vergangenheit zurückzuziehen. Es träte dann wieder zwischen den gegenwärtigen Menschen und dem Menschen der Schöpfung die unüberwindliche Distanz des Geschichtlichen. Theologisch gesprochen würde für einen Moment - artikuliert in der Sprache und mit dem Vorstellungsvermögen des 18.Jahrhunderts- der Glanz des Menschen vor dem Sündenfall in unsere Welt hineinleuchten und wie eine paradiesische Vision etwas sichtbar werden lassen, was für uns aus eigener Kraft letztlich unerreichbar bleibt.

Haydns Oratorium findet hier jedoch nicht sein Ende, denn "'vollendet' ist hier nur das 'große (göttliche) Werk' der Geschichte." Waren die Oratoriumteile I und II gleichsam noch 'zwischen Himmel und Erde' angesiedelt, so öffnet sich der Dritte Teil nun gänzlich dem diesseitigen und gegenwärtigen Bereich. Das Transzendente mündet in die Geschichte und löst sich dort auf. Auf die Welt fällt nicht mehr das tröstliche Licht der Transzendenz, die Hoffnung auf ein einstiges Leben, die Ordnung des Universums beruht nicht auf einem ewigen Gesetz von Gut und Böse, die moralischen Werte sind von Menschen gemacht.

In einer geradezu triumphalistischen Weise schreitet der mit Selbstbewusstsein und Mündigkeit ausgestattete Mensch in die von Gott geschaffene Welt hinein. Er versteht sich durchaus als dankbares Geschöpf Gottes, aber aus dem Bewusstsein, als Gottes Ebenbild geschaffen zu sein, leitet er letzten Endes für sich das Prinzip der Selbstbestimmung und der Selbstverantwortung ab und setzt das Schöpfungswerk nach eigenem Gutdünken fort. Nicht nur, dass die Schöpfung Gottes auf den Menschen hin ausgerichtet zu sein scheint, der mündige Mensch selbst tritt aus dem Schöpfungsgeschehen und wird sich seiner selbst bewusst. Das Geschöpf kehrt sich mit Dank von seinem Schöpfer ab.

29. Rezitativ

Adam Nun ist die erste Pflicht erfüllt,

Dem Schöpfer haben wir gedankt.

35 

Nun folge mir, und jeder Schritt

Weckt neue Freud' in unsrer Brust,

Zeigt Wunder überall.

Erkennen sollst du dann,

Welch unaussprechlich Glück

40 

Der Herr uns zugedacht,

Ihn preisen immerdar,

Ihm weihen Herz und Sinn.

Komm, folge mir, ich leite dich

Konsequenterweise überwindet dann Haydn auch im Dritten Teil den traditionell epischen Charakter des Oratoriums zugunsten der gegenwärtigen, direkten Rede und Gegenrede der Oper, um die 'Gegenwart' des heilsgeschichtlichen Ereignisses eins werden zu lassen mit der Gegenwart des Zuschauers. "Auf diesen Punkt höchster Unmittelbarkeit ist die gesamte Dramaturgie der Schöpfung hin angelegt." Dieser Teil spielt zwar strenggenommen noch im geschichtlichen Paradies, "sie ist jedoch durch ihre Anschaulichkeit sowie durch ihre opernhafte Identifikationsoffenheit realiter bereits in der Gegenwart der Aufführungssphäre transponiert." Martin Stern schreibt hierzu, dass mit den Liebesduetten zwischen Adam und Eva "'ein weltliches Paradies gelebte Wirklichkeit geworden' sei. Es verrate einen 'ungebrochenen Glauben an die Heiligkeit der irdischen Liebe'", die als Geschenk Gottes ein Garant friedlichen Zusammenlebens dem Menschen gegeben ist.

Demgegenüber warnt Uriels letztes Rezitativ vor menschlicher Hybris.

31. Rezitativ

Uriel O glücklich Paar! und glücklich immerfort,

Wenn falscher Wahn euch nicht verführt,

Noch mehr zu wünschen, als ihr habt,

65 

Und mehr zu wissen, als ihr sollt.

Allerdings wird hier der Sündenfall als die 'geschichtliche' Erblast der Menschheit ausgeblendet. Ganz im Gegenteil: der Sündenfall wird nur als eine vage Möglichkeit künftigen menschlichen Handelns gesehen, der prinzipiell auszuweichen möglich ist. Ganz im kantischen Sinne, grundsätzlich so handeln zu können, dass die Maxime des Handelns zu einem allgemeinen Gesetz erhoben werden kann, wird dem Menschenpaar die Entscheidungsfähigkeit und -freiheit, zwischen falschem und richtigen Handeln unterscheiden zu können, zugesprochen. Zwar mögen dem Zuhörer dieses Oratoriums "die Berechtigung der Warnung (Uriels) voll gegenwärtig" sein, aber in dem Jahrhundert zweier Weltkriege, des Holocausts und der zunehmenden ökologischen Bedrohung mag uns der Vernunftsoptimismus der Aufklärung mit Skepsis, wenn nicht gar mit Zweifeln füllen.

Stundenthema:
Zum Menschenbild in Joseph Haydns Oratorium 'Die Schöpfung'

Zur Lerngruppe:
Grundkurs 12.2 (Zusammensetzung; Schülerorientierung; Deutsch > Lit. der Aufklärung)

Stundenlernziel:
Die Ss. sollen das Menschenbild in Haydns Oratorium 'Die Schöpfung' kennenl ernen, und es mit dem biblischen Menschenbild

Alternative A: hinsichtl. des Verhältnisses des Menschen zu Gott vergleichen,

Alternative B: hinsichtl. der Rollenverständnisses zw. Mann und Frau vergleichen und es mit Blick auf die Darstellung des Sündenfalls kritisch bewerten können.

 

Zum Stundenverlauf:

1. Stundeneinstieg/Motivationsphase:

Kurzhinweis auf Gattung 'Oratorium' als geistliches Chorwerk

Präsentation der Nr. 23 - 26 aus Haydns Oratorium 'Die Schöpfung' (Text/Musik)

Ss sollen sich äußern:

  • zum Charakter der Musik (festlich, eindrucksvoll, majestätisch u.ä.),
  • über ihre ersten inhaltlichen Beobachtungen (Mann/Frau-Verhältnis; Auffälligkeiten im Vergleich zu den biblischen Schöpfungsberichten; Selbstdarstellung).

Textsicherung

 

2. Schwerpunktsetzung/Vertiefung:

Altern. A:

  • Ausgehend von der Darstellung des Selbstbewusstseins des Menschen Untersuchung des folgenden Textes hinsichtlich des Verhältnisses des Menschen zu Gott auf dem Hintergrund des biblischen Schöpfungsberichts;


Altern. B:

  • Ausgehend von der Darstellung des Rollenverständnisses Untersuchung des Verhältnisses zw. Mann und Frau auf dem Hintergrund des biblischen Schöpfungsberichtes.

Textarbeit (bis Z.61), Partnerarbeit

 

3. Ergebnissicherung:

Altern. A: - Lobpreis Gottes als Schöpfer (u.a. Z.33f)

  • als Ebenbild Gottes : als vernunftbegabtes Wesen übernimmt es - alleinverantwortlich - die Statthalterschaft Gottes in der Welt (Z.35),
  • der vernunftbegabte Mensch, der als die Welt erkennt, erklärt und deutet (Z.63f),
  • sich selbst anleitet (Z.43).

 

Altern. B:

  • traditionelles (Mann als 'Mensch', Beschützer u.a.) Rollenverständnis,
  • Mann und Frau, die sich - vor dem Sündenfall - 'erkannten'.

U.Gespräch

 

4. Transfer/Auswertung: Die Darstellung des 'Sündenfalls' (Z.62-65)

Altern. A:

  • 'Sündenfall' als Möglichkeit (nicht Voraussetzung) künftigen Verhaltens,


Altern. B:

  • 'Sündenfall' nicht Voraussetzung der Menschwerdung: Identität zwischen 'Ur- Mensch' und 'heutigem' Mensch.
    => Bedeutung hinsichtl. anthropolog. Kernaussage: Der an sich gute Mensch, dem es als Herr seiner selbst (s. musikal. Charakter) gelingt, sein Leben selbst zu bestimmen und (kraft seiner Liebe) zum Guten zu führen !?

U.Gespräch

 

Anmerkungen

  1. Walter Kreck, Grundfragen der Dogmatik, München 1977, 2.Aufl. S.132
  2. Odo MAarrquard, Der angeklagte und der entlastete Mensch in der Philosophie des 18.Jahrhunderts, in: DERS., Abschied vom Prin-zipiellen, Stuttgart 1981, S.39-66, S.50
  3. Ulrich Beck, Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne, Frankfurt a.M. 1986, S.156
  4. Martin Luther, Der große Katechismus. Der erste Artikel, Die Werke Martin Luthers Bd.3, S.82f
  5. Uraufführung im Palais Schwarzenberg (Wien) am 30.April 1798, er-ste öffentliche Aufführung am 19.März 1799 im Wiener Burgtheater.
  6. Martin Stern, Haydns ‘Schöpfung’: Geist und Herkunft des van Swieten’schen Librettos. Ein Beitrag zum Thema ‘Säkularisation’ im Zeitalter der Aufklärung, in: Haydn-Studien I/4 (1966), S.121- 198.129; zit.n. Kirsch, S. 172
  7. Winfried Kirsch, S.170, Vergangenes und Gegenwärtiges in Haydens Oratorien. Zur Dramaturgie der ‘Schöpfung’ und der ‘Jah-reszeiten’, in: Florilegium Musicologium, hrsg.v. Christoph Heil-Mut Mahling, Tutzing 1988, S.169-187.170
  8. a.a.O., S.169f
  9. Zur musiktheoretischen Werkanalyse s. Heinrich Schenker, ‘Die Vorstellung des Chaos’ aus der Schöpfung, (1926) Nachdruck in: Musik-Konzepte H.41, Joseph Haydn, hrsg.v. Heinz-Klaus Metzger et al., München 1985
  10. Kirsch, S.172
  11. Vgl. Kirsch, S.174f
  12. Kirsch, S.175
  13. a.a.O., S.177
  14. ebenda.
  15. Stern, S.190, zit.n. KIRSCH, S.177
  16. Kirsch, ebenda

Text erschienen im Loccumer Pelikan 3/1996

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