Mein Glaubensvorbild: Johann Hinrich Wichern – Eine Predigt

Von Jutta Köster

 

Im 19. Jahrhundert weckt er die evangelische Kirche Deutschlands mit seinem sozialen Engagement aus dem Schlaf der Selbstgerechtigkeit. Und seine Botschaft ist klar und eindeutig: Taten der Liebe sind wichtiger als schöne Worte. Heute ist die evangelische Kirche ohne Herausforderungen von Nächstenliebe und Diakonie nicht mehr denkbar.

Das Elend im 19. Jahrhundert

Es ist einer der Abende, an denen ein junger Theologe seinem Tagebuch nur schreckliche Geschehnisse anvertrauen kann. Was er gesehen hat, ängstigt ihn, macht ihn sprachlos. In einer heruntergekommenen Wohnung in Hamburg St. Georg hat er eine verwahrloste Familie angetroffen. „Die Mutter ist nur bekleidet mit einem Baumwoll-Leibchen und einem Baumwoll-Rock, zum Teil zerlumpt. Vier Kinder treffe ich an, ein großer Bengel, August, 23 Jahre, ein groß gewachsenes Mädchen, Marie, 13 Jahre, ein Knabe, Heinrich, acht Jahre, und der kleine Hans mit seinen fünf Jahren. Alles zerlumpte, blasse Gestalten, klappernd vor Hunger und Frost. Ich habe in traurige, ausdruckslose Augen gesehen, ohne Hoffnung auf morgen. Der kranke Vater liegt mit Lungenentzündung im Bett. Feuer haben sie nicht mehr gehabt seit langer Zeit. Zu essen haben sie ein Stück Brotrinde, das sie sich teilen. Was für ein Elend.“ So seine Tagebuchaufzeichnungen.

Der junge Theologe ist niemand anderes als Johann Hinrich Wichern. 1832 ist er nach seinem Theologiestudium als frisch berufener Oberlehrer in der Sonntagsschule der evangelischen Gemeinde St. Georg eingesetzt. Mehr als 400 Kinder und Jugendliche sind hier zu betreuen. St. Georg – ein Quartier mit einer jahrzehntelangen Elendsgeschichte. Hierher hatte man schon im Mittelalter Lepra- und Pestkranke gebracht, hier stand auch der Hamburger Galgen, hier ist die Wohnungsnot besonders groß. Es ist eine lebensfeindliche, unfreundliche Gegend. Huren und Trinker machen sich dort die Nacht zum Tag. Haarsträubende Verhältnisse kommen Wichern zu Gesicht – Armut, Verwahrlosung, Gewalt. Und am meisten leiden die Kinder; es gibt keine Zukunft für sie.

Wichern muss handeln

Die Städtische Fürsorge mit ihren ehrenamtlichen Armenpflegerinnen und Armenpflegern ist schon seit langem vollkommen überfordert. Es scheint keinen zu interessieren. Wichern lässt das jedoch alles nicht kalt. Er sieht sich in seinem Glauben herausgefordert. Kein anderer als er selbst muss handeln, frei nach seinem Motto: „Was man will, muss man ganz wollen, halb ist es gleich nichts.“ Wichern sucht Unterstützer und findet sie. Er kann gegen eine günstige Miete eine als „Rauhes Haus“ bekannte Bauernkate erwerben und gründet im Hamburger Vorort Horn seine Anstalt „zur Rettung verwahrloster und schwer erziehbarer Kinder“, die zum Jahresende 1833 mit zwölf Jungen ihre Arbeit startet. Danach wächst die Zahl der Gruppen und mit ihr der Häuser rasch an. Wicherns Ideologie ist keine der damals üblichen Straferziehung, sondern eine religiöse Erziehung in der Gemeinschaft und ein Leben mit dem Evangelium, das von Liebe und Barmherzigkeit, Vergebung und Nächstenliebe spricht.

Die tägliche Praxis – das ist es, was für Wichern zählt. Es liegt ihm bei seinem Einsatz eigentlich fern, politische Reformen zu fordern, zumal er Armut als einen durch den Stand vorgegebenen, gleichsam natürlichen Zustand ansieht.

Sozialarbeit ist ureigene Aufgabe der Kirche

Trotzdem keimt in Wichern nach sechzehn Jahren sozialer Arbeit der Wunsch auf, nicht nur Menschen, sondern auch Strukturen zu verändern. Beim Kirchentag in Wittenberg im September 1848 hält Wichern spontan eine 75-minütige leidenschaftliche Rede, die als programmatisch für die moderne Diakonie gilt. Mit seinem zentralen Satz „Die Liebe gehört mir wie der Glaube!“ ruft er die evangelische Kirche auf, sich ihrer sozialen Verantwortung bewusst zu werden. Sozialarbeit gehört zur ureigenen Aufgabe der ganzen Kirche. Und er hat Erfolg. Ein deutschlandweiter „Centralausschuss für Diakonie“ wird gegründet, die Geburtsstunde der „Inneren Mission“. Seine ersten Ziele: Kampf gegen Revolution und Armut, Betreuung der Strafgefangenen, Schutz von jungen Frauen vor der Prostitution. Jetzt ist Wichern die zentrale Figur in der Organisation und Verknüpfung diakonischer Arbeit in Deutschland. Wicherns Reformideen reichen weit über die kirchlichen Institutionen hinaus. Er wird einer der Berater für das 1849 gegründete preußische Mustergefängnis Moabit, später dessen Direktor. Er wird vom König in die Berliner Kirchenleitung berufen, gründet 1858 die diakonische Ausbildungsstätte Brüderwerk Johannesstift. Gezeichnet von mehreren Schlaganfällen stirbt Wichern nach jahrelangem Leiden im Alter von 72 Jahren 1881 im Rauhen Haus in Hamburg.

Wicherns Erbe

Johann Hinrich Wichern – Theologe und Sozialpolitiker, Visionär und Pragmatiker, ein liebevoller Erzieher, nebenbei der Erfinder des Adventskranzes, vor allem aber ein engagierter Christ und nun auch Glaubensvorbild. Die Kirche verdankt ihm im 19. Jahrhundert die Wiederentdeckung ihres diakonischen Auftrags. Und was verdanken wir ihm?

Das Rauhe Haus von heute

Das Rauhe Haus ist weltweit bekannt. Mit seinen knapp 1.000 Mitarbeiter*innen, die rund 1.400 Menschen betreuen und fast 2.000 Schüler*innen und Student*innen ausbilden, ist die Stiftung an vielen Standorten in Hamburg und Umland vertreten. Das Rauhe Haus steht für: Betreuung von Kindern und Jugendlichen, von psychisch kranken Menschen in Wohngruppen, Menschen mit Behinderungen. Es gibt das Altenheim Haus Weinberg, die Wichern-Schule als evangelische Privatschule mit knapp 1.600 Schüler*innen, die evangelische Hochschule, die Brüder- und Schwesternschaft, das Institut für Soziale Praxis. Das Rauhe Haus – ein Gemeinschaftswerk über viele Generationen – in der Tradition Johann Hinrich Wicherns, ein Ort des christlichen Glaubens und einer diakonischen Stiftung.

Die Innere Mission von heute

Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges wurde das Hilfswerk der Evangelischen Kirche in Deutschland gegründet. Es erschloss Auslandshilfen und belebte ökumenische Kontakte, um die Hungersnot in Deutschland zu bekämpfen, Vertriebene und Flüchtlinge anzusiedeln und die Jugendberufsnot zu lindern.

Im Jahr 1975 vereinigten sich die Innere Mission und das Hilfswerk zum Diakonischen Werk der Evangelischen Kirche in Deutschland.

1959 begann die Evangelische Kirche in Deutschland die Aktion Brot für die Welt zur Unterstützung von Menschen in Not in den Entwicklungsländern. Später wurde diese Aktion zu einer permanenten Institution und wurde ins Diakonische Werk der Evangelischen Kirche in Deutschland integriert. Jedes Jahr zu Weihnachten gibt es seitdem eine große Spendenaktion.

In Deutschland ist in allen Bundesländern eine Vielzahl von Verbänden des Diakonischen Werks wie z.B. sozialpädagogische, fürsorgerische und pflegerische Heime, Anstalten und Einrichtungen entstanden.

Wichern als Glaubensvorbild für unser Leben

Wichern hat nicht zugesehen oder weggesehen, er hat angepackt, zugepackt. Er stand für seinen christlichen Glauben auf der Grundlage des Evangeliums und dem von Jesus Christus überlieferten sog. „Doppelgebot“ der Liebe: „Liebe Gott und deinen Nächsten wie dich selbst.“ Und diese Worte waren für ihn nicht nur theologische Fachsimpelei, sondern gelebter Glaube. Nächstenliebe und Solidarität, ja, das strahlte Johann Hinrich Wichern aus, dafür steht das Rauhe Haus noch heute: „Wir achten jeden Menschen, ungeachtet seiner Herkunft, Religion oder sozialen Stellung, als ein einmaliges und unverwechselbares Geschöpf Gottes. Wir haben Respekt vor seiner Würde und stärken seine Autonomie. Ursprung und Merkmal aller unserer Aktivitäten ist die christliche Nächstenliebe, solidarisches Engagement und die Entwicklung innovativer Angebote.“

Nächstenliebe und Solidarität

Wenn Johann Hinrich Wichern heute vor uns stehen würde, würde er uns sagen: Achtet auf euch, helft einander, schaut vor allem nicht weg, schaut auf die sozialen Ungerechtigkeiten. Die alleinerziehende Mutter von zwei Kindern in der Nachbarschaft: „Müde sieht sie aus, wenn sie aus der Arbeit kommt“, die ältere Dame von gegenüber: „Ich habe sie lange nicht gesehen“, ein kleiner verwahrloster Junge: „Warum Tom bloß immer allein auf dem Spielplatz ist?“

Es sind die Kleinigkeiten, die alles zu einem Großen zusammenwachsen lassen. Auch Wichern hatte klein angefangen und die Probleme von damals sind auch heute noch aktuell. Vielleicht nicht mehr so drastisch und offenkundig. Der Sozialstaat fängt einiges auf; die verwahrlosten, in Lumpen gekleideten Kinder gibt es nur noch selten bei uns. Dafür haben Kälte und Selbstbezogenheit in der Gesellschaft zugenommen. Aber es ist nicht nur das soziale Engagement, was an dem Glaubensvorbild Wichern beeindruckt, sondern auch seine innere Bindung an das Evangelium. Die Kombination macht den Unterschied aus.

Wie kein zweiter Theologe hat er registriert, wie chaotisch und ungerecht es in der Welt zugeht, wenn die Erinnerung an die Güte und Gnade Gottes und vor allem an die Würde des Menschen verblasst. Wie kein zweiter Theologe hat er uns gezeigt, dass das Christentum eine Religion nicht der Distanz, sondern der Liebe zum Menschen ist. Wie kein zweiter Theologe hat Wichern seiner Kirche die Augen für die sozialen Krisen der Zeit geöffnet und ihr mit der Inneren Mission ein in der Öffentlichkeit eigenständig auftretendes, verkündigendes, kreatives und vor allem aktives Christentum vorgelebt. Und dies ist in der Nachfolge von Jesus Christus, in der wir alle stehen, der einzig wahre christliche Weg: Ein aktives gelebtes Christentum!

Die Liebe gehört mir wie der Glaube

„Die Liebe gehört mir wie der Glaube!” Diese Worte Wicherns sind eine Lektion an den Protestantismus. Jeden Tag buchstabieren wir die Liebe neu, wann immer Christen, wann immer Kirche und Diakonie öffentlich für Menschen in Not eintreten und ihnen mit Herz und Sachverstand zu einem erfüllten Leben verhelfen“, so Pastor Dietrich Sattler, Vorsteher des Rauhen Hauses. Diesen Worten schließe ich mich an. Wegen dieser Worte habe ich mir Johann Hinrich Wichern als mein Glaubensvorbild ausgewählt und vorgestellt. „Die Liebe gehört mir wie der Glaube!“, das passt für mich und meinen Glauben – vielleicht auch für Sie?