Vom Vorbild zum Gegenüber – Ein Essay zu Jugend und Vorbildern

Von Wilfried Drews

 

Manche Jugendliche verehren Stars, manche himmeln sie an. Andere junge Menschen benennen Eltern, Geschwister, Verwandte oder Freunde als ihre Vorbilder. Jugendliche erweisen Vorbildern Anerkennung und Hochachtung, sei es, weil sie erfolgreich sind oder sie ein hohes Ansehen genießen. Sie identifizieren sich mit ihnen beispielsweise auf Grund besonderer Leistungen, bemerkenswerter Charakterzüge oder auf Grund von Eigenschaften, die sie selbst wertschätzen. Manche nutzen sie als Möglichkeit, um sich zu orientieren. Ebenso gibt es junge Menschen, die sagen, dass sie keine Vorbilder haben und diese bewusst ablehnen. Wieder andere können mit der Fragestellung gar nichts anfangen. Die Antwort auf die Frage nach der Beziehung von Jugendlichen zu Vorbildern kann ganz unterschiedlich ausfallen. All diese Einstellungen spiegeln sich in der außerschulischen Jugendbildung.

Jungsein wird individuell ganz unterschiedlich er- und ausgelebt. Die Erfahrungen junger Menschen hängen von vielfältigen Faktoren wie Sozialstatus, Einkommen, familiärem Hintergrund, sozialem Umfeld, körperlicher Konstitution, Religiosität, Neigungen, Interessen wie Beziehungen zu Gleichaltrigen ab. Da zeigt sich, dass es den*die Jugendliche*n nicht gibt.

So wird die Sichtweise, junge Menschen von außen zu beschreiben, fragwürdig, weil sich biografische Entwicklungen in diesem Alter sehr unterschiedlich ausgestalten. Um eine subjektive Perspektive aus Sicht von Jugendlichen in den Blick zu bekommen, müssten diese Menschen für sich selbst, aus ihrer eigenen Perspektive sprechen.

Aus den Begegnungen mit jungen Menschen in der Bildungsarbeit lässt sich jedenfalls schließen, dass es jungen Menschen gutzutun scheint, wenn sie für sich selbst das Wort ergreifen können und bei anderen Menschen Gehör finden.

Jugendlich sein heißt, von der Kindheit in vielfacher Art Abschied zu nehmen und in der Welt der Erwachsenen oftmals noch nicht auf Augenhöhe und gleichberechtigt anerkannt zu sein. Jugendliche*r zu sein, bedeutet mehr als eine Phase zwischen nicht mehr und noch nicht. Jugendliche beanspruchen für sich eine eigenständige Lebensphase. In dieser Zeit prägen sie ihre eigene persönliche Identität aus.

Individuelle Entwicklung Heranwachsender

Es kann nicht vorab davon ausgegangen werden, dass die Jugendphase eine Phase der Verunsicherung ist. Pubertät und Adoleszenz können auch als stärkend, anerkennend und kraftvoll erlebt werden. Reifung ist ein Zusammenspiel vielfältiger Veränderungen, die im Laufe der persönlichen Entwicklung individuelle Muster herausbilden. Körperliche, seelische, intellektuelle und soziale Veränderungen beeinflussen sich in Abhängigkeit von Lebenslagen. Diese Lebenslagen korrespondieren einerseits mit individuellen Zielsetzungen und andererseits mit gesellschaftlichen Erwartungen. Die individuellen Lebenslagen erfordern und bilden bestimmte Bewältigungsstrategien aus.

Auf dem Weg zum Erwachsenwerden weichen Vorbilder als Lernmodelle für Einstellungen, Werte, Verhalten oder Verhaltensrollen zugunsten einer Phase des Ausprobierens und des Experimentierens. Bedeutsam ist, wie die Umwelt darauf reagiert. Rückmeldungen aus dem direkten Umfeld nehmen Einfluss auf die Entwicklung. Dies kann sowohl sozial erwünschtes wie sozial nicht erwünschtes Verhalten zur Folge haben. Situative, soziale und individuelle Faktoren reagieren dabei auf hormonelle und physische Veränderungen.

Bestimmend und prägend bei der Beurteilung einer Situation oder eines Sachverhalts ist die Selbstwahrnehmung. Indem junge Menschen ihren Kontext und ihr Umfeld beeinflussen, erzeugen sie eine Resonanz, die die Identität moderiert. Bei der Konstitution wie bei der Modifikation der Identität stellt die Frage danach, wer ich bin, ein zentrales Auseinandersetzungsfeld dar.

Der Aufbau von Identität kann als multifaktoriell angesehen werden. Elternhaus, Geschwister, Freunde, Interessen, Bildung und materielle Ausstattung können darauf ebenso Einfluss haben wie die Identifikation mit Menschen, die ihnen als Vorbild erscheinen. Bei der Ausgestaltung der eigenen Persönlichkeit agieren diese Faktoren miteinander wie gegeneinander. Das Bild von der eigenen Person, das Selbstbild, entsteht durch die Rückmeldungen aus der Umwelt. Im Zusammenspiel und in Auseinandersetzung mit einer eigenen, inneren Beurteilung formt sich ein plastisches, lebendiges Selbstbild. So stehen die Heranwachsenden bei den Fragen: Wer bin ich? Wer bin ich für andere? Wer will ich sein? vor der Aufgabe, Identität zwischen einem realen, subjektiven und einem idealen, optativen Selbstbild auszubalancieren. In dieser Auseinandersetzung kommt der symbolischen Selbstvervollkommnung eine besondere Bedeutung zu.

Bei der symbolischen Selbstvervollkommnung werden einerseits Symbole jugendlicher Subkulturen wie Musikrichtungen und Kleidungsstile und andererseits Handlungssymbole der Erwachsenenwelt wie Rauch‑, Trink-, Sexual- und Sozialverhalten so gewählt, dass sie als Selbstdefinition der Umwelt vermitteln: „So bin ich!“

Gleichaltrige und Nichtgleichaltrige

Neben der Sozialisationsinstanz Familie gewinnt die Gruppe Gleichaltriger (peers) im Jugendalter an Bedeutung. Gleichaltrige können den Ablösungsprozess von den Eltern fördern und neue Formen von Beziehungen vermitteln. Peergroups gewähren Gleichheit, Anerkennung und Toleranz. Sie geben Möglichkeiten zur Selbstdarstellung wie zur Verwirklichung persönlicher Ziele. Sie integrieren Wünsche nach Unabhängigkeit und Abhängigkeit. Durch Freunde erleben junge Menschen emotionale Geborgenheit, Überwindung von Einsamkeit, Gleichheit, Identifikationsmöglichkeiten, soziale Freiräume und Bestätigung ihrer Person. Dies zeigt, welchen Stellenwert Menschen im gleichen Alter für die Entwicklung junger Menschen haben. Die Auseinandersetzung mit Gleichaltrigen enthält auch eine Bewältigungsanforderung, da Jugendliche zur Herausbildung ihrer Identität sich von anderen peers abgrenzen und unterscheiden wollen. Dies kann eine seelische Belastung bedeuten, wenn sie von anderen Jugendlichen Ablehnung, Ausgrenzung, Anfeindung oder Isolation erfahren.

Folgt man der Annahme, dass junge Menschen in ihrer Entwicklung und in ihrem Erleben ganz unterschiedlich sind, so lässt sich dennoch feststellen: Besonders bei jüngeren Jugendlichen im Alter von 12 bis 13 Jahren besteht ein erhöhter Druck, sich an die Gruppe anzupassen. Ängste und Befürchtungen bezüglich der Gruppenzusammengehörigkeit können in dieser Zeit besonders ausgeprägt sein. Festhalten lässt sich, dass Gleichaltrige die Beziehungsbedeutung der Familie ergänzen.

Jugendliche brauchen Menschen unterschiedlichen Alters, die ihnen zuhören und sie ernst nehmen. Für ein positives Selbstwertgefühl wie für den Aufbau von Vertrauen in die Welt brauchen sie als Gegenüber ältere wie jüngere Menschen, die ihnen Zutrauen in eigene Fähigkeiten und Anerkennung ihrer Person vermitteln. Jugendliche suchen Möglichkeiten, sich abzugrenzen ebenso wie Frei-Räume für die Auseinandersetzung mit Fragen, die sie betreffen. Das führt gesellschaftskritisch zu der Frage, ob und wie Vorbilder für Jugendliche sinnvoll erscheinen.

Jungsein zu Beginn des 21. Jahrhunderts

Wer zu Beginn des 21. Jahrhunderts aufwächst, kann die Erfahrung machen, dass Erwachsene vielfach keine Lösungen oder keinen Willen haben, um gestellte Herausforderungen zu bewältigen. Dies lässt sich an Beispielen wie Klimagerechtigkeit, Kriegsgefahr oder sozialer Absicherung im Alter aufzeigen. So entsteht bei manchen jungen Menschen der Eindruck, dass sie von der Erwachsenengeneration nicht viel erwarten können. Mitunter erleben sie, dass sie von ihnen allein gelassen werden und für Altlasten aufkommen müssen, die ihnen hinterlassen und aufgebürdet werden. Der Generationenvertrag scheint gebrochen zu sein. Jugendlichen begegnen sowohl glaubwürdigen wie unglaubwürdigen Erwachsenen. Sie können erfahren, dass Erwachsene von ihnen ein integres, angepasstes oder moralisches Verhalten fordern, während diese für sich selbst ganz andere Maßstäbe anlegen. Die Botschaften, die Jugendliche aus der Erwachsenenwelt erhalten, sind in der Summe widersprüchlich. Dies stellt junge Menschen vor die Herausforderung, in der Vielfalt der Stimmen diejenigen herauszuhören, die für sie etwas zu sagen haben.

Prinzipiell kann jeder Mensch für jeden anderen als Vorbild fungieren. Jede*r stellt für jeden anderen Menschen ein Bild dar, das im Prozess der Beurteilung vorgestellt und bewertet wird. Das Bild vom anderen stellt man gleichsam vor sich hin. Das eigene Urteilsvermögen entscheidet in einem inneren Prüfprozess immer wieder neu, wie das Bild des Gegenübers, des anderen zu bewerten ist. Damit wird der Gedanke über den Sinn von Vorbildern obsolet, weil die Auswahl, wen sich der junge Mensch zum Vorbild nimmt oder gerade nicht zum Vorbild nimmt, beliebig ist.

Wollen junge Menschen ihr Urteilsvermögen schärfen und Mündigkeit erfahren, dann spielen stabile, verlässliche, zugewandte Beziehungen eine Rolle. Jugendliche suchen Begegnungen auf Augenhöhe, in denen sie als Heranwachsende ernst genommen werden. Ehrliche, glaubwürdige, eigenständige und einfühlende Menschen, gleich welchen Alters, können zur Entwicklung einer eigenständigen Identität Auskunft geben. Begegnungen mit solchen Menschen bieten Anregungen, psychische Widerstandsfähigkeit gegenüber den Herausforderungen des Lebens zu entwickeln. In einer widersprüchlichen Welt können die anderen dazu beitragen, dass Jugendliche einen inneren Maßstab herausbilden, der es ihnen ermöglicht, nach eigenem Vermögen, ohne Abhängigkeit von äußeren Autoritäten, zu urteilen und zu handeln.

Vor dem Hintergrund, dass eine Kombination der Faktoren persönliche Reifung, Lebenslagen und Umwelt stressauslösend wirken kann, kommt den Begegnungen mit anderen Menschen eine weitere Bedeutung zu. Bereits bei Lebenslagen mit zwei Risikofaktoren vervierfacht, bei vier Faktoren verzehnfacht sich das Wahrscheinlichkeitsrisiko einer seelischen Überlastung. In Situationen multipler Risikobelastungen sind junge Menschen auf hinreichende Bewältigungsstrategien angewiesen, um sich gegenüber seelischen Verletzungen zu schützen. Die Ausbildung hilfreicher Bewältigungsformen ebenso wie eine realistische Vorstellung der eigenen Fähigkeiten hängen davon ab, wie Heranwachsende die Beziehungen zu anderen Menschen bewerten und welche Schlüsse sie aus diesen Begegnungen ziehen.

Die Art und Weise der Beziehungen kann prägenden Einfluss darauf nehmen, wie junge Menschen sich einerseits gegenüber Vulnerabilität schützen lernen und wie sie andererseits für ihr eigenes Leben Verantwortung übernehmen. In der Verantwortungsübernahme gegenüber anderen vermögen sie sich als selbstwirksam zu erleben. Wohlwollende, wertschätzende Bezugspersonen und ein gemeinschaftliches Eingebunden-Sein bilden hier die Grundlage, um sich als mündige Personen entfalten zu können.

Zusammenfassend kann man sagen, dass es offen ist, ob sich junge Menschen ein Vorbild nehmen und wer dafür infrage kommt. In einer komplexen, widersprüchlichen Welt werden sie sich wohl diejenigen Menschen am ehesten als Gegenüber aussuchen, die ihnen authentisch erscheinen.