Meine muslimische Nachbarin – oder: Weshalb das Thema Islam nicht Abiturthema in Evangelischer Religion sein sollte

von Bärbel Husmann

 

Seit 1985 gibt es in den evangelischen Rahmenrichtlinien für die Oberstufe das Lernfeld B. "Religionen und Weltanschauungen im Gespräch". Im Rahmen dieses obligatorischen Lernfeldes sollen schon seit nunmehr zwanzig Jahren Themen unterrichtet werden, bei denen die Schülerinnen und Schüler "zur sachgemäßen Auseinandersetzung mit Andersgläubigen, anderen Religionen und Weltanschauungen befähigt werden". Was liegt näher, als dieses Lernfeld durch eine Religion abzudecken, die "nah" ist? Viele Schülerinnen und Schüler kommen in ihrer Lebenswelt, wenn überhaupt mit "fremder" Religion, mit Menschen muslimischen Glaubens in Berührung. In den Medien wird "der Islam", vor allem nach den Anschlägen vom 11. September 2001, eher als drohende Gefahr präsentiert denn als Nachbarschaftsreligion. Deshalb sind Aufklärung und Dialog wichtig, denn es gibt für das Zusammenleben in einer offenen Gesellschaft keine Alternative zum Dialog.

Damit sind drei gewichtige Begründungen für den Themenschwerpunkt "Interreligiöser Dialog zwischen Christentum und Islam" gegeben: ein curricularer (Rahmenrichtlinien), ein didaktischer (Lebensweltbezug) und ein politisch-pädagogischer (Aufklärung).

Wer aber führt den Dialog mit wem? Ich zum Beispiel führe kleine Dialoge mit meiner alten, türkischen Nachbarin, wenn ich sie im Treppenhaus treffe. Sie ist geschieden und lebt allein mit ihrem halbwüchsigen Sohn, spricht wenig Deutsch, obgleich sie schon viele Jahre in Deutschland lebt. Von Religion hält sie nichts, reine Männerwirtschaft sei das, sie müsse nicht in die Moschee rennen, um ein guter Mensch zu sein. Und vom Heiraten hält sie auch nichts. Allein sei man sowieso. Sie ist allein, weil sie durch ihre Scheidung aus allen familiären Verbünden herausgefallen ist. Ein Kopftuch hat sie nie getragen.

Solche Dialoge sind wohl nicht in den curricularen Vorgaben gemeint, vielmehr ist die Rede vom Dialog zwischen Christentum und Islam. Damit ist in den thematischen Schwerpunkten eine bestimmte religionspädagogische Tradition angesprochen, die jene Theologie der Religionen aufnimmt, die sich ab Ende der 1980er Jahre die Überwindung des Missionsbegriffs zu Eigen gemacht hat und die durch Begriffe wie "Ökumene", "Projekt Weltethos" und "Dialog der Religionen" gekennzeichnet ist. Religionspädagogisch fand eine Orientierung am Experten-Dialog statt. Sind aber die unterrichtenden Lehrkräfte kleine "Experten" – von den Schülerinnen und Schülern einmal ganz abgesehen? Was ist "Christentum", was "Islam"? Wer die christlichen und muslimischen Korrespondenzbeiträge in der entsprechenden Arbeitshilfe1 liest, wird schnell feststellen, dass es "das" Christentum und "den" Islam nicht gibt. Für fast alle Themen sind Gegenpositionen innerhalb jeder der beiden Religionen denkbar, im Bereich der evangelischen Beiträge befänden sich die Gegenpositionen in einer Minderheitensituation, im Bereich der muslimischen Beiträge (und hier eben nicht mehr differenziert in verschiedene Konfessionen) spiegeln die Beiträge selbst eine Minderheitenposition. Christliche Theologie blickt auf etliche hundert Jahre historisch-kritischer Forschung zurück. Für den Islam ist der Koran göttliche Offenbarung (für Christen ist Jesus Christus "das eine Wort Gottes"). Es gibt heute eine kaum überbrückbare Differenz zwischen Islamwissenschaft westlicher Prägung (im Rahmen der Religionswissenschaft) und traditioneller muslimischer Koranauslegung (im Rahmen islamischer Theologie). Für den Unterricht in der gymnasialen Oberstufe gibt es im Grunde nur das Dilemma, entweder auf muslimische Selbstzeugnisse zu verzichten oder aber dem wissenschaftspropädeutischen Ansatz des Religionsunterrichts nicht gerecht werden zu können.

Hinzu kommt: Der Erwerb von Kompetenzen im Bereich Religions- (bzw. Islam-)wissenschaft ist weder in der ersten noch in der zweiten Phase der Lehrerbildung verankert. Natürlich darf niemand auf dem Stand dieser beiden Examina stehen bleiben, und ein Satz wie "Ich habe nun wirklich keine Lust, mich mit diesem Zeug zu beschäftigen" ist selbstverständlich völlig unakzeptabel. Dennoch frage ich mich: Wie und wann sollen Lehrkräfte diese Kompetenzen erwerben? Die Prüfungsrelevanz des Themas verschärft das Problem. Ohne die Vorgabe Zentralabitur könnte tatsächlich ein Konzept gemeinsamen Lernens von Lehrpersonen und Jugendlichen das Dilemma mildern. Wir könnten mit dem Mut zur Lücke dazu stehen, dass wir kompetente Gesprächspartner für den Dialog, nicht aber für den Islam sind. Es bleibt ja auch nichts anderes übrig, als eben dies zu tun: sich mit den Schülerinnen und Schülern gemeinsam auf einen Lernweg zu begeben. Aber ich bleibe dabei: Das Abitur ist kein geeigneter Anlass, um solche Lernwege zu initiieren – von der Frage einmal ganz abgesehen, ob hochkomplexe, gesellschaftlich relevante Themen im Religionsunterricht erschlossen werden müssen. Scheint da nicht ein bisschen zu viel Moral und ein bisschen zu viel aufklärerischer Impetus durch? Als könnten wir die Medien und die Welt und die Schülerinnen und Schüler mit unserem Unterricht auf den rechten Weg geleiten. Ich muss allerdings zugeben: Auch ich hätte nicht so viel im Bereich des interreligiösen Dialogs mit dem Islam gelernt, hätte es nicht diese thematischen Vorgaben für das Zentralabitur 2006 gegeben.

 

 Anmerkungen

  1.  Christoph Dahling-Sander/Bärbel Husmann/Heike Scheiwe (Hg.): So fremd – so nah. Dialog zwischen Christentum und Islam, Loccum/Hannover, 2005

Text erschienen im Loccumer Pelikan 3/2005

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