Wer bin ich? - Bausteine für eine fächerverbindende Unterrichtseinheit in der Kursstufe

von Bärbel Husmann

 

Zum Verhältnis von Identität und Fragment

Der Titel der Unterrichtseinheit ist dem Kapitel "Identität und Fragment" des letzten Buches von Henning Luther entlehnt. Luther, 1991 kurz vor seinem 44. Geburtstag verstorben, war seit 1986 Professor für Praktische Theologie in Marburg; sein Buch mit dem Titel "Religion und Alltag" lag bei seinem Tod druckfertig vor.

Henning Luther hat seinem Kapitel den Text "Wer bin ich?" von Dietrich Bonhoeffer vorangestellt, ein Gedicht, das Bonhoeffer seinem Brief an Eberhard Bethge vom 8.7.1944 beilegte, nur wenige Monate vor seinem gewaltsamen Tod am 9. April 1945. Bonhoeffer war damals 39 Jahre alt.

Ob die jeweilige Todesnähe mit der positiven Würdigung von Fragmentarischem etwas zu tun hat, mag dahingestellt bleiben. Wenn die Schüler und Schülerinnen etwas von dieser Unterrichtseinheit mitnähmen, das auf eine Versöhnung mit Unvollkommenem zielte, sie vielleicht von dem Druck befreite, die Verwirklichung ihres Selbst "auf Teufel komm raus" ganz und gar selbst leisten zu müssen, dann hätten sie nicht nur ein entscheidendes theologisches Denkmodell kennen gelernt und für sich selbst handelnd erschlossen, sondern wären im besten Fall auch ein wenig entlastet worden.

Für die fotografischen Umsetzungen ist es nötig, mit den SchülerInnen Vorübungen zu machen, damit sie eine gewisse Unbefangenheit gewinnen können, die nötig ist, um MitschülerInnen zu fotografieren bzw. sich selbst fotografieren zu lassen. Eine solche Vorübung1 ist z.B.:

Zwei Schüler und Schülerinnen stehen einander gegenüber. Sie haben die Aufgabe miteinander zu kommunizieren, in dem der/die eine (nur) "Ja" sagt, der/die andere (nur) "Nein". Die Lautstärke und Modulation des Sprechens kann und soll variiert werden, dem Einsatz von Mimik und Gestik sind keine Grenzen gesetzt. Während der Übung wird bereits probeweise (von einer dritten Schülerin/einem dritten Schüler) fotografiert. Alle Beteiligten sollen beide Rollen (die des Fotografierens und des Fotografiertwerdens) ausprobieren. Für die Übung und die anschließenden fotografischen Aufgaben benötigt man Platz, am besten einen Raum ohne Bestuhlung mit freundlicher Atmosphäre.

Anregungen für fotografisch-fragmentarische Inszenierungen habe ich den Fotografien von Nathan Beck und Ralph Gibson in Perspektiven Religion. Arbeitsbuch für die Sekundarstufe II, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2000, S. 165 und 167 entnommen. Viele Anregungen habe ich auch meinen ehemaligen SchülerInnen am Augustin-Wibbelt-Gymnasium in Warendorf2 zu verdanken.

M1

Wer bin ich?

Wer bin ich? Sie sagen mir oft,
ich träte aus meiner Zelle
gelassen und heiter und fest
wie ein Gutsherr aus seinem Schloss.

Wer bin ich? Sie sagen mir oft,
ich spräche mit meinen Bewachern
frei und freundlich und klar,
als hätte ich zu gebieten.

Wer bin ich? Sie sagen mir auch,
ich trüge die Tage des Unglücks
gleichmütig, lächelnd und stolz,
wie einer, der Siegen gewohnt ist.

Bin ich das wirklich, was andere von mir sagen?
Oder bin ich nur das, was ich selbst von mir weiß?
Unruhig, sehnsüchtig, krank, wie ein Vogel im Käfig,
ringend nach Lebensatem, als würgte mir einer die Kehle,
hungernd nach Farben, nach Blumen, nach Vogelstimmen,
dürstend nach guten Worten, nach menschlicher Nähe,
zitternd vor Zorn über Willkür und kleinlichste Kränkung,
umgetrieben vom Warten auf große Dinge,
ohnmächtig bangend um Freunde in endloser Ferne,
müde und leer zum Beten, zum Denken, zum Schaffen,
matt und bereit, von allem Abschied zu nehmen?

Wer bin ich? Der oder jener?
Bin ich denn heute dieser und morgen ein andrer?
Bin ich beides zugleich? Vor Menschen ein Heuchler
und vor mir selbst ein verächtlich wehleidiger Schwächling?
Oder gleicht, was in mir ist, dem geschlagenen Heer,
das in Unordnung weicht vor schon gewonnenem Sieg?

Wer bin ich? Einsames Fragen treibt mit mir Spott.
Wer ich auch bin, Du kennst mich, Dein bin ich, o Gott!

aus: Dietrich Bonhoeffer: Widerstand und Ergebung. Neuausgabe, München: Chr. Kaiser Verlag, 2. Auflage 1977, S. 381f. (Beilage zum Brief an Eberhard Bethge vom 8.7.1944)
 

Anregungen für die Bearbeitung:

  1. Informieren Sie sich im Lexikon oder in Ihrem Religionsbuch über Dietrich Bonhoeffer und ordnen Sie sein Gedicht zeitlich ein.
  2. Einigen Sie sich zu dritt auf eine Frage aus dem Gedicht (z.B. Zeile 13 oder 25), die Sie besonders anspricht, und versuchen Sie, für sich selbst darauf eine begründete Antwort zu formulieren.
  3. Schreiben Sie ein eigenes Gedicht mit dem Titel "Wer bin ich?"

 

M2

Henning Luther: Identität und Fragment

Der Begriff des Fragments entstammt dem ästhetischen Vorstellungsrahmen. Er lässt sich aber insofern auf unseren Diskussionskontext übertragen, als vielfach der Sozialisations- und Personalisationsvorgang implizit wie ein künstlerischer Gestaltungsprozess verstanden wird, über dessen Ergebnis ähnlich wie bei Kunstwerken nach bestimmten Kriterien der Gelungenheit befunden wird. Der Begriff des Fragments kontrastiert dem der Totalität, also der in sich geschlossenen Ganzheit, der Einheitlichkeit und dauerhaften Gültigkeit.

Herrschender, klassischer Kunstauffassung erscheint das Fragment als defizienter Modus, so dass der Begriff des Fragments als Negativurteil für nicht gelungene, unvollständig gebliebene oder zerstörte Werke verwendet werden konnte.

Mindestens zwei Bedeutungen des Fragments sind dabei zu unterscheiden.

Da sind zum einen Fragmente als Überreste eines zerstörten, aber ehemals Ganzen, der Torso, die Ruine, also die Fragmente aus Vergangenheit.

Zum anderen sind da die unvollendet gebliebenen Werke, die ihre endgültige Gestaltungsform nicht – noch nicht – gefunden haben, also die Fragmente aus der Zukunft.

Fragmente – seien es die Ruinen der Vergangenheit, seien es die Fragmente aus Zukunft – weisen über sich hinaus. Sie leben und wirken in Spannung zu jener Ganzheit, die sie nicht sind und nicht darstellen, auf die hin aber der Betrachter sie zu ergänzen trachtet. Fragmente lassen Ganzheit suchen, die sie selber aber nicht bieten und finden lassen.

Von Fragmenten geht daher eine Bewegung der Unruhe aus, die nicht zu einem definitiven Stillstand führt. Hierin mag gerade für die nichtklassizistischen Künstler wie z.B. die Romantiker der besondere Reiz des Fragments gelegen haben, dem sie gegenüber der abgeklärten Ruhe des glatten, vollendeten Kunstwerks den Vorzug gaben.

Ich will nun versuchen, diese wenigen Bemerkungen zur Ästhetik des Fragments auf die Problematik der Ich-Entwicklung anzuwenden. Hinsichtlich einzelner Rollen, die der einzelne in seinem Leben (in Beruf, Familie etc.) zu erfüllen hat, mag es angebracht sein, die Bewältigung dieser Aufgaben analog zur Gestaltung von Kunstwerken nach Kriterien der Gelungenheit, d.h. als abgerundete, ganze Werke zu beurteilen.

Blickt man jedoch auf menschliches Leben insgesamt, d.h. sowohl in seiner zeitlichen Erstreckung als auch in seiner inhaltlichen Breite, so scheint mir einzig der Begriff des Fragments als angemessene Beschreibung legitim.

Dieser umfassende Blick auf menschliches Leben, der auch die Perspektive auf das Leben in sozialen Gefügen – seine gesellschaftliche Vermitteltheit – übersteigt, ist freilich ein metaphysischer, den m.E. Erikson und Mead im kategorialen Rahmen ihrer Theorien nicht berücksichtigen können.

Die nicht vorhersehbare und planbare Endlichkeit des Lebens, die jeder Tod markiert, lässt Leben immer zum Bruchstück werden. Der Tod vernichtet prinzipiell die Möglichkeit einer in sich runden, ganzheitlichen Gestaltung des Gesamtlebens – es sei denn, man plane den Tod in seine Lebensgestaltung in Form des Freitodes mit ein.

Der Tod bricht nicht nur das Leben für den Sterbenden ab, sondern immer auch in Teilen für die, die mit ihm gelebt haben.

Das Fragmentarische charakterisiert nun die Identität des einzelnen in beiden oben bereits genannten Aspekten: sie ist sowohl ein Fragment aus Vergangenheit als auch ein Fragment aus Zukunft.

Die entwicklungspsychologische Perspektive auf die Ich-Entwicklung könnte dazu verführen, Ich-Entwicklung als Wachstumsprozess (Reifung) zu verstehen und dabei die Verlustgeschichte zu unterschlagen. Mir scheint es aber eine metaphysische Illusion zu sein, jeweils erreichte Entwicklungsstadien menschlichen Lebens im Idealfall nur als Fortschrittsprozess zu verstehen und nicht zu sehen, dass damit immer zugleich Verluste, Brüche mit Vorausgegangenem gegeben sind.

Wir sind immer zugleich auch gleichsam Riten unserer Vergangenheit, Fragmente zerbrochener Hoffnungen, verronnener Lebenswünsche, verworfener Möglichkeiten, vertaner und verspielter Chancen. Wir sind Ruinen aufgrund unseres Versagens und unserer Schuld ebenso wie aufgrund zugefügter Verletzungen und erlittener und widerfahrener Verluste und Niederlagen. Dies ist der Schmerz des Fragments.

Andererseits ist jede erreichte Stufe unserer Ich-Entwicklung immer nur ein Fragment aus Zukunft. Das Fragment trägt den Keim der Zeit in sich. Sein Wesen ist Sehnsucht. Es ist auf Zukunft aus. In ihm herrscht Mangel, das Fehlen der ihn vollendenden Gestaltung. Die Differenz, die das Fragment von seiner möglichen Vollendung trennt, wirkt nun nicht nur negativ, sondern verweist positiv nach vorn. Aus ihm geht eine Bewegung hervor, die den Zustand als Fragment zu überschreiten sucht. Insofern trifft auf die sich als Fragment begreifende Ich-Identität konstitutiv das Merkmal der "Selbsttranszendenz" zu, die Wolfhart Pannenberg als wesentlich für das Selbstbewusstsein herausgestellt hat. Selbsttranszendenz ist aber nur dann möglich, wenn die Ich-Identität gerade nicht als vollständige und dauernde, sondern nur als fragmentarische verstanden ist.

aus: Henning Luther: Identität und Fragment, in: ders.: Religion im Alltag. Bausteine zu einer praktischen Theologie des Subjekts, Stuttgart: Radius-Verlag 1992, S. 160-182

 

Anregungen für die Bearbeitung:

  1. Stellen Sie Meditationsmusik an und stellen Sie sich vor, Ihr Leben sei in absehbarer Zeit zu Ende. Verfassen Sie einen (letzten) Tagebucheintrag von maximal 2 Seiten unter der Überschrift "Mein Leben".
  2. Tauschen Sie in Dreiergruppen Ihre Erfahrungen beim Schreiben Ihres Lebensrückblickes aus. Gehen Sie dabei so vor, dass Sie zunächst jede(r) berichten, ob und weshalb Ihnen die Aufgabe schwer oder leicht fiel, und dann in einem zweiten Schritt, ob und weshalb Sie Ihr Leben als Fragment bezeichnen könnten.
  3. Einigen Sie sich auf eine Hauptaussage in dem Textauszug von Henning Luther und diskutieren Sie sie im Plenum. Fassen Sie Ihre begründete Meinung zu Luthers Aussage anschließend in maximal drei Sätzen zusammen.

 

M3

Dietrich Bonhoeffer: Aus einem Brief

Je länger wir aus unserem eigentlichen beruflichen und persönlichen Lebensbereich herausgerissen sind, desto mehr empfinden wir, dass unser Leben – im Unterschied zu dem unserer Eltern – fragmentarischen Charakter hat. Die Darstellung der großen Gelehrtengestalten des vorigen Jahrhunderts in Harnack’s "Geschichte der Akademie" macht mir das besonders deutlich und stimmt einen fast wehmütig. Wo gibt es heute noch ein geistiges "Lebenswerk"? Wo gibt es das Sammeln, Verarbeiten und Entfalten, aus dem ein solches entsteht? Wo gibt es noch die schöne Zwecklosigkeit und doch die große Planung, die zu einem solchen Leben gehört? Ich glaube, auch bei Technikern und Naturwissenschaftlern, die als einzige noch frei arbeiten können, existiert so etwas nicht mehr. Wenn mit dem Ende des 18. Jahrhunderts der "Universalgelehrte" zu Ende geht und im 19. Jahrhundert an die Stelle der extensiven Bildung die intensive tritt, wenn schließlich aus ihr sich gegen Ende des vorigen Jahrhunderts der "Spezialist" entwickelt, so ist heute eigentlich jeder nur noch "Techniker" – selbst in der Kunst (in der Musik von gutem Format, in Malerei und Dichtung nur von höchst mäßigem!). Unsere geistige Existenz aber bleibt ein Torso. Es kommt wohl nur darauf an, ob man dem Fragment unseres Lebens noch ansieht, wie das Ganze eigentlich angelegt und gedacht war und aus welchem Material es besteht. Es gibt schließlich Fragmente, die nur noch auf den Kehrrichthaufen gehören (selbst eine anständige "Hölle" ist noch zu gut für sie) und solche, die bedeutsam sind auf Jahrhunderte hinaus, weil ihre Vollendung nur eine göttliche Sache sein kann, also Fragmente, die Fragmente sein müssen – ich denke zum Beispiel an die Kunst der Fuge. Wenn unser Leben auch nur ein entfernter Abglanz eines solchen Fragmentes ist, in dem wenigstens eine kurze Zeit lang die sich immer stärker häufenden, verschiedenen Themata zusammenstimmen und in dem großen Kontrapunkt vom Anfang bis zum Ende durchgehalten wird, so dass schließlich nach dem Abbruch – höchstens noch der Choral: "Vor Deinen Thron tret ich hiermit" [Joh. Seb. Bachs unvollendet gebliebene, abgebrochene "Kunst der Fuge" wurde mit diesem Choral als Schluss überliefert, Anm. d.Verf.] – intoniert werden kann, dann wollen wir uns auch über unser fragmentarisches Leben nicht beklagen, sondern daran sogar froh werden.

aus: Dietrich Bonhoeffer: Widerstand und Ergebung. Neuausgabe, München: Chr. Kaiser Verlag, 2. Auflage 1977, S. 245f. (Brief an Eberhard Bethge vom 23.2.1944)

 

Anregungen für die Bearbeitung:

  1. Beschreiben Sie die Kennzeichen eines fragmentarischen Lebens nach Dietrich Bonhoeffer und nach Henning Luther (M2).
  2. Henning Luther hat seinen Überlegungen zum Fragment diesen Briefausschnitt Bonhoeffers vorangestellt. Erläutern Sie, inwiefern sich Luther inhaltlich auf Bonhoeffer berufen kann.

 

M4

Zerschnittene Kunst bei Paul Klee

Die Ausstellung [Im Zeichen der Teilung. Die Geschichte zerschnittener Kunst Paul Klees, Anm. d. Verf.] verfolgt seine weitgehend unbekannte Verfahrensweise, bereits fertiggestellte Werke in zwei oder mehrere Teile zu zerschneiden und diese sodann als selbständige Kunstwerke zu präsentieren. ... Beschnittene, ausgeschnittene und zu Gruppen zusammengestellte Blätter finden sich in Klees Œuvre seit 1902. Selbst kleine abgeschnittene Stücke scheinen für ihn noch den Charakter eines "Wertpapiers" gehabt zu haben; in diesem Sinn wenigstens schrieb er am 9. November 1905 an seine spätere Frau Lily Stumpf: "Jedes Restchen meiner Zeichnungen will ich anlegen, nichts soll übrig bleiben. Der Papierkorb muss zur Tür hinaus." Einige solcher Werke, zu denen sich Klee in seiner Beschäftigung mit dem Impressionismus von ostasiatischer Kunst anregen ließ, stehen am Anfang der Ausstellung. In einer auf Anfang 1911 datierten Tagebuchnotiz setzt sich Klee von der impressionistischen Ausschnitttechnik ab, von der er zum Teil ausgegangen war, die er jedoch mit seinen methodischen, technischen Experimenten hinter sich gelassen hatte: "Manches vollendete ich zum Schluss kompositorisch nach dem [eingefügt: pseudo-impressionistischen] Grundsatz ‘was mir nicht passt, schneide ich mit der Schere weg’." Im entscheidenden Moment ist die gestalterische Schnitt-Technik Ausdruck einer Selbstkritik. Darin unterscheidet sie sich prinzipiell vom Verfahren der Montage und Collage, wie es Klees Zeitgenossen praktizierten. In diesem Sinn dehnte Klee von 1911 bis 1915 das Beschneiden sogar auf seine Kinderzeichnungen aus. Danach praktizierte er die Schnitt-Technik wie selbstverständlich bis an sein Lebensende. In Phasen persönlicher wie historischer Umbrüche intensivierte er sie. ... Klee verstand sein scheinbar destruktives Verfahren der Zerteilung bereits fertiggestellter Kompositionen analog zur natürlichen Zellteilung und zu organischen Wachstumsprozessen. ... Klees künstlerische Arbeit verlief allerdings keineswegs immer in gleichsam organisch fortschreitenden Prozessen, sondern oft in einem dynamischen Hin und Her, bei dem es nicht um Wachstum ging, sondern um Fortschritt und Scheitern. Was Klee dabei aufgegeben hat und was er kreativ ausgebaut hat, zeigt die Geschichte der zerschnittenen Kunst.

aus: Wolfgang Kersten und Osamu Okuda: Paul Klee. Im Zeichen der Teilung. Die Geschichte zerschnittener Kunst Paul Klees 1883-1940. Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen und Staatsgalerie Stuttgart (Katalog) 1995, S. 11-13 (Einleitung), S. 314 ("Abschied nehmend", 1938) und S. 366 (Rekonstruktion des unzerschnittenen Bildes)

 

 

Rekonstruktion von 1938. 348, 1938. 350 und 1938. 352

Abschied nehmend, 1938. 352 (12)
Schwarze Kleisterfarbe Packpap., 50.7 x 7,3 / 9,3 cm

 Anregungen für die Bearbeitung:

  1. Informieren Sie sich im Lexikon oder in Ihrem Kunstbuch über Paul Klee und ordnen Sie sein Bild "Abschied nehmend" zeitlich ein.
  2. Henning Luther wird von Paul Klees Schnitt-Technik nichts gewusst haben, da diese bis 1995 weitgehend unbekannt war. Führen Sie einen fiktiven Dialog zwischen beiden, in dem jeder sowohl seine eigene Position entfaltet als sich dabei auch auf den jeweils anderen bezieht. Machen Sie sich dafür zuvor ein schriftliches Konzept, das Stichworte zur jeweiligen Position und zu Berührungspunkten zwischen Klee und Luther enthält. (Oder: Diskutieren Sie, ob es zwischen Luthers Konzept vom "Leben als Fragment" und Paul Klees Konzept der Neuschöpfung durch Zerschneiden Berührungspunkte gibt. Halten Sie anschließend Ihre begründete Meinung zu dieser Frage in maximal drei Sätzen schriftlich fest.)
  3. Schreiben Sie eine kurze Bildmeditation zu Klees "Abschied nehmend" (vielleicht für das Gemeindeblatt Ihrer Kirchengemeinde).

 

M5a

Das biblische Bilderverbot

Und Gott redete alle diese Worte: Ich bin der Herr, dein Gott, der ich dich aus Ägyptenland, aus der Knechtschaft, geführt habe. ... Du sollst dir kein Bildnis noch irgendein Gleichnis [im Sinne von Abbild, Anm. d.Verf.] machen, weder von dem, was oben im Himmel, noch von dem, was unten auf Erden, noch von dem, was im Wasser unter der Erde ist.

aus: 2. Buch Mose 20, 1-2.4

 

M5b

Max Frisch: Aus einem Tagebucheintrag

Es ist bemerkenswert, dass wir gerade von dem Menschen, den wir lieben, am mindesten aussagen können, wie er sei. Wir lieben ihn einfach. Eben darin besteht ja die Liebe, das Wunderbare an der Liebe, dass sie uns in der Schwebe des Lebendigen hält, in der Bereitschaft, einem Menschen zu folgen in allen seinen möglichen Entfaltungen. Wir wissen, dass jeder Mensch, wenn man ihn liebt, sich wie verwandelt fühlt, wie entfaltet, und dass auch dem Liebenden sich alles entfaltet, das Nächste, das Bekannte. Vieles sieht er wie zum ersten Male. Die Liebe befreit es aus jeglichem Bildnis. Das ist das Erregende, das Abenteuerliche, das eigentlich Spannende, dass wir mit den Menschen, die wir lieben, nicht fertig werden: weil wir sie lieben; solang wir sie lieben.

aus: Max Frisch: Tagebuch 1946-1949, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1980, S. 31
 

Anregungen für die Bearbeitung:

  1. Informieren Sie sich im Lexikon und bei Ihren MitschülerInnen über die Bedeutung, die das biblische Bilderverbot im Christentum evangelisch-reformierter, evangelisch-lutherischer und katholischer Prägung sowie im Islam und im Judentum spielt.
  2. Diskutieren Sie die verschiedenen Auslegungen und Umgangsweisen, indem Sie die Vor- und Nachteile der jeweiligen Position einander gegenüberstellen. Beziehen Sie den Text von Max Frisch in Ihre Argumentationen mit ein.
  3. Fotografieren Sie sich gegenseitig (Schwarz-Weiß-Film!), indem Sie

    a) Teile Ihres Gesichtes mit schwarzer Pappe abdecken, in die Sie ein Loch geschnitten oder gerissen haben, so dass Sie nur "im Fragment" bzw. "abgeschnitten" zu sehen sind (vgl. das Beispiel S. 114), oder/und indem Sie

    b) viele kleine Fotografien von Teilen Ihrer selbst (mehrere Fotografien Ihrer Hände, Ihrer Beine, Ihres Körpers, Ihres Gesichtes usw.) zu einer Collage zusammenfügen (vgl. das Beispiel S. 126).


Anmerkungen

  1. Diese Übung verdanke ich meinem ehemaligen Kunst-Kollegen Holger Hartmann in Warendorf. Von ihm stammen auch die Ideen unter Punkt 3 der "Anregungen für die Bearbeitung" bei (M5).
  2. TeilnehmerInnen am Grundkurs Ev. Religionslehre und am Grundkurs Kunst, 13. Jahrgang, Schuljahr 2000/01.

Text erschienen im Loccumer Pelikan 3/2002

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