„Schuld – was ist das ?“ - Eine Unterrichtseinheit für den RU an BBS zum Thema Schuld - Strafe - Versöhnung

von Evelyn Schneider 

 

A . „Dead Man Walking“ Ein Film [1] über den Maßstab für Schuld

„Toter Mann kommt“ so hallt es über den Linoleum-Flur eines Todestraktes in einem Gefängnis in den USA. Entsprechende Geräusche begleiten den Ruf: das Einrasten von Gittertüren, das Klappern von Schlüsseln, das Rasseln von Fuß- und Handketten. Der „tote Mann“ hat einen Namen: Matthew Poncelet. Für die Wärter, die ihn zum Exekutionsraum führen, ist er bereits tot, bevor ihm die Giftspritze injiziert wird.

Poncelet ist angeklagt wegen Vergewaltigung und Mordes an zwei Jugendlichen. Zusammen mit einem Freund hatte er diese grausame Tat in einem Waldstück begangen. Aber es geht zu wie schon bei Adam und Eva: Beide schieben die Schuld von sich und auf den anderen. Keiner will’s gewesen sein. Nur mit der Bestrafung geht es anders zu als in der Urgeschichte. Poncelet erhielt die Todesstrafe, sein Freund hatte Geld genug für gute Anwälte... Der Maßstab für Schuld ist offenbar eine Frage des Geldes.

Alle Gnadengesuche wurden abgelehnt, und so wird der Delinquent über den Flur zum Exekutionsraum geführt, mit einer Windel bekleidet und in anstaltseigene Wegwerfpantoffeln gesteckt. Und dabei wollte er gerade das vermeiden: als trotziges Zeichen seiner Würde, die ihm keiner nehmen könnte, wollte er in seinen eigenen Stiefeln zur Hinrichtung gehen. Nun haben sie sie ihm genommen.
Das ist das Ende eines langen Weges von Schuld und der schweren Aufgabe, Verantwortung zu übernehmen. Aber Poncelet ist nicht allein ...

„Frau auf Korridor“ hallte es wenige Tage vorher durch die gleichen Flure. Die katholische Ordensschwester Helen Prejean war zwar keine von den Insassinnen, aber der laute Ruf verriet: ihre Anwesenheit war eine Störung, irgendwie war sie verquer in dem ganzen Ablauf.

Verquer zum Anstaltspater, der in formaler Dogmenfrömmigkeit feststeckt und meint, dass bloße Sakramentseinnahme Seelen rettet. Verquer zu den Eltern der Getöteten, denen der Verlust der Kinder und die Grausamkeit der Tat das Leben zerstört hat, und die nun in schmerzenden Erinnerungen wie versiegelt sind. Verquer zum Exekutionspersonal, das jegliche Verantwortung und Beteiligung an der Hinrichtung leugnet und als Teil des Jobs begründet. Und auch verquer zu Matthew Poncelet selbst, der es gewohnt war, dass Menschen auf seine Arroganz und Aggression mit Anwiderung reagieren und nicht mit Liebe.

Schwester Prejean ist der kirchliche Beistand, den sich Poncelet gewählt hat und sie begleitet ihn auf diesem letzten Weg, wie sie ihn die Tage zuvor begleitet hat: mit unglaublicher Liebe.

Dabei hat sie ihm nichts erspart. Bei ihr kam er nicht durch mit seinen vielfältigen Schuldabweisungen; sie forderte Respekt ein – einfach weil jeder Mensch Respekt verdient; sie lässt sich auch nicht täuschen von seinem höhnisch-überheblichen Geschwätz, das doch Angst und Verletzung preisgibt.

Mit der Art, wie sie ihm begegnet, konfrontiert sie Poncelet mit der Botschaft Jesu, die den Wert eines Menschen nicht an seinen Taten misst. Zunächst kann er ihrer (und Gottes) Liebe nicht trauen, belügt sich selbst mehr als alle anderen. Von Einsicht und Reue keine Spur. Es dauert lange und braucht viel Zuspruch, bis Matthew Poncelet es wagt, sich mit seiner Tat und seiner Schuld auseinander zu setzen. Am Ende kann er weinen, über das, was er getan hat, über sich selbst, und die Liebe die ihm in der Ordensschwester begegnet: „Typisch für mich, dass ich erst sterben muss, um Liebe zu empfinden.“ Im Hinrichtungsraum, festgeschnallt auf dem Exekutionstisch wie an einem Kreuz, kann er den Eltern der Opfer in die Augen sehen und sie um Vergebung bitten.

Es ist ein Film über, bzw. gegen die Todesstrafe. Das auch, ja. Aber mehr noch ist es ein Film über menschliche Schuld und fehlendes Schuldbewusstsein. Er zeigt die Zerrissenheit, die aus der Verdrängung von Schuld resultiert. Schonungslos wird auch deutlich, wie schmerzlich die Selbsterkenntnis ist. Die Auseinandersetzung mit der eigenen Schuld erspart keine Konsequenz. So ist denn der Film auch kein fauler Kompromiss oder Ausweg aus der Verantwortung, sondern er zeigt die Bedingungen, unter denen die Übernahme von Verantwortung erst möglich wird. Schwester Helen verkörpert diesen „Maßstab für Schuld“ [2] – die Liebe, und ermöglicht Poncelet damit, seine Tat zuzugeben und über sich selbst zu weinen. Das aber lässt ihn erst wieder menschlich werden und weist auf den inneren Zusammenhang der Würde des Menschen und seiner Fähigkeit zu Schuld [3] und Verantwortung. Weil für Schwester Helen Schuld zuletzt immer eine Verfehlung gegen Gott ist, kann sie Poncelet nach seinem Geständnis mit „Sohn Gottes“ titulieren: Er, der sich nur als „Hurensohn“ kannte, hat sich „versöhnen lassen“. Die einzige Bedingung unter der wir eigene und fremde Schuld zulassen und tragen können ist die Liebe. Verkörpert wird sie in der Person der Schwester Helen, aber es wird deutlich, dass der Grund für ihre Liebe die Menschenliebe Gottes ist.
B. „Schuld – was ist das?“ Vorschläge für eine Unterrichtseinheit


1. Schuld und Sünde aus theologischer Sicht

Die Erfahrung und der Umgang mit Schuld sind Kennzeichen echter Religion. Persönlich verantwortete Schuld gehört nach alttestamentlicher Vorstellung zur realen Existenz des Menschen. Bereits in der Paradieserzählung wird die Tatsache einer als unheil erfahrenen Welt prototypisch in der Erzählung vom Sündenfall erklärt. [4] Sünde beinhaltet immer eine zentrale theologische Kategorie: Sie wird gedeutet als Ungehorsam und Schuldigsein vor Gott. Wenn wir persönlich zu verantwortende Schuld und Sünde mit dem Missbrauch der den Menschen zugewiesenen Freiheit erklären, dann lässt sich der Ungehorsam gegenüber Gott deuten als eine fehlende Bereitwilligkeit, den gottgegebenen guten Handlungsmöglichkeiten zu folgen. Anders ausgedrückt, meint Sünde „... die freie Nichtbeachtung einer das eigene Selbst betreffenden absoluten Forderung.“[5]

Offenbar gehört auch die Verdrängung von Schuld und die Schuldübertragung zur realen Existenz des Menschen und scheint ein menschliches Bedürfnis zu sein, das von Kindesbeinen in ihm steckt. Das Alte Testament problematisiert diese Haltung in den Figuren von Adam und Eva und Kain und Abel. Die Auseinandersetzung mit der eigenen Schuld gehört deshalb wesentlich zur religiösen Praxis des Volkes Israels. Ein großer Teil der Geschichte des Bundes- und Gottesvolkes setzt sich mit der Frage auseinander, wie vor Gott Versöhnung und Heil zu erlangen ist. Das ist nicht möglich ohne die Bewusstwerdung der eigenen Schuld. In dem alljährlich am Versöhnungstag gefeierten Ritual der Schuldübertragung auf einen Sündenbock (3. Mose 16, 7 ff.) gehören dann auch Schulderkenntnis, Schuldbekenntnis und Entlastung von Schuld zusammen. Ein durch die Gemeinde der Israeliten bestimmter Ziegenbock wird symbolisch mit allen Verfehlungen und Sünden beladen und anschließend vom Priester in die Wüste gejagt. Auf diese Weise können sie all ihr Versagen und ihre Sünden abladen. Der Unterschied zwischen dem alten Ritual und der bei uns üblichen Sündenbockmechanismen liegt darin, dass Israel seine Verfehlungen offen bekannte, während bei uns Schuldbewusstsein offenbar nur noch in geringem Maße vorhanden ist, bzw. Schuld auf andere übertragen wird. In der alttestamentlichen Deutung der Sünde als Ungehorsam gegenüber Gott wird ein weiteres deutlich: Jede dualistische Vorstellung von der Herkunft der Sünde und des Bösen, wie sie sich durch den Einfluss der Religion des Perserreiches auf Israel auswirkt, ist ein Widerspruch zu dem monotheistischen Jahweglauben des Volkes. Ein weiteres, gleich mächtiges Prinzip neben Gott ist nicht möglich. Auch Satan ist von Gott geschaffenen. Spätere Schriften entfalten deshalb auch die Vorstellung von einem Sündenfall der Engel.

In den Evangelien ist die Vorstellung von Schuld und Sünde ganz und gar geprägt vom Handeln Jesu. Er hebt die gemeinschaftszerstörende Kraft der Sünde auf , indem er mit „Zöllnern und Sündern“ isst und trinkt. (Lk 5, 27 ff.) Er erkennt die krankmachende Kraft der Sünde und heilt, indem er Menschen von ihrer Sünde und ihrem Gebrechen befreit (Mk 2, 1 ff). Und er ermöglicht angstfreie Auseinandersetzung mit eigener Schuld, indem er Umkehr und neue Wege eröffnet. Die erst spät hinzugekommene Erzählung von der Ehebrecherin in Joh. 8 schildert, wie Jesus bedingungslos Schuld vergibt, wie er gegebene Schuldenlast abnimmt und zu neuem Beginn aufruft. Zugleich erinnert Jesus die anderen Beteiligten, „...die mit der Schärfe des Gesetzes die Frau verurteilen, an das Gericht Gottes, vor dem alle Menschen Sünder sind. Gott müsste sie alle in den Staub schreiben,“ [6] so wie er selbst es zeichenhaft tut. Jesu Handeln ist gelebte Versöhnung. Paulus stellt dieses in den großen Zusammenhang des Handelns Gottes, „der uns durch Christus mit uns versöhnt und uns den Dienst der Versöhnung aufgetragen hat.“ (2. Kor. 5, 18) Aus christlicher Sicht kann der Mensch nur mit seiner Schuld fertig werden, wenn er um das Versöhnungshandeln Gottes weiß. Das sind die Eckpunkte wirklicher Umkehr: die Schulderkenntnis auf der einen und der Glaube an Gottes erbarmendes Handeln auf der anderen Seite.

Neben der personal zu verantworteten Schuld steht die transpersonale Schuld. In der Theologie wurde dieser Aspekt der Sündhaftigkeit in der missverständlichen Erb- bzw. Ursündenlehre oder auch in der Vorstellung eines satanischen Verführers aufgenommen. Hier wird die Erfahrung einer Wirkmächtigkeit der Sünde bedacht, die über das unmittelbar zu Verantwortende hinausreicht. Paulus umschreibt diese Strukturen der Sünde, die sich aus dem personal zu verantwortenden Geschehen zu einer gemeinschaftlichen Mitschuld verfestigt haben indem er vom guten Wollen aber nicht Vollbringen-Können spricht. (Röm 7, 18 f) Solche Wirkmächtigkeit oder „Verleiblichung“ [7] ist Teil unseres menschlichen Miteinanders und führt in das Dilemma „das ich tue, was ich nicht will“ (Röm 7, 20). Der Mensch ist Täter und Opfer zugleich, ohne dass er dem entfliehen könnte. [8] In der Strafpraxis wird dieser unheilvollen Verstrickung Rechnung getragen, indem bei der Beurteilung immer auch die psychologischen und sozialen Bedingungen bedacht werden.


2. Straftheorien

Die christliche Perspektive zum Umgang mit Schuld und Beurteilung von Straftätern ist v. a. in der Bergpredigt zu finden. Jesus radikalisiert hier alttestamentliche Aussagen, stellt sich scharf gegen Selbstgerechtigkeit und Unbußfertigkeit (Mt 7, 1 ff.) und weist auf eigene Fehlerhaftigkeit, um das Zumessen von Strafen zu relativieren. Seine Aussagen sind ein einziger Aufruf – zum Gewaltverzicht als Zeichen des Gottvertrauens (Mt 5, 38 ff) – zur Versöhnung „zu Lebzeiten“ (Mt 5, 21 ff.) – zur liebenden Gerechtigkeit (Mt 7, 1 ff.). Die wohl schwerste Forderung Jesu, die Feindesliebe, fokussiert den Maßstab für Strafe auf die Liebe. Sie zielt nicht auf einen billigen Weg in die Straffreiheit, sondern auf einen menschenwürdigen Umgang mit Schuld.

In unserer Strafpraxis wird grundsätzlich zwischen Mensch und Tat unterschieden. [9] Das schließt Straffolgen und Wiedergutmachungspflicht für einen Täter nicht aus. Verschiedene Straftheorien äußern Ziel und Zweck der Maßnahmen. Zu den wichtigsten zählen die Sühnetheorie, die Spezialprävention und die Generalprävention.

  • In der Sühnetheorie geht es um einen gerechten Schuldausgleich. Die Strafe soll die Schuld, die der Täter auf sich geladen hat, durch ein Übel, das man ihm zufügt, ausgleichen. Ethische Bedenken könnten gegen den Sinn von solchen Maßnahmen erhoben werden, die Vergeltungscharakter haben. Lassen sich bestimmte Taten überhaupt ausgleichen?
  • Resozialisierung, Schutz der Gesellschaft und Erziehung sind das Ziel der Spezialpräventionen. Höhere Rückfallquoten zeigen aber, dass immer unsicher bleibt, ob eine Besserung wirklich eingetreten ist. Auch reicht diese Strafbegründung nicht aus, wenn eine Wiederholung mit Sicherheit ausgeschlossen werden kann.
  • In der Generalprävention ist Abschreckung das vorrangige Ziel. Problematisch ist es, einen Einzelnen zum Mittel der Erziehung der Allgemeinheit zu machen. Zudem ist erwiesen, dass Abschreckung gerade bei Kardinalverbrechen keine Wirkung zeigt, weil diese zumeist im Affekt geschehen, und weder über die Tat noch über ihre Folgen nachgedacht oder reflektiert wird.
     

Es zeigt sich, dass jede Theorie für sich genommen, den Sinn von Strafen durchaus infrage stellen kann. In der Praxis fließen sicherlich Gedanken verschiedener Theorien zusammen. So darf bspw. der problematische Vergeltungsgedanke nicht völlig außer Acht gelassen werden. Wenn heute ein ehemaliger KZ-Verbrecher zur Rechenschaft gezogen wird, geschieht dies weniger aus Abschreckung oder aus Angst vor einer Wiederholungstat. Auch ein erzieherisches Ziel ist hier sicher nicht vorgesehen.

Zum Resozialisierungsgedanken gibt es keine Alternative. Er drückt am deutlichsten die christliche Vorstellung vom Neubeginn nach der Umkehr und der Versöhnung aus. Dennoch bleibt das Strafen grundsätzlich widersprüchlich: Zum einen müssen Strafen sein, zum anderen führen sie auch zu unerwünschten Reaktionen wie Abhärtung oder Erhöhung der Rückfallgefahr aus neu aufgebauten Rachegefühlen.

Ein besonderes Problem bildet die Todesstrafe. Sie lässt sich nicht mit dem Resozialisierungsgedanken und der christlichen Vorstellung von der Vergebung vereinbaren. Die Irreversibilität ihrer Folgen verhindert jede Möglichkeit der Umkehr und des Neubeginns. Rache- und Vergeltungsgedanken verdichten sich hier wie in keiner anderen Strafe und ihre Sinnlosigkeit wird besonders deutlich, wenn man sich vor Augen führt, dass der allzu menschliche Wunsch, das Böse aus der Welt zu schaffen auch mit der Todesstrafe nicht realisiert werden kann. Zurück bleibt immer der bittere Geschmack des Todes.

In über 90 Ländern wird die Todesstrafe noch durchgeführt. Alle Diktaturen wenden sie an: 1994 gingen 87 % der weltweiten Hinrichtungen auf das Konto dreier Terrorregime. Amerika ist die einzige und letzte westliche Demokratie, die die Todesstrafe durchführt, und das, obwohl es immer wieder zu juristischen Fehlurteilen gekommen ist: von 1900 bis 1985 wurden in den USA 350 Menschen unschuldig exekutiert. Statistiken zeigen, dass die Todesstrafe zum größten Teil bei armen und schwarzen Menschen angewendet wird. Die Missbrauchmöglichkeit ist hier extrem hoch. Das gilt weltweit. Das zeigen auch die Zahlen der Hinrichtungen in Deutschland zwischen 1914 und 1945.

1914 – 1919 = 104

1920 – 1926 = 158

1927 – 1932 = 16

1933 – 1939 = 660

1940 – 1945 = 15.890

Insbesondere in Zeiten, die als krisenhaft empfunden werden, wird der Ruf nach der Todesstrafe lauter. Dabei ist die Absurdität dieser Maßnahme und ihre Sinnlosigkeit offensichtlich.


3. Religionspädagogische Überlegungen

Die Schuld-Thematik gehört wohl zu den schwierigsten Unterrichtsgegenständen. Jugendliche tun sich mit der Frage nach Schuld und Strafe ähnlich schwer, wie mit der nach dem Tod. Die Parallelen sind evident: es reicht in sehr persönliche Ebenen, die Gefahr der ‚Verletzung‘ ist groß. Unvollkommenheit ist für Jugendliche schwer auszuhalten, und beide Themen berühren die Grenzen menschlicher Möglichkeiten. Zudem sind die Fragen, die eine Behandlung des Themas Schuld aufwirft, kaum eindeutig lösbar. Viele Faktoren spielen hier eine Rolle: kulturelle, individuelle, gesellschaftliche, psychologische und nicht zuletzt religiöse. So entsteht ein merkwürdiges Paradox. Aufgrund der allgemeinen Erklärbarkeit und Entschlüsselung von Straftaten wird eine persönliche Verantwortung (ein Schuldbewusstsein) oft verhindert. Zugleich aber werden für ‚fremde‘ Schuld durchaus harte Maßnahmen gefordert. Das ist auch bei Schülerinnen und Schüler so: über die Schuld der anderen können sie sprechen und nicht selten gnadenlos richten

Die Weise, in der die Schüler der Schuldproblematik begegnen, macht es ihnen nicht leichter, sich damit auseinander zu setzen. Im Allgemeinen wird eine persönliche Verantwortung an entstandenem Unrecht geleugnet. Schüler erleben, wie sich die ‚Großen‘ in Politik und Wirtschaft ihrer Verantwortung entziehen, ja eine persönliche Verantwortung am Geschehen regelrecht abspalten

Im Bereich ihrer eigenen Erfahrung erleben sich gerade Schüler aus schwierigen Verhältnissen immer wieder als Opfer und als ohnmächtig gegenüber personaler und transpersonaler Schuld. Der Zusammenhang von schicksalhafter Schuldverstrickung und persönlicher Verantwortung ist in ihrer Lebenswelt verankert.

Einige von ihnen sind schon selbst mit dem Gesetz in Konflikt gekommen. Im Unterricht erzählen sie manchmal über bereits verbüßte Strafen, oder auch wie man ihnen entkommt. Von sich selbst oder von Fremden wissen sie, „was da so alles drin liegt“. Mit einem gewissen Maß an Stolz kann noch über die auferlegten Strafen geredet werden, über die zugrunde liegende Schuld redet man, wenn überhaupt, schon verschämter, denn das hieße, eigenes Versagen zuzugeben und eigene Fehlerhaftigkeit zu erkennen. Über Vergebung und Versöhnung, die grundlegende Bedingung für eine gelingende Auseinandersetzung mit der eigenen Schuld, redet man nie.

Manche Barriere, sowohl für das Verständnis von Schuld, wie auch für die Bereitschaft, sich mit ihr auseinander zu setzen, wurde benannt. Der vorliegende Unterrichtsvorschlag stellt einen Versuch dar, sich dennoch mit der Problematik zu befassen und zwar auf eine Weise, die den Schülern das Erkennen der Schuld und die Perspektive der Vergebung als Grundlage für einen Umgang mit der eigenen Gebrochenheit eröffnet.

Der Film eignet sich deshalb, weil er völlig unsentimental (M. Poncelet wird von seiner irdischen Bestrafung nicht verschont) die befreiende und versöhnende Kraft der Schulderkenntnis und der Vergebung nachzeichnet. Am Ende scheint es, als ob er seine Tat mit den Augen Gottes sieht, eine Perspektive, die Schuld zugleich offen legt und mitträgt


4. Didaktische Hinweise

Die folgenden Vorschläge umreißen eine mehrstündige Unterrichtseinheit. Im normalen schulischen Alltag ist es schwierig, einen Film von 122 Min. Länge im RU zu sehen und zu bearbeiten. Eine denkbare Lösung wäre, das Thema fächerübergreifend, z. B. mit dem Fach Politik zu kombinieren. Möglich ist es auch, den Film zu teilen: nach 30 Min. wird in einer Gerichtsszene über das letztmögliche Gnadengesuch Poncelets verhandelt. Bis dahin ist der Zuschauer in die wesentlichen Umstände und Personen eingeführt worden. Poncelets standhafte Leugnung der Tat und sein unsympathischer Ruf nach Sündenböcken, die Verletzung und die innere Leere der Eltern der Opfer, die rat- und hilflose Mutter Poncelets. Die Verhandlung und Entscheidung über das Gnadengesuch könnte zunächst ins Klassenzimmer verlegt werden: durch die Rollenvorgaben sollen die Schüler die vielfältigen Perspektiven von Schuld und Strafe wahrnehmen und erkennen, dass eine monokausale Erklärung hier nicht angemessen ist und keinem der Beteiligten gerecht wird. Damit ist auch die Komplexität im Verhältnis menschlicher Schuldverstrickung, persönlicher Verantwortung und angemessener Strafzurechnung in den Blick gerückt.

Wird der Film in der nächsten Stunde weitergesehen, führt das schließlich zu der Frage nach dem Zweck von Strafen. Das kann am Beispiel der Todesstrafe geschehen. Aber Schüler kennen sich selbst auch gut mit Strafen und ihrem möglichen Sinn aus. Hier können die entsprechenden Argumente gemeinsam gesammelt werden. Dabei sollten die Schüler unterschiedliche Straftheorien kennen lernen, bzw. benennen (z. B. die Vergeltung, die Prävention und Besserung, die Abschreckung) und auch ethische Vorbehalte erörtern (z. B. die Erziehung vieler durch die Bestrafung eines Einzelnen. Kann die Schuld durch ein auferlegtes Übel ausgeglichen werden? Wann kann man sicher sagen, ob ein Täter sich gebessert hat?)


M 2

Gefangen

Die Eindrücke
die Welt
die Phantasien
du kommst nicht raus
du kannst nicht fliehen.

Du tust Ihnen leid
du trägt ein schwarzes Kleid.

Wozu bist du geboren?
Bist du verloren?

Lieben sie dich
oder hassen sie dich?
Brauchen tun sie dich nicht.

Sie leben ihr Leben und schauen weg.
Sie sind nicht in der Dunkelheit,
deshalb können sie immer kurz zu dir herabschauen.

Du hast verspielt in diesem Spiel
die letzte List
die war zu viel
 

Nachdem bisher viel über das Verhältnis von Schuld und Strafe gesagt wurde, soll in der folgenden Phase das Schuldigwerden als Dimension menschlicher Existenz bedacht werden und die Bedingungen überlegt werden, unter denen Schuld getragen und bejaht werden kann. Der Film machte den inneren Kampf Poncelets mit seiner Schuld deutlich. Seine Tat nicht zugeben heißt für ihn, andere verantwortlich zu machen und dennoch weiterkämpfen zu müssen. Erst die ihm in Schwester Helen unerschütterlich begegnende Annahme legt die Basis für eine Auseinandersetzung mit sich selbst.

Diese Unterrichtsphase kann den Schülern eine „Ahnung“ davon vermitteln, was Vergebung und Annahme, und Würde ist – es ist wohl die schwierigste Phase der Einheit.

Ausgewählt wurden Medien, die a) bildhaft das Getragen-Sein des Menschen zur Anschauung bringen und b) zur Antwort herausfordern. Der Holzstich „Brudermord“ von Karl Rössing zeigt einen Menschen, der ausholt, um auf ein bereits am Boden kauerndes Opfer einzuschlagen. Beide aber, Opfer und Täter sind in einer riesigen Hand, in Gottes Hand. Sie scheinen unbekleidet zu sein und das Werkzeug des Täters ist eine Keule. Der Titel spielt auf Gen 3 an. Es ist deutlich, dass es hier nicht um bestimmte Menschen und Taten, sondern um eine menschliche Ur-Erfahrung geht.

Um diese Dimension mit den Schülern zu erschließen, sollte das Bild ausschnittweise bearbeitet werden (s. M 1c,1b,1a. Hierfür kann bspw. das vollständige Bild auf Folie kopiert und für die Bearbeitung im Unterricht mit Rahmen abgedeckt werden). Die Schüler gehen auf diese Weise von einem eindeutigen Geschehen aus in die Tiefe menschlicher Befindlichkeit. Die Hand Gottes signalisiert: Schuld ist etwas zum Menschen Gehöriges und der schuldige Mensch und sein Opfer sind getragen, keiner ist auf sich allein zurückgeworfen. Aus dieser Darstellung lassen sich die christlichen Motive Vergebung und Mitleiden als „Antwort Gottes“ auf das Tun des Menschen mit den Schülern herausarbeiten.

Die mit der Überschrift „... was hast du getan?“ eingebrachte Dimension der persönlichen Verantwortung könnte so aufgegriffen werden, dass zunächst Gen 3 gelesen oder erzählt wird. In der Antwort des Kain wird das „Sich aus der Verantwortung stehlen“ noch einmal deutlich. Um aber nicht zerstörerisch zu bleiben, braucht Schuld ein positives Korrelat, einen Willen zur Erkenntnis und Versöhnung.

Das Gedicht eines jugendlichen Gefangenen schließt die Auseinandersetzung mit dem Umgang mit Schuld ab. Es ist mehrdeutig. Nicht nur die äußerliche Gefangenschaft wird hier beschrieben. In den Fragen und Metaphern (schwarze Kleider, Dunkelheit) wird auch die innere Enge angesprochen. Drei Fragen sind in dem Gedicht gestellt. In ihnen wird der beziehungszerstörende Aspekt von Schuld in den drei Dimensionen angedeutet: die Beziehung zu sich selbst in der ersten, die transzendente (oder Gottesbeziehung) in der zweiten und die sozialen Beziehung in der dritten Frage. Hier gewinnt eine sehr abstrakte Vorstellung konkrete Gestalt. Schüler können sich, indem sie aufgefordert werden, diese drei Fragen zu beantworten, diese Dimensionen der Schuld erschließen.

Spannend wäre auch eine tiefere Auseinandersetzung mit der letzten Strophe. Wird hier das Leben als Spiel, die Sünde als List verharmlost? Was, wenn man nicht erwischt wird? Hat dann die Schuld keine Auswirkung? Trifft das auch für die o. a. Dimensionen zu?

Als Abschluss und Vertiefung der gesamten Einheit könnten die Schüler, aus der Sich des M Poncelet, selbst ein solches Gedicht verfassen.



5. Vorschläge zum Unterrichtsablauf

Der Film „Dead Man Walking“ wird bis zur Gerichtsverhandlung um das Gnadengesuch gezeigt. Denkbar ist auch, dass der Lehrer den Inhalt zunächst nur erzählt. Allerdings werden die besonderen Charaktere und Umstände im Film besser deutlich. Nach einer ausführlichen Filmbesprechung werden die Schüler in Gruppen geteilt mit dem Auftrag, für die vorgegebene Rolle einen Beitrag für die Verhandlung zu formulieren. Sie sollen ihren Standpunkt, ob dem Gnadengesuch stattgegeben werden soll, benennen und begründen. Als Gruppen sind denkbar:

  • Gruppe: Anwalt von Poncelet und Schwester Hele
  • Gruppe: Eltern der Opfer
  • Gruppe: Mutter und 3 Brüder von Poncelet
  • Gruppe: Unbeteiligte aus dem Volk
  • Gruppe: Poncelet selbst
     

Die Beiträge werden in einer Art Gerichtssitzung vorgetragen und verhandelt. Der Versuch einer Einigung wird vorgenommen.

  1. Mit Schülerbeiträgen werden gängige Strafen an der Tafel gesammelt und auf die Frage zugespitzt, zu welchem Zweck man straft. Verschiedene Straftaten werden diskutiert und ethisch erörtert.
  2. Der Holzschnitt wird durch vorbereitete Papierrahmen dreischrittig auf dem OHP entfaltet (M 1c,1b,1a) Die Schüler sollen zunächst das Geschehen beschreiben. Bevor der letzte Rahmen die große Hand frei gibt, werden Vermutungen geäußert, wo das Geschehen stattfindet. Es kann auch ein Arbeitsblatt (besser Folien) vorbereitet werden, auf dem nur ein Teil des Bildes (wie 1b) zu sehen ist. Die Schüler können nun eine Umgebung selber zeichnen.
  3. Wenn der letzte Teil des Bildes aufgedeckt wird, soll im Unterrichtsgespräch eine Deutung versucht und überlegt werden, welche Bedeutung die Hand für den Täter und welche für das Opfer hat.
  4. Statt einer kognitiven Erarbeitung sollte zur Erschließung des Gedichtes (M 2)eine kreativ-gestalterische Methodik gewählt werden. Das käme auch dem emotionalen Inhalt des Textes entgegen. Er will nachempfunden und mit-erlebt werden. Auch hier kann – um der Mehrperspektivität willen – die Klasse in Gruppen arbeiten:
    - eine Gruppe kann den Text als Grundlage für einen Videoclip nehmen
    - eine Gruppe kann versuchen, jeden Absatz mit einem Foto darzustellen
    - eine Gruppe kann eine Collage herstellen mit Gegenständen, die das im Text ausgedrückte Gefängnisleben illustrieren
    - eine Gruppe kann verschiedene musikalische Beispiele zusammentragen, um die Stimmung des Textes zu erschließen.
    Nach der Interpretation mit Hilfe der Darstellung der Ergebnisse, erhalten die Schüler die Aufgabe, auf die drei Fragen im Gedicht – in Partner- oder Einzelarbeit – zu antworten mit der vorgegebenen Problematisierung, an wen die Fragen gerichtet sein könnten.
  5. Die Unterrichtenden könnten mit 4. abschließen. Wenn das bisher Erarbeitete vertieft werden soll, bietet es sich an, analog zu dem bearbeiteten Gedicht selbst eines zu schreiben, ggf. aus der Sicht des M. Poncelet.
     


6. Alternativer Einstieg


Sollte sich der Einstieg in das Thema über den Film nicht realisieren lassen, kann alternativ mit dem Bild „Die Sünderin“ von A. Paul Weber begonnen werden (s. M 3)10. Werbers kritische und pointierende Darstellung zeigt in brutaler Deutlichkeit, wie sich alle zur Hinrichtung zusammenfinden: die Lüsternen und Gaffenden, die Andächtigen und Hämischen. Tierisch unmenschlich wirken sie, einzig das Opfer hat menschliche Züge. Wie vor einer riesigen Totenmaske warten sie, dass geschieht, was nicht Recht ist. Die Schülerinnen und Schüler könnten Sprech- und Denkblasen zeichnen: Was mögen die Fratzen denken? Was mögen sie beten (oben links)? Gibt es Fragen (unterer Bildrand)? Was gibt es zu lachen (rechte Bildhälfte)?

M1c
"... was hast Du getan?"

(Brudermord / Karl Rössing, Holzstich, 1948)
(Die Quelle war nicht auffindbar. Fragen nach einem evtl. Entgelt bitten wir an die Redaktion des Loccumer Pelikans zurichten: RPI-Loccum, Uhlhornweg 10.12, 31547 Rehburg-Loccum)

M 3,
Das Bild (Die Sünderin) ist zu finden in: Bernhard Müller, Um Himmels Willen, München/Stuttgart 1996, S. 95

 

Anmerkungen

  1. „Dead Man Walking“ von Tim Robbins, USA 1995, 122 Min.
  2. Sölle, D., Das Recht, ein anderer zu werden, 1971, Sammlung Luchterhand Nr. 43, 23 – 28.
  3. Sölle, D., a. a. O.
  4. Gründel, J., Schuld – Strafe – Versöhnung aus theologischer Sicht. In: Köpcke-Duttler, A. (Hg.) Schuld – Strafe – Versöhnung. Ein interdisziplinäres Gespräch, Mainz 1990, S. 93 – 116.
  5. Fuchs, J., SJ, Sünde – ein unzeitgemäßer Begriff. In: Theologie und Psychologie im Dialog über Schuld, hrsg. von Schlagheck, M., Paderborn 1996, S. 139 – 147.
  6. Schnackenburg, R., Das Johannesevangelium II. Teil. Kommentar zu Kap. 5 – 12 in: Herders Kommentar zum Neuen Testament, 1971, 229.
  7. Gründel, a. a. O.
  8. „Ich wollte es nicht, ich musste es tun“ lautete die Überschrift zu einem Artikel über den Mörder der 10jährigen Kim Kerkow, Stern Heft 7, 17.4.97, 176 ff.
  9.  Der Film zeigt freilich das Gegenbeispiel: immer wieder wird Matthew Poncelet mit ‚menschlicher Müll‘ und ‚Abschaum‘ bezeichnet.
  10.  A. Paul Weber, Die Sünderin, in: Bernhard Müller, Menschlich-Allzumenschlich, Karikaturen für Religionsunterricht und Ethik, München/Stuttgart 1992.

Text erschienen im Loccumer Pelikan 3/2001

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