Unsere Zeit – in wessen Händen?

von Rita Weiler und Thomas Vogelsang

 

Gottesdienst zum Buß- und Bettag an der Jugenddorf-Christophorusschule Braunschweig am 18.11.1998


1. Allgemeine Rahmenbedingungen für Gottesdienste an der Jugenddorf-Christophorusschule Braunschweig (JCS)

An der JCS Braunschweig finden Pro Jahr fünf Gottesdienste statt, wovon z.Z. vier verpflichtend für Schüler und Lehrer sind (Schulanfang, Buß- und Bettag, Weihnachten und Tage der Besinnung [ =religionspädagogische Projekttage] ) und einer freiwillig (zur Passions-/Osterzeit). Der Buß- und Bettag ist erst sei 1997 der feste Termin für den zuvor am Beginn der Herbstferien abgehaltenen sog. (freiwilligen) Herbstgottesdienst. Der hier vorgestellte Gottesdienst stelle also im Rahmen der Schulgottesdienste eine erste Erfahrung mit diesem kirchlichen Feiertag dar.

Bis auf den Gottesdienst zum Schuljahresanfang werden alle Schulgottesdienste von ein bis zwei Religionslehrkräften (evangelisch und/oder Katholisch) und Schülern verschiedener Altersstufen vorbereitet. Der Gestaltungsanteil kann dabei aufgrund des Themas, der zur Verfügung stehenden Zeit und der Altersstruktur der beteiligten Schüler jeweils sehr unterschiedlich ausfallen.

Die Schulgottesdienste sind so angelegt, dass aufgrund der Konfessionsmischung der Gottesdienstteilnehmer auf konfessionsspezifische Inhalte und Formen verzichtet wird. Für ihre Gottesdienste und für die Adventsbestimmungen stellt die Johannesgemeinde der Schule ihre Kirche zur Verfügung, die sich in unmittelbarer Nachbarschaft befindet. Gelegentlich wird ein evangelischer oder ein katholischer Pastor mit in die Vorbereitung und Durchführung einbezogen.
 


2. Die Planung des Buß- und Bettaggottesdienstes 1998

Zwei Religionslehrkräfte arbeiteten mit neun Schülerinnen und zwei Schülern zusammen (und sieben weitere für die Musik),, die sie auch im Fach Religion unterrichten und die sich nach der Vorstellung des geplanten Gottesdienstthemas im Unterricht zur Mitarbeit bereit erklärten. Sieben davon gehörten zu einer achten Klasse und vier zur Jahrgangsstufe 11. Die hier zahlenmäßig stärkere Beteiligung der Mädchen lässt sich bei der Gottesdienstvorbereitung und –durchführung insgesamt beobachten.

Die Lehrkräfte schlugen den Schülern einen Rückgriff vor – damals zum Thema: Herbstzeit als Zeit des Abschiednehmens. Die Besinnung auf unseren tatsächlichen und den christlich verantwortbaren Umgang mit unserer Zeit und damit mit unserem Leben und dem andere Menschen reschien uns und den Schülern ein dem Buß- und Bettag angemessenes Thema zu sein.

Die wiederverwertbaren Textelemente machten etwa 50% der Wortbeiträge aus und wurden mit den noch fehlenden Elementen zwischen den Schülern aufgeteilt (je nach Jahrgang 8 und 11) und von ihnen unter Mithilfe/Einflussnahme der Lehrkräfte bearbeitet. Dazu trafen sich Schüler und Lehrer nach Unterrichtsschluss oder in Freistunden. Die Lieder wurden von den Lehrkräften in Zusammenarbeit mit vier Oberstufenschülern (13. Jahrgang) ausgesucht, die sie auch vom Religionsunterricht und von vorangegangenen Gottesdiensten her kennen. Letztere übten die Lieder mit drei Gitarren selbstständig ein und führten dann musikalisch durch den Gottesdienst als Gitarren-/Gesangsgruppe im Altarraum. Für eine besinnliche Zwischenmusik wurden drei Mitglieder des Schulorchesters angesprochen. Der Programm-/-Liedzettel ist ein in vier A5-Seiten aufgeteiltes, beidseitig beschriftetes, gefaltetes A4-Blatt, das von den Lehrkräften erstellt wurde.
 


3. Hinweis zu einzelnen Gottesdienstelementen

Das Titelbild auf dem Programmblatt ist eine Kopie des Gemäldes "Die Beharrlichkeit der Erinnerung (1931, Öl auf Leinwand, New York, Museum of Modern Art) von Salvador Dali und die darunter stehenden Sinnsprüche sind größtenteils aus: Werner Sprenger, Schleichwege zum Ich. Meditationsgedichte, Konstanz 51982. Das gitarrenbegleitende Eingangslied (All we are is dust in the wind) wurde nur von der Musikgruppe gesungen, zuerst einstimmig, dann mehrstimmig. Es hat aufgrund seiner getragenen Melodieführung und seines geringen Tempos eine besinnliche, beruhigende Wirkung und soll damit die Anfangsunruhe abbremsen, die noch immer im Raum spürbar ist, wenn ca. 550 Schüler sich gerade ihren Platz im Kirchenraum erobert haben. Gleichzeitig hat das Lied auch Bezug zum Gottesdienstthema und kommt als englischsprachige "Pop-Ballade" den Hörgewohnheiten der Jugendlichen doch näher als klassische Kirchenlieder, auch wenn es mittlerweile selbst schon ein "Klassiker" ist.

Ein Elftklässler verlas dann die von ihm auch selbst verfasste Begrüßung.

Nachdem die Musikgruppe die erste Strophe des zweiten Liedes vorgesungen hatte (Jetzt ist die Zeit, jetzt ist die Stunde), wurde alle drei Strophen mit Gitarrenbegleitung vor allen gesungen. Für die folgende Spielszene wurden noch während der letzten Liedstrophe (s. o. fünf Stühle und zwei mit dunklem Krepppapier verkleidete Notenständer (zur Textablage) als Autoinnenraum im Altarraum aufgestellt. Die Spielszene als eine von insgesamt drei textlichen Aussagen nähert sich dem Thema aus einer konkreten Alltagssituation heraus, die am Ende durch einen einfachen Vergleich aufgebrochen wird und so ein Schlaglicht auf den Widersinn unseres Verhaltens werfen kann, das dann im Schuldbekenntnis genauer thematisiert und so in gewisser Weise auch erklärt und ausgelegt wird. Vom Sprecherpult leitete die Tramperin in die Spielszene ein, während die drei Autoinsassen schon ruhig auf ihren Stühlen/Autositzen saßen. Mit Hinzusteigen der Tramperin neben den Fahrer beginnt dieser mit (leichten!) Lenk- und Schaltbewegungen, jedoch ohne dadurch sich und die Zuschauenden von dem nun folgenden Gespräch abzulenken, wobei ihr Text auf den Notenständern liegt, während die auf der "Rückbank" sitzende Mutter ihren Text in der Hand Hält. Die Szene muss, um echt und eindringlich zu wirken, wirklich gut eingeübt werden. Text und äußere "Schauspielhaltung" müssen gut zueinander passen.

Als Übergang zum Schuldbekenntnis, das von den drei Mitspielenden am Sprecherpult vorgetragen wird und besonders hinsichtlich des Fahrerverhaltens direkt an den Inhalt der Spielszene anknüpft, kann auch ein ruhiges, kurzes Instrumentalstück gewählt werden, so dass sich der Inhalt der Spielszene noch einmal setzen kann.

Das folgende Lied wurde von der Musikgruppe wieder vorgespielt und dann von allen vier Mal gesungen. In die Perspektive der "Beobachtungen eines Südseeindinaners" zum Umgang des modernen Menschen mit der Zeit führen einige kurze Hinweise ein. Der Text bietet noch einmal die Möglichkeit, unser eigenes "normales" Verhalten aus der inneren Distanz einer ganz anderen Weltsicht zu sehen. Weil eine Textauslegung hier den Verfremdungseffekt abschwächen könnte und weil dadurch auch der Stellenwert des nach der Zwischenmusik folgenden Bibeltextes etwas geschmälert werden könnte, bleiben diese Betrachtungen eines Südseeindianers unkommentiert für sich sehen.

Die klassische Instrumental-Zwischenmusik bietet dann einerseits etwas Raum, den Text nachklingen zu lassen, andererseits schafft sie e vtl. eine etwas feierliche Ausgangsatmosphäre für die Schriftlesung. Dieses stellt als drittes Textelement eine Art abschließenden Höhepunkt dar. Die zuvor aufgezeigten Probleme und Ängste im Zusammenhang mit unserem Umgang mit der Zeit werden hier in eine neue, heilende Perspektive aufgenommen. Die exemplarisch-konkreten, aus Sicht des Menschen im Spannungsverhältnis zueinander stehenden Tätigkeiten werden alle umfasst und gehalten durch Gott selbst, der allein der letzte Garant für die uns chaotisch erscheinende Zeit(un)ordnung ist. Diese Zusage kann gerade uns von der Zeit getriebenen Menschen Gelassenheit und echte Handlungsfreiheit schenken. Diesen Gedanken nimmt das folgende Lied (He’s got the whole world) sowohl inhaltlich als auch emotional-rhythmisch auf. Zudem wird der Liedrefrain mit seiner Vertrauensbekundung auch dann als Antwortgesang bei den Fürbitten verwendet.

 

4. Literaturangaben zum verwendeten Material

  • Beobachtungen eines Südseeindianers (Der Papalogie hat keine Zeit) aus: Scheurmann, Erich: Der Papalagi, Zürich 1977, erweiterte Ausgabe des Originals von 1920, S. 61-65
  • Spielszene (Jede Minute ist kostbar) Bleeser, Peter (Hg.) aus: Geschichten für Sinndeuter, Düsseldorf, 41984, S. 28
  • Lieder:

"Jetzt ist die Zeit" aus: Erdentöne – Himmelsklänge. Neue geistliche Lieder, hg. von der Diözese Rottenburg-Stuttgart, Ostfildern (Schwabenverlag) 1995, S. 139

"Der Himmel geht über allen auf", aus Erdenklänge... s.o., S. 113

"He’s got the whole world", aus: Die Brücke. Ein Liederbuch für die christliche Jugend, hg. vom Christlichen Jugenddorfwerk Deutschlands, Voggenreiter Verlag Bonn 1992, Nr. 180

"Unser Leben sei ein Fest", aus: Die Brücke... s.o., Nr. 50

Gottesdiensttexte zum Buß- und Bettag 1998 (18.11.)
 


5. Verlauf

Begrüßung: (11. Klasse) Ich möchte zu Beginn dieses Gottesdienstes alle Anwesenden – Schüler- und Schülerinnen, Eltern und Geschwister, Lehre rund Gäste – ganz herzlich begrüßen. Wir haben uns im oft hektischen Rhythmus unseres Alltags Zeit zur Besinnung genommen. Zeit, um über uns, über unser Miteinander und über unser Verhältnis zu Gott nachzudenken. Heute soll die Zeit selbst unser Thema sein. Unser Umgang mit ihr, von der wir anscheinend immer zu wenig haben, der wir so oft hinterher hetzen. Vielleicht deshalb, weil wir uns zu oft von fremden Rhythmen bestimmen lassen, weil wir unseren eigenen, inneren Rhythmus nicht mehr hören können oder wollen.

Also, hören und sehen wir einmal genauer und frei von unmittelbarem Zeitdruck hin, was uns z. B. die folgende Spielszene über unseren Umgang mit der Zeit sagen kann!

Spieleszene: Jede Minute ist kostbar! T = Tramper, F = Fahrer, M = Mutter

T: (Vom Sprechpult aus) Es war an einem regnerischen Herbstabend. Ich war mal wieder unter Zeitdruck und ziemlich verärgert, weil ich den Bus knapp verpasst hatte, der mich in ein kleines Dorf bringen sollte, wo an diesem Sonntag eine große Geburtstagsfete angesagt war.

Nun ging ich ungeduldig die Landstraße entlang und hielt meinen Tramperdaumen in den kalten Herbstwind, in der Hoffnung, dass ich so doch noch rechtzeitig an mein Ziel kommen würde. Ich hatte dreifaches Glück. Schon nach fünf Minuten wurde ich von einer jungen Familie mitgenommen, die genau in meine Richtung fuhr und es auch sehr eilig hatte.

Mein anfängliches Glücksgefühl verging aber sehr bald und ich bekam es allmählich mit der Angst zu tun, weil der Fahrer trotz regennasser Fahrbahn den Fuß nicht vom Gaspedal nahm. Ich schaute ziemlich erschrocken auf die Tachoanzeige... (Tramper setzt sich neben den Fahrer)... ...80, 90 – hundert! Mensch, haben Sie das Warnschild nicht gesehen? Hier darf man doch nur 50 fahren!

F: (protzig) 50!? Na und? Hast Du etwa Angst?

T: Ich meine ja nur – die Kurven, die Dunkelheit und der Regen...

F: Ich habe es nun mal sehr eilig. Ich kann es mir nicht leisten, Zeit zu verlieren. Für mich zählt jede Minute, ja, jede Sekunde ist kostbar!

T: Das stimmt natürlich. Auch ich habe nicht viel Zeit und bin schon mindestens 20 Minuten zu spät dran. Aber trotzdem! (leichtes Kopfschütteln)

F: Was – "aber"? T: Schon gut, war nur so’n Gedanke

(Kurze Sprechpause – ruhigere Fahrweise)

M: (zum Fahrer vorgebeugt) Fahr zu! Beeil dich! Du musst doch noch mindestens eine Minute aufholen! Jetzt hast du endlich gerade Strecke und freie Fahrt!

(kurze Sprechpause)

T: (zum Fahrer): Wie alt sind Sie eigentlich? F: 30 Jahre – Wieso?

T: Dann haben Sie das Leben ja noch vor sich. Noch mindestens – na ja – etwa 20 Millionen Minuten.

F: Klar, das will ich doch wohl meinen!

T: Und wie als ist Ihre Frau?

M: Na, Sie sind ja ziemlich neugierig. Aber ich bin gestern gerade erst 28 geworden.

T: Dann liegen ja noch mindestens 22 Millionen Minuten gemeinsamen Lebens vor Ihnen!

M: Wenn nicht noch mehr, denn Frauen werden ja im Durchschnitt älter als Männer

T: Und Ihr Kind?

F: Das ist neun Jahre jung!

T: Dann hat es phantastische Aussichten! Es kann sich noch auf weit über 30 Millionen Lebensminuten freuen!

M: Genau! Und wir freuen uns mit ihm!

F: Aber jetzt interessiert mich allmählich doch, weshalb Du das alles so genau wissen willst. Und weshalb die merkwürdige Umrechnung in Minuten?

T: Weil ich mich sehr über Sie wundere. Denn ich kann nicht verstehen, wie ein erwachsener Mensch durch zu schnelles Fahren zusammengerechnet über 70 Millionen kostbarer Lebensminuten aufs Spiel setzt, um ein oder zwei Minuten zu gewinnen!

(Aufstehen. Tramper, Fahrer und Mutter gehen zum Standmikrophon > Schuldbekenntnis)

F: (nachdenklich-überlegend) Ja, wenn ich es so bedenke, dann sehe ich ein, dass da etwas falsch läuft. Und ich merke, dass ich mitschuldig bin, ja, dass wir alle irgendwie dazu beitragen an einem oft falschen Umgang mit unserer Zeit.

M: Wenn wir genauer darüber nachdenken, werden wir feststellen, dass wir unsere kostbare zeit oft für ziemlich sinnlose oder sogar schädliche Dinge vergeuden. Und dann verfallen wir leicht in Hektik und Stress, um die verlorene Zeit wiederzugewinnen. Das geschieht aber oft auf Kosten unserer körperlichen und seelischen Gesundheit. Z. B. auf Kosten von etwa 9000 Menschenleben, die allein unser hektischer Straßenverkehr jährlich fordert.

Allein 9000 Menschen im Straßenverkehr?! Wer aber zählt die an mangelnder Zeit zerbrochenen Freundschaften und Ehen, die Magengeschwüre und Nervenschäden, die Lebensunlust und die inneren Ängste, die alle Folge unseres selbstgemachten Zeitdrucks sind? – Und wir alle tragen auf unterschiedliche Weise dazu bei. Doch wer kann dann diesen Teufelskreis der Schuldverstrickung lösen? Wer kann von der dauernden Last dieser Mitschuld befreien?

F: Jesus Christus! Wir wenden uns darum an dich mit dem Bekenntnis unserer Schuld. Wir bitten dich um deine freimachende Vergebung, die uns Kraft für einen neuen Anfang geben kann! Amen.

 


Einleitung zu: Beobachtungen eines Südseeindianers

Um sich selbst besser zu erkennen, ist es hilfreich und interessant, mit den Augen eines anderen und aus seiner ganz anderen Perspektive einen Blick auf sich zu werfen. Diese Chance bietet uns der folgende Text, in dem ein Südseeindianer vor ca. 100 Jahren aus seiner Sicht unsere Art zu leben und mit der Zeit umzugehen, beschreibt. In seiner Sprache werden wir als Papalagie (sprich: Papalandie) bezeichnet.

 


Beobachtungen eines Südseeindianers

Der Paplagie liebt, eas sich nicht greifen lässt und doch da ist – die Zeit. Er macht viel Wesens und alberne Rederei darum. Obwohl nie mehr davon vorhanden ist als zwischen Sonnenaufgang und –untergang hineingeht, ist es ihm doch nie genug.

Der Papalagie ist immer unzufrieden mit seiner Zeit, und er klagt den großen Geist dafür an, dass er nicht mehr davon gegeben hat. Ja, er lästert Gott und seine große Weisheit, indem er jeden Tag nach einem ganz gewissen Plane zerteilt.

Er zerschneidet ihn geradeso, als führe man kreuzweise mit einem Buschmesser durch eine weiche Kokosnuss. Alle Teile haben ihren Namen: Sekunde, Minute, Stunde. Man muss sechzig Minuten oder noch viel mehr Sekunden haben, ehe man so viel hat wie eine Stunde.

Die Männer, die Frauen und selbst Kinder, die kaum auf ihren eigenen Beinen stehen können, tragen im Lendentuch um dicke metallene Ketten gebunden und über den Nacken hängend oder mit Lederstreifen um Handgelenk geschnürt, eine kleine, platte, runde Maschine, von der sie die Zeit ablesen können.

Wenn das Zeitlärmen ertönt, klagt der Papalagie: "Es ist eine schwere Last, dass wieder eine Stunde herum ist." Er macht zumeist ein trauriges Gesicht dabei, wie ein Mensch, der ein großes Leid zu tragen hat, obwohl gleich eine ganz frische Stunde herbekommt.

Weil jeder Papalagie besessen ist von der Angst um seine Zeit, weiß´ er auch ganz genau, wie viele Mond- und Sonnenaufgänge verronnen sind, seit er zum ersten Male das große Licht erblickte. Ja, dieses spielt eine so ernste Rolle, dass es in gewissen, gleichen Zeitabständen gefeiert wird mit Blumen und großen Essensgelagen. Wie oft habe ich verspürt, wie man glaubte, sich für mich schämen zu müssen, wenn man mich fragte, wie alt ich sei, und wenn ich lachte und dies nicht wusste. "Du musst doch wissen, wie alt du bist" Ich schwieg und dachte: Es ist besser, ich weiß es nicht.

Wie alt sein, heißt, wie viele Monde gelebt haben. Dieses Zählen und Nachforschen ist voller Gefahr, denn dabei ist erkannt worden, wie viele Monde der meisten Menschen Leben dauert. Ein jeder passt auf, und wenn recht viele Monde herum sind, sagt er: "Nun muss ich bald sterben." Er hat keine Freude mehr und stirbt auch wirklich bald.

Es gibt in Europa nur wenige Menschen, die wirklich Zeit haben. Vielleicht gar keine. Daher rennen auch die meisten durchs Leben, wie ein geworfener Stein. Fast alles sehen im Gehen zu Boden und schleudern die Arme weit von sich, um möglichst schnell voranzukommen. Wenn man sie anhält, rufen sie unwillig: "Was musst du mich stören; ich habe keine Zeit, siehe zu, dass du deine ausnützt." Sie tun geradeso, als ob ein Mensch der schnell geht, mehr wert sei und tapferer, als der, welcher langsam geht.

Der Papalagie wendet seine ganze Kraft auf und gibt alle seine Gedanken daran, wie er die Zeit möglichst dick machen könne. Er nutzt das Wasser und das Feuer, den Sturm, die Blitze des Himmels, um die Zeit aufzuhalten. Er tut eiserne Räder unter seine Füße und gibt seinen Worten Flügel, um mehr Zeit zu haben.

Und wozu alle diese Mühe? Was macht der Papalagie mit einer so hart erkämpften Zeit?

 


Einführung zur Schriftlesung

Das Problem, von dem wir in den Beobachtungen des Südseeindianers gehört haben und die damit verbundenen Fragen beschäftigten seit altersher.

Auch in der Lesung aus dem Buch Kohelet, das im 3. Jahrhundert v. Chr. geschrieben wurde, hören wir davon.

Kohelet sieht den Menschen als gebildeten, weltgestaltenden und das Leben voll auskostenden Menschen und fragt nach dem Sinn eines derartigen Lebens.

Jeder Augenblick ist in Gottes Hand aufgehoben. Der Mensch kann ihn weder berechnen noch in den Griff bekommen, er kann ihn nur annehmen, im Vertrauen auf Gott genießen und überall da, wo es sich anbietet, tatkräftig handeln. Denn dieses "Jetzt" ist die dem Menschen gegebene Zeit.

 


Überleitung zum Vater unser

Nach diesen abwechselungsreichen Texten und Musikstücken wollen wir nun ein Gebet sprechen, dass dagegen für manchen vielleicht sehr blass und abgegriffen klingt.

Ich meine das Vater unser, das wir möglicherweise schon zu oft nur gedankenlos und eher automatisch mitgesprochen haben.

Dabei enthält dieses von Jesus selbst geformte Gebet im Kern alles Wesentliche, was es zwischen Mensch und Gott überhaupt zu sagen gibt.

Lasst uns das bedenken, wenn wir jetzt aufstehen und gemeinsam beten!

(Langsam und deutlich vorsprechen)

 


Fürbitten

1. (8L): Novembertage. Die Erwartung auf einen golden Herbst haben wir gefühlsmäßig gerade erst hinter uns gelassen. Da drängeln sich vor den Supermarktkassen schon Weihnachtsmänner, Butterspekulatius und Marzipankartoffeln um unsere Aufmerksamkeit.
Die kommenden Wochen vor Weihnachten geraten wieder in Gefahr, eine rushhour, eine einzige Schnellstraße zu werden. Da jagt vor den Weihnachtsferien ein Klassenarbeitstermin den anderen und jeder Tag muss genau durchgeplant werden. Dazu kommen noch die festen Dauertermine: Sportverein, Gitarrenunterricht, Nachhilfe, Konfirmandentreffen.
Manchmal frage ich mich abends, wenn ich noch mal 15 Minuten Ruhe habe, um über meinen Tag nachzudenken, ob ich meine Zeit im Griff habe, oder ob nicht eher die Zeit mich im Griff hat.
Darum bitten wir dich, Jesus Christus, dass wir unsere Zeit als ein Geschenk begreifen, ein Geschenk, von dem du jedem von uns eigentlich reichlich gibst, so dass wir nicht zu Sklaven unserer Tages- und Lebenszeit zu werden brauchen, denn du hast in all‘ unser Tun etwas von deiner Ewigkeit mit hineingelegt.

Alle singen: He’s got the whole world...


2. (11a): Ständig verlangt man von uns, Zeit zu haben für die verschiedensten Aufgaben und Fragen. Alles Mögliche wird uns als wichtig angepriesen und ständig sollen wir aufnahmebereit sein. Da bleibt kaum Zeit, um uns selbst zu finden.
Darum bitten wir dich, Jesus Christus, dass du uns ermutigst, uns diese lebensnotwendige Zeit für uns selbst zu nehmen und sie nicht wieder mit den heute im Überfluss vorhandenen Ablenkungsmöglichkeiten vollzustopfen!

Alle singen: He’s got the whole world...


3. (8L): Oft sind wir selber mitschuldig an dem vielbeklagten Zeitmangel, weil wir auf nichts verzichten möchten und überall dabei sein wollen. Deshalb bitten wir dich, Jesus Christus, lehre uns das Wichtige vom Unwichtigen zu unterscheiden und das, was jetzt getan werden muss, auch ohne Aufschub und mit ganzer Konzentration zu tun!

Alle singen: He’s got the whole world...


4. (11)a: Wir Menschen verwenden heutzutage viel Zeit, um Dinge zu kaufen, zu genießen und um dafür zu arbeiten.. Unsere Gedanken kreisen z. B. um das neueste Computerprogramm, den CD-Player im Sonderangebot, um die schicke Herbstmode, das Schnäppchen im Sommerschlussverkauf, um das noch bessere Automodell. Wir laufen ständig Gefahr, Dinge wichtiger zu nehmen als Menschen.
Jesus Christus, wir bitten dich deshalb, dass du den Blick öffnest für unsere Mitmenschen, damit wir ihnen Zeit schenken und sie nicht für so viele oberflächliche Dinge vergeuden!

Alle singen: He’s got the whole world...

 


Verabschiedung

Er hat seine Zeit gedauert, dieser Gottesdienst.

Wir haben uns Zeit gelassen dafür.

Wir haben uns Zeit genommen, obwohl wir doch eigentlich noch dieses und jenes unbedingt und besonders heute zu tun gehabt hätten.

Sicher, nach den Maßstäben, die sonst im Alltagsleben gelten, haben wir in dieser Stunde nichts geschafft, nichts geleistet, von dem wir einen unmittelbaren Nutzen, einen sichtbaren Gewinn hätten.

Doch vielleicht können diese 60 Minuten der Besinnung mitbewirken, dass wir auf lange Sicht unser Leben, unseren Lebensstil immer wieder neu überdenken. Dann kann uns klar werden, was wir eigentlich wollen; was uns wirklich auf Dauer glücklich machen kann; was also so wichtig ist, dass wir unsere Lebenszeit guten Gewissens daran verschenken können.

Der kleine Freiraum, den wir heute dadurch bekommen, dass nach diesem Gottesdienst keine Schule mehr stattfindet, kann eine Art Starthilfe für einen veränderten Umgang mit unserer Zeit sein. Das wünsche ich uns allen und erbitte dafür den Segen Gottes, des Herrn über Zeit und Ewigkeit. Amen.

Text erschienen im Loccumer Pelikan 3/2000

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