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Soli Deo Gloria. Zum Profil der evangelisch-reformierten Tradition

von Martin Laube

Eine Vorbemerkung

Es gab und gibt das Christentum stets nur in einer Pluralität von Strömungen, Richtungen und Konfessionen. Daher ist es nicht möglich, einen gemeinsamen Wesenskern des „allgemein Christlichen“ zu bestimmen – so sehr es Überschneidungen gibt. Vielmehr ist jeder Versuch stets von einer bestimmten positionell-konfessionellen Perspektive geprägt. Wichtig ist: Diese positionell-konfessionelle Pluralität ist als solche kein ökumenischer Skandal, sondern ein Zeichen für die Vitalität und Lebendigkeit des Christentums. Der ökumenische Skandal liegt erst darin, dass und wenn die verschiedenen Konfessionen einander nicht als legitime Ausdrucksgestalten des Christlichen anerkennen.

Die schwierige ökumenische Aufgabe lautet daher, wie es gelingen kann, trotz bleibender Verschiedenheiten zu einer solchen wechselseitigen Anerkennung zu gelangen. Dazu ist ein wechselseitiges Verständnis des jeweils Anderen unverzichtbar.


In diesem Sinne zielt die folgende Darstellung auf eine idealtypische Darstellung des reformierten Christentums. Damit wird vorausgesetzt, dass es ein spezifisches Profil des Reformiertentums gibt, das sich von anderen konfessionellen Profilen im Christentum hinreichend unterscheidet. Folglich ist es nicht damit getan, die konfessionellen Differenzen und Eigenarten allein auf die Streitigkeiten der Reformationszeit zu beziehen – und dann zu sagen, weil diese Streitigkeiten vergangen sind, seien auch die konfessionellen Differenzen überholt. Vielmehr wird in den christlichen Konfessionen das Prinzip, das Wesen oder die Idee des Christlichen jeweils anders aufgefasst und bestimmt – mit prägenden Folgen für die jeweilige Frömmigkeit und Lebenspraxis. Diese Unterschiede müssen keinesfalls kirchentrennend sein. Werden sie aber im Namen eines überkonfessionell-allgemeinen Christentums eingeebnet, wird der dynamischen Lebendigkeit des Christlichen der Stachel gezogen.


Charakteristika des reformierten Protestantismus

Im Mittelpunkt des reformierten Protestantismus steht der Gottesgedanke – die Betonung der souveränen Macht und Herrschaft des transzendenten Gottes, zusammengefasst in der Formel Soli Deo Gloria. Zugespitzt formuliert: Lutherisch ist Gott der Gott der sich verströmenden und hingebenden Liebe, reformiert ist Gott der souveräne Herr des Himmels und der Erde.


Entsprechend hat der reformierte Protestantismus ein grundsätzliches Interesse an der Wahrung der uneinholbaren Transzendenz Gottes einerseits, der Unterscheidung von Gott und Mensch andererseits: Gott ist der ganz Andere, und es geht stets darum, gegen alle Tendenzen sakralisierender Selbstüberhöhung des Menschen diesen Abstand zwischen Gott und Menschen unablässig neu einzuschärfen. Das Schlagwort dafür lautet „Kampf gegen alle Kreaturvergötterung“. Auch im Christentum bleibt jede Rede von Gott stets menschliche Rede von Gott, die ihn niemals vollgültig erfassen und einholen kann.


Die reformierte Betonung der Souveränität Gottes mündet in eine entsprechende Hervorhebung des Prädestinationsgedankens: Gott hat alles im Voraus festgelegt. Sein grundloser Wille ist Grund und Ursache der Welt; alles geschieht nach seinem Willen, nichts passiert ohne oder gar gegen seinen Willen. Die lutherische Seite legt den Akzent vor allem auf die sich selbst erniedrigende und hingebende Liebe Gottes. Dem entspricht die zentrale Stellung des Inkarnationsgedankens: Gott setzt sich in Leid, Kreuz und Tod Jesu Christi gleichsam selbst dem Geschehen der Welt aus, um dieses in der Kraft der alles ertragenden Liebe zu überwinden. In der reformierten Tradition hingegen ist Gott –zugespitzt – nicht primär der Gott der Liebe, sondern der souveräne Herr. Freilich steht dabei keine kalte Allmachtslogik im Hintergrund, sondern ein existentielles Anliegen. Der reformierte Christenmensch betont die Souveränität Gottes, um sich vollständig und allezeit durch ihn erwählt und in ihm geborgen wissen zu können. Er ist nicht angefochten durch das Leid der Welt, sondern weiß sich als von Gott erwähltes, zu Gottes Dienst erhobenes Geschöpf den Schicksalsschlägen der Welt entnommen, auch wenn er in ihr für Gottes Willen eintritt.


Daraus ergibt sich zweierlei: Zum einen legt der reformierte Protestantismus weniger Gewicht auf die Theodizee-Frage als das Luthertum. Denn diese Frage ist gleichsam immer schon beantwortet: Alles, auch Unglück, Leid und Gewalt hat seinen Grund im göttlichen Willen. Dieser ist für den Menschen unerforschlich. Wir können Gott nur ehrfürchtig anbeten und uns seiner väterlichen Fürsorge vollständig anvertrauen. Der Reformierte verzweifelt nicht an Leid und Unglück, sondern nimmt dieses als Ausdruck des göttlichen Wirkens an.


Zum anderen prägt die starke Betonung der Souveränität Gottes die soteriologische Grundausrichtung des Reformiertentums, also die spezifische Fassung der Heilsfrage. Im lutherischen Protestantismus geht es um Luthers Frage: „Wie bekomme ich einen gnädigen Gott?“ Im Mittelpunkt steht das Interesse an der individuellen Heilsgewissheit angesichts der Erfahrung der Anfechtung, des Gesetzes und der Sünde. Die lösende Antwort ist die Rechtfertigungsbotschaft mit der Pointe des individuell zugesprochenen pro me: Für mich ist das Heil geschehen; mir wird es im Evangelium zugesprochen. Der reformierte Protestantismus wittert hier einen problematischen Heilsegoismus – und damit eine Verkehrung der Rangfolge von Gott und Mensch: Im christlichen Glauben geht es nicht um die egoistische Frage des Menschen nach seinem Heil, sondern um die angemessene Verehrung des allmächtigen Gottes. Die Ausrichtung des Luthertums auf die subjektive Erfahrung, das individuelle Heil ist dem Reformiertentum höchst suspekt, weil der Reformierte sich immer schon in der Erwählung des allmächtigen Gottes aufgehoben weiß. Er misstraut der subjektiven Erfahrung, hat auch die lutherischen Gewissensnöte nicht, sondern weiß sich im ewigen Willen Gottes erwählt, zum Heil bestimmt.


Als Folge der Ausrichtung auf die Transzendenz und Majestät Gottes legt der reformierte Protestantismus unablässigen Wert auf die bleibende Unterscheidung von Gott und Welt. Daraus erklären sich zum einen die innerevangelischen Differenzen im Abendmahlsverständnis. Zum anderen gilt die reformierte Reserve auch für das Verständnis der Offenbarung und des Wortes Gottes überhaupt. Gott ist der selbst in seiner Offenbarung nicht Fassbare. Er lässt sich mit menschlich-irdischen Mitteln nicht einholen oder festhalten. Das betrifft auch die Verkündigung überhaupt: Gott bleibt der sich aller menschlichen Rede stets Entziehende. Auch die Bibel ist nicht als solche das Wort Gottes, sondern kann es im unverfügbaren Ereignis allenfalls je und je werden.

Das Soli Deo Gloria, die Betonung der Majestät und Souveränität des Willens und der Herrschaft Gottes, färbt weiter auf die spezifische Fassung des Gnaden- und Heilsverständnisses ab. Gemeinsam ist Lutherischen und Reformierten der reformatorische Zuspruch der Rechtfertigung mit der Pointe, dass der Mensch der rein Empfangende der freien, unverdienten Gnade Gottes ist. Bei näherem Hinsehen ergeben sich dann aber doch deutlich unterschiedliche Akzentsetzungen. Lutherisch ist der Zuspruch der Rechtfertigung primär der Zuspruch eines „Nicht-mehr-Müssens“, hat die Gnade insofern den Charakter eines „Zur-Ruhe-Kommens“ und der Entlastung vom unheilvollen Zwang der Werke. Reformiert hingegen ist der Zuspruch der Rechtfertigung der Zuspruch eines „Tun-Könnens“, hat die Gnade den Charakter der Ermutigung zu eigenem Handeln, des Empowerments zu Selbständigkeit, Kreativität und eigener Entscheidung. Zugespitzt formuliert: Lutherisch ist das Gnadenverständnis auf Entlastung getrimmt, reformiert auf Motivation.


Daraus erklärt sich der charakteristisch ethische Grundzug der reformierten Frömmigkeit. Es geht darum, den Menschen in Dienst zu nehmen für die Verwirklichung des Willens Gottes in der Welt. Die Gnade Gottes stellt den Menschen auf die Füße, versetzt ihn in die Lage, als Werkzeug zur Verwirklichung des Willens Gottes dienen zu können. Zugespitzt formuliert: Während auf lutherischer Seite alles daran liegt, die heilvolle Gegenwart Gottes in Kult und Sakrament zu genießen und ansonsten das Elend der Welt zu ertragen in der Hoffnung auf die überwindende Vollendung in der ewigen Seligkeit, besteht das reformierte Ethos darin, dass der Christenmensch an der Gestaltung der Welt teilnimmt und sich in rastloser Arbeit dafür einsetzt, den Willen Gottes in der Welt zu verwirklichen. Nicht Weltflucht, sondern Weltgestaltung, nicht passives Dulden und Ertragen, sondern tätiges Handeln und Gestalten kennzeichnen das reformierte Ethos.


Zugleich liegt darin die kühle Weltüberlegenheit des reformierten Christenmenschen begründet: Er ist kraft göttlicher Gnade in die tätige Willensgemeinschaft mit Christus aufgenommen und erwählt dazu, im Dienste Gottes zur Aufrichtung seines Reiches auf der Welt beizutragen. Auf der Kehrseite impliziert das freilich eine bittere Grundaussage über den Menschen. Er ist ein Sünder, dem Tode verfallen – und nur die erbarmende Gnade der Erwählung verleiht ihm Wert, erhebt ihn dazu, Diener für den Willen Gottes sein zu dürfen. Für sich selbst ist er Sünder und gleichsam nichts, nur im Dienste Gottes gewinnt er unendlichen Wert als gehorsamer Mitarbeiter an seinem Reich. Die lutherische Tradition setzt hier einen anderen Akzent. Zwar gilt ihr der Mensch ebenfalls als Sünder; zugleich aber liegt der Segen Gottes auf ihm, in Christus zum Ebenbild erlöst zu sein.

Schließlich zeigen sich auch im Kirchenverständnis charakteristische Unterschiede zwischen Lutherischen und Reformierten. Grundsätzlich gilt der reformatorische Konsens, dass die Kirche von ihrem Grund – Christus – unterschieden ist. Sie verweist auf das Heil, das ihr vorausliegt. Zugleich aber kann das Luthertum mit seinem Inkarnationspathos viel deutlicher von der Präsenz Gottes im Medium der Verkündigung und der Sakramente reden. Demgegenüber wirkt sich im Reformiertentum die Betonung der Distanz Gottes gegenüber dem Irdisch-Menschlichen auch im Kirchenverständnis aus. Das betrifft zunächst die Geltung von Wort und Sakrament, dann aber auch die Wertung des kirchlichen Amtes, der kirchlichen Vollzüge und nicht zuletzt des kirchlichen Raums. Es fällt Reformierten sehr viel schwerer, das Amt als göttliche Ordnung zu begreifen. Umgekehrt wird die Egalität aller Christenmenschen – also die Einebnung der Differenz von Klerus und Laien – sehr viel deutlicher herausgestellt. In diesem Sinne hat sich das Reformiertentum auch immer als die radikalere, gründlichere, als die vollgültigere Verwirklichungsgestalt der Reformation begriffen.

Ein weiterer Akzent kommt hinzu: In reformierter Sicht ist die Kirche nicht nur „Heilsanstalt“ bzw. Ort der Verkündigung des Heils, sondern darüber hinaus ethische „Heiligungsanstalt“. Da es immer auch um die Heiligung geht, versteht sich die Kirche als pädagogische Erziehungsanstalt für das christliche Leben. Hier hat der spezifisch reformierte Brauch der Kirchenzucht seinen Grund. Die Kirche ist die „Mutter“, welche alle Christenmenschen nährt, als Kinder in der Gemeinschaft hält und so zur Aufrichtung der Herrschaft Gottes im alltäglichen, politischen und gesellschaftlichen Leben anleitet und beiträgt. 


Würdigung und Kritik

Blickt man auf diese – idealtypisch zugespitzten – Charakteristika des reformierten Protestantismus zurück, können nun spiegelbildlich Vorzüge und Schattenseiten einander gegenübergestellt werden.

Die Betonung der Unterscheidung von Gott und Welt schreibt dem christlichen Glauben und damit auch der Theologie selbst ein bleibend religionskritisches Moment ein. Es gehört zur bleibenden Aufgabe von Glaube, Kirche und Theologie, jeder Tendenz zur Selbstsakralisierung und -überhöhung des Menschen zu widersprechen und aller missbräuchlichen Inanspruchnahme Gottes für eigene Zwecke zu wehren. Im Gegenzug kann die starke Betonung der Transzendenz Gottes dazu führen, dass die Grundbotschaft des Christentums von der Menschwerdung Gottes in Christus an Kraft verliert – dass die Welt letztlich gottverlassen bleibt, dass von der geschehenen Erlösung zu wenig spürbar wird.


Das Reformiertentum schärft den ethischen Grundsinn des christlichen Glaubens ein. Im Glauben wird der Mensch von Gott erhoben und in die Lage versetzt, sich selbständig und verantwortlich für die Gestaltung der Welt einzusetzen. Der reformierte Glaube predigt nicht Rückzug aus der Welt, sondern ermutigt zur ethischen Weltgestaltung – dazu, sich als Christenmensch trotz aller Rückschläge immer wieder neu für die Verbesserung der Welt und die Verwirklichung des Guten einzusetzen. Eben diese ethische Pointe kann dann freilich auch zu einer unguten Moralisierung führen. 

Kirchlich liegt ein großes Pfund des Reformiertentums in der Betonung der strikten Egalität und Gleichheit aller Christenmenschen – auch in der Gestaltung des Kirchenwesens. Darin liegt eine Grundtendenz zur Demokratie und zur demokratischen Gestaltung der kirchlichen Organisation, die einschärft, dass es verschiedene Ämter, Begabungen, Positionen und Aufgaben gibt. Die Kehrseite dieses egalitären Grundzugs besteht darin, dass er in der kirchlichen Realität zu massiven pragmatischen Reibungsverlusten führt: Kirchliche Entscheidungsprozesse – egal welcher Art – dauern lang und sind oft für alle Beteiligten mit viel Mühe und Aufwand verbunden. 


Allerdings liegt gerade in dem skizzierten Bewusstsein um die eigene Relativität auch der Grund für die eigentümliche Irenität des Reformiertentums. Anders als das Luthertum ist das Reformiertentum nicht konfessionell hartleibig, sondern stets auf Verständigung und Gemeinschaft ausgerichtet. Das führt zum Anfang zurück: Das Reformiertentum weiß in besonderer Weise darum, dass es nur eine unter mehreren Ausprägungen und Realisierungsgestalten des Christlichen darstellt – dass es selbst um des eigenen Grundes und Evangeliums willen nicht den Anspruch erheben kann, die göttliche Wahrheit dauerhaft erfasst und in Besitz genommen zu haben, sondern sich stets unter die Verpflichtung stellt, sich von anderen im besseren Verständnis der Schrift belehren zu lassen.

DETAILLIERTERE AUSFÜHRUNGEN

Eine längere Fassung des Artikels findet sich im Downloadbereich als pdf-Datei.