Orthodoxe Christ*innen im CRU
"Wo dein Schatz ist, da ist auch dein Herz“ (Mt 6,21) lautet das prominente Zitat aus dem Matthäusevangelium. Das Zitat ist nicht nur so anschaulich, dass es Qualitäten für einen Slogan aufweist. Es zeugt zugleich von Tiefgang und bietet Anlass, darüber nachzudenken, was im Leben tatsächlich zählt. Der Wert eines Schatzes hängt nämlich im Sinne des Matthäusevangeliums von der Wertschätzung ab, die man ihm für das Leben beimisst. Gemeint ist das Leben in seiner ganzheitlichen Perspektive, das im irdischen Dasein bereits seine Bestimmung für die Ewigkeit entfaltet. Vor einem vergänglichen Schatz hingegen warnt Matthäus. Die Frage ist, für welchen Schatz wir uns entscheiden. Was uns eine Sache wert ist, wofür unser Herz wirklich schlägt, ist letztlich am tätigen Einsatz für „unseren“ Schatz erkennbar.
Wertschätzung und eine ganzheitliche Sicht vom Leben sind als grundlegende Prinzipien auch für den Religionsunterricht von Bedeutung. Das gilt besonders in Anbetracht der heterogenen und multikonfessionellen Zusammensetzungen der Lerngruppen im Religionsunterricht; während eine evangelisch-katholische Kooperation im Religionsunterricht bereits in mehreren Bundesländern fest etabliert ist, steht eine Kooperation mit der Orthodoxen Kirche noch aus.1 In exponierter Weise kommt diese Situation in der Entwicklung des Christlichen Religionsunterrichts in Niedersachen zum Ausdruck, der den Anspruch erhebt, ein Religionsunterricht für alle Christ*innen zu sein.2 Etwa vier Millionen orthodoxe Christ*innen leben in Deutschland; knapp über 99 Prozent der orthodoxen Schüler*innenschaft besuchen aus organisatorischen Gründen einen anderskonfessionellen Religionsunterricht oder ein Ersatzfach.3 Daher stellt sich sowohl die Frage, wie der Religionsunterricht in seiner Vielfalt auch den orthodoxen Schüler*innen gerecht werden kann, als auch welchen Schatz die orthodoxe Kirche und Religionspädagogik einbringen können.
Zunächst ist festzuhalten, dass die orthodoxe Schüler*innenschaft auch eine innere Vielfalt kennt. Die Biografie orthodoxer Schüler*innen ist zumeist mit einer Migrationsgeschichte aus einem Land Ost- oder Südosteuropas oder des Nahen Ostens verbunden. Deswegen ist auch ihr Zugang zu Religion auf unterschiedliche Weise in der Kultur und Sprache eines anderen Landes beheimatet. Diese kulturelle Vielfalt spiegelt sich in den orthodoxen Kirchengemeinden Deutschlands insgesamt wider. In diesem Kontext sind auch die orthodoxen Christ*innen deutscher Herkunft in der Regel ebenfalls mit mindestens zwei Kulturen in Berührung.4 Auf diesem Hintergrund spiegelt sich in der orthodoxen Schüler*innenschaft die ganze Welt wider, während ein Band der Einheit das Ganze zusammenhält. Grundlage dieser Einheit, die sich vor Ort entfaltet und doch Raum und Zeit überschreitet, ist „ein Glaube […], ein Gott und Vater aller, der da ist über allen und durch alle und in allen“ (Eph 4,5-6).
Diese allumfassende transzendente Dimension des Glaubens ist nicht nur Geschenk, sondern auch Auftrag, „darauf bedacht“ zu sein, diese „Einigkeit zu wahren“ (Eph 4,3). Sie hat nicht nur die Menschen im Blick, sondern sie erstreckt sich auf die gesamte Schöpfung. Schließlich ist der Sohn Gottes der „Erstgeborene der ganzen Schöpfung“ (Kol 1,15) und zugleich existiert er „vor aller Schöpfung und in ihm hat alles Bestand“ (Kol 1,17). Im orthodoxen Religionsunterricht kommt dieses Verständnis prägnant im „GMMC-Modell“5 zum Ausdruck, das für die organische Verbindung von „god – mankind – myself – creation“6 steht und dem Menschen als Orientierung für sein eigenes Leben dient.7 Im GMMC-Modell ist der Gottesbezug sowohl im Blick auf den Menschen als auch auf die Schöpfung gegeben, so dass es nicht nur ein Bild von Theologie, sondern auch von Anthropologie und Kosmologie entwirft: Gott ist immer und überall präsent.
Das „GMMC-Modell“ ist im nordrhein-westfälischen Lehrplan für den orthodoxen Religionsunterricht im Inhaltsfeld „Doxologie der ganzen Schöpfung“ mit dem Schwerpunkt „Orthodoxie heißt Orthopraxie“ verortet.8 Glauben und Handeln sind also untrennbar miteinander verbunden und werden auf die Lebensgestaltung der Schüler*innen „im eigenen erlebten Umfeld“9 hin gedeutet. Im Hinblick auf die „Relevanz orthodoxer Schöpfungstheologie für das Leben der Einzelnen und die gesellschaftliche Praxis“10 gilt es eine Urteilskompetenz zu entwickeln, die die Abwägung von „Möglichkeiten und Grenzen der Orthopraxie und ethischer Argumentation im Alltag“11 einschließt. Die intendierte Urteilsfähigkeit erstreckt sich auf diverse ethische Entscheidungsfelder bis hin zum „gleichberechtigen, selbstbestimmten Zusammenleben[s] von Männern und Frauen“12. Dieser ethischen Reflexions- und Handlungsebene liegt das Verständnis eines doxologischen Lebensstils zugrunde, bei dem das Leben als Ganzes zum Lobpreis Gottes wird.
Bezeichnenderweise sieht die Orthodoxe Kirche ihre Einheit weltweit in dem einen Glauben und in der einen Liturgie begründet,13 wobei ein roter Faden die enge Verbindung zwischen Glauben und Liturgie sowie dem Handeln aus dem Glauben als liturgischen Akt durchzieht.14 Selbst der Umgang mit der Schöpfung wird als „eucharistisch“ bezeichnet, was im Griechischen „Danksagung“ bedeutet. Die Schöpfung wird nämlich als Geschenk des liebenden Schöpfers verstanden, als „ein Bereich der Gemeinschaft und Freude […], an dessen Güte alle Menschen und alle Geschöpfe teilhaben sollen und dessen Schönheit alle Menschen zu schätzen und zu schützen berufen sind“.15 Um dieses Ziel zu erreichen, bedarf es der Erkenntnis der eigenen Schwächen, „großer Anstrengung“ und „Einübung in Dankbarkeit“.16 Schließlich kann „nur die Danksagung […] wirklich die Spaltung heilen“ und „wenn die Menschheit in Harmonie mit der ganzen Schöpfung ist, erfolgt diese Danksagung mühelos und spontan“.17
Der Bezug zur Liturgie bildet im orthodoxen religionspädagogischen Kontext ein zentrales didaktisches Prinzip.18 Dieses lässt sich im Sinne der obigen Ausführungen ebenso wenig als katechetische Unterweisung kategorisieren,19 wie sich aus orthodoxer Sicht Kirche und Welt als getrennte Sphären betrachten lassen. Vielmehr gilt es, das Ganze im Blick zu haben und auch im äußerlich Wahrnehmbaren den tieferen Grund der Dinge zu erkennen.20 In der Orthodoxen Kirche ist das liturgische Leben eng mit der Vergegenwärtigung der Wirklichkeit Gottes bzw. mit der Erfahrung der Gegenwart Gottes verbunden. In den Hymnen nahezu aller Feste, die mit dem Heilswirken Christi verbunden sind, ist das Wort „heute“ zu finden. So heißt es etwa im Weihnachtsfestlied: „Die Jungfrau gebiert heute den, der über allem Sein ist und die Erde bietet die Höhle dem Unzugänglichen“21. Das Heilsereignis ist zeitübergreifend und aktuell. Es lädt dazu ein, die Botschaft für das Leben heute fruchtbar zu machen.
Vielerorts wird in diesem Jahr das Jubiläum des Ersten Ökumenischen Konzils von Nizäa (325) ökumenisch begangen. Letzteres zeugt vom einen Glauben der ungeteilten Kirche des ersten Jahrtausends. Das Konzil hat sich durchaus mit konträren Meinungen auseinandergesetzt, diese gemeinschaftlich beraten und ein Bekenntnis formuliert, das den Glauben visualisiert.22 Im Sinne der Visualisierung kann das Glaubensbekenntnis mit Ikonen verglichen werden, die die unsichtbare Realität sichtbar machen und deren genuiner Ort ein liturgischer ist. Zum einen wird das Glaubensbekenntnis gebetet, zum anderen wird seine Botschaft auch auf Ikonen abgebildet. Eine Ikone des Ersten Ökumenischen Konzils wurde etwa im Auftrag der Orthodoxen Bischofskonferenz in Deutschland (OBKD) angefertigt und befindet sich in Deutschland auf einem Pilgerweg.23 Sie wandert durch orthodoxe Gemeinden und ist ebenso bei ökumenischen Begegnungen dabei. Auf der Ikone thront inmitten der Konzilsväter „das geöffnete Evangelienbuch mit den Buchstaben Alpha und Omega, das Wort Gottes, das auf Jesus Christus, den menschgewordenen Logos Gottes, hinweist“.24 Dieses Christusverständnis ist lebensrelevant, denn „Gott wurde Mensch, damit wir vergöttlicht würden“25. Vergöttlicht, also mit Gott vereint zu sein, ist die Bestimmung des Menschen per se. Es handelt sich nicht um ein individuelles Unterfangen, sondern es bedingt ein Zusammenwirken (griech. „Synergeia“) mit Gott selbst. Zudem trägt der Mensch als Mikrokosmos die gesamte Schöpfung in sich, so dass sein Weg auch in die Schöpfung, in die Welt hineinwirkt.
Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass der Schatz der Orthodoxie sich in ihrer Wertschätzung für das Leben in einer ganzheitlichen Perspektive äußert. Dazu gehört es, eine Sensibilität für das Ganze zu entwickeln und zwar einschließlich der Vielfalt der Menschen im Einzelnen. Das gilt umso mehr für den Religionsunterricht, in dem Schüler*innen in konfessioneller und weltanschaulicher sowie kultureller Vielfalt zusammenkommen. Diese wahrzunehmen und ihr gerecht zu werden, gehört zu den Voraussetzungen einer gelungenen Kooperation.26 Letztere muss auch auf der Ebene der Verantwortungsträger erfolgen, damit sie über die Lehrpläne und adäquate Religionslehrkräftebildung letztendlich die Schüler*innen erreicht. Diese gilt es zu ermutigen, mit ihrem Herzen nach dem Schatz zu suchen und ihnen einen Kompass zur Orientierung auf ihrem Weg anzubieten. Schließlich wird ihnen allen das Geschenk des Lebens zuteil, das sie gerufen sind, „nachhaltig“ zu gestalten und ihren Schatz mit den anderen zu teilen.
Anmerkungen
- Vgl. Kiroudi, Orthodoxe Religionspädagogik und Theologie, 195-196; Dies., Travelling religion, 10f.
- Die Orthodoxe Bischofskonferenz in Deutschland (OBKD) sprach sich 2023 explizit für eine Mitwirkung ihrerseits am Christlichen Religionsunterricht aus. Vgl. OBKD, Stellungnahme der Orthodoxen Bischofskonferenz in Deutschland zum Christlichen Religionsunterricht in Niedersachsen, 11. März 2023.
- Vgl. Kiroudi, Orthodoxer Religionsunterricht in Deutschland, 329; Dies., Travelling religion, 6-7; Thon, Inzwischen rund drei Millionen, IV.
- Schätzungsweise sind höchstens ein Prozent aller orthodoxen Christinnen und Christen in Deutschland deutscher Herkunft.
- KLP OR NRW Sek. II, 32.
- Ebd.
- Vgl. ebd.
- Vgl. a.a.O., 39-40.
- A.a.O., 40.
- Ebd.
- Ebd.
- Ebd.
- Das Wort des Gebets ist das Wort des Glaubens (lex orandi lex est credendi). Vgl. Bria, Liturgy, 31; Schmemann, Eucharistie, 32; Basioudis, Liturgie, 3.
- Vgl. ausführlich dazu Kiroudi, Orthodoxer RU, 169-173.
- Für das Leben der Welt, § 74.
- Ebd.
- Ebd.
- Vgl. ausführlich dazu Kiroudi, Orthodoxer RU, 174-177.
- Vgl. die differenzierte Betrachtung orthodoxer religionspädagogischer Ansätze bei Simojoki, Liturgisches Leben, 219.
- Vgl. Radu Constantin Miron zitiert nach Kiroudi, Visualisierung in der Ökumene.
- Kontakion des Weihnachtsfestes.
- Vgl. Miron, Begrüßung bei der Eröffnung der Tagung „1.700 Jahre Konzil von Nizäa“, 2025.
- Die Nizäa-Ikone ist digital abrufbar unter https://kurzlinks.de/awka (18.05.2025).
- Nizäa-Ikone [Erklärung zur Ikone] und Miron, Begrüßung bei der Eröffnung der Tagung „1.700 Jahre Konzil von Nizäa“, 2025.
- Athanasius von Alexandrien, Über die Menschwerdung, Nr. 54.
- Eine Ermutigung zur Zusammenarbeit im Religionsunterricht bildet die gemeinsame Schrift der OBKD/EKD, Christliche Bildung gemeinsam ermöglichen.
Literatur
- Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen in Deutschland: Materialien zu 1700 Jahre erstes Ökumenisches Konzil von Nizäa (325), https://kurzlinks.de/awka (15.05.2025)
- Athanasius von Alexandrien: Über die Menschwerdung des Logos und dessen leibliche Erscheinung unter uns, in: Bibliothek der Kirchenväter, 1. Reihe, Band 31, München 1917, https://kurzlinks.de/2onm (15.05.2025)
- Basioudis, Georgios: Liturgie als Ereignis. Die liturgische Theologie der Orthodoxen Kirche, Vortrag, Veranstaltung zum Thema „Liturgie feiern in säkularer Zeit“ in der Akademie der Diözese Rottenburg-Stuttgart, Stuttgart-Hohenheim, 13.10.2012–14.10.2012, in: https://kurzlinks.de/6aab (15.05.2025)
- Bria, Ion: The Liturgy after the Liturgy. Mission and Witness from an Orthodox Perspective, Genf 1996
- Hallensleben, Barbara (Hg.): Für das Leben der Welt. Auf dem Weg zu einem Sozialethos der Orthodoxen Kirche. Mit einem Geleitwort des Ökumenischen Patriarchen Bartholomäus, Münster 2020
- Kiroudi, Marina: Orthodoxe Religionspädagogik und Theologie. Ein Beziehungsgeflecht zwischen Immanenz, Kontextualisierung und Kreativität, in: Österreichisches Religionspädagogisches Forum (ÖRF) 31 (2023), H. 2, 182-199, doi: 10.25364/10.31:2023.2.11
- Kiroudi, Marina: Orthodoxer Religionsunterricht in Deutschland. Geschichte, Rahmenbedingungen und Perspektiven, in: Eastern Church Identities, Bd. 6, Paderborn 2021
- Kiroudi, Marina: Travelling religion: dynamic processes of Orthodox religious education in Germany, in: Journal of Beliefs and Values, 2024, 1-16, doi: 10.1080/13617672.2024.2409550.
- Kiroudi, Marina: Visualisierung in der Ökumene, in: KNA Hintergrund, 11/2025, 43-45
- Kultusministerium des Landes Nordrhein-Westfalen (Hg.): Kernlehrplan für die Sekundarstufe II Gymnasium/Gesamtschule in Nordrhein-Westfalen. Orthodoxe Religionslehre (= Die Schule in Nordrhein-Westfalen H. 4737), 2017, https://kurzlinks.de/o5ck (15.05.2025)
- Kontaktion des Weihnachtsfestes, Automelon, Dichtung Romanos des Meloden, dt. Übersetzung durch Erzpriester Peter Sonntag / Orthodoxe Kirchengemeinde zu den Hl. Erzengeln in Düsseldorf [unveröffentlicht]
- Miron, Radu Constantin: Begrüßung bei der Eröffnung der Tagung „1.700 Jahre Konzil von Nizäa“ des Deutschen Ökumenischen Studienausschusses (DÖSTA) der ACK, Frankfurt am Main – 6. März 2025, in: https://kurzlinks.de/64tw (15.05.2025)
- Orthodoxe Bischofskonferenz in Deutschland: Stellungnahme der Orthodoxen Bischofskonferenz in Deutschland zum Christlichen Religionsunterricht in Niedersachsen, 11. März 2023, in: https://kurzlinks.de/a57n (24.03.2025)
- Orthodoxe Bischofskonferenz in Deutschland /Evangelische Kirche in Deutschland: (Hg.): Christliche Bildung gemeinsam ermöglichen – Eine ökumenische Ermutigung. Berlin 2024, in: https://kurzlinks.de/vt5p (15.05.2025)
- Schmemann, Alexander: Eucharistie. Sakrament des Gottesreichs, Göttingen 22012
- Simojoki, Henrik: Liturgisches Leben, informelles Lernen und das Bildnertum aller Glaubenden. Eine (evangelische) Lektürebegegnung mit Constance Tarasars minoritatssensibler Religionspädagogik, in: Boschki, Reinhold / Schlag, Thomas / Simojoki, Henrik / Ulfat, Fahimah (Hg.): Schlüsseltexte der Religionspädagogik ‚quer‘ gelesen. Interreligiöse und interkonfessionelle Zugänge, Münster 2024, 209-226
- Thon, Nikolaj: Inzwischen rund drei Millionen. Anzahl der Orthodoxen in Deutschland weiter markant gewachsen, in: KNA-ÖKI 10 (05.2022), I-VI