Meine Frau und ich sind 1998 zum ersten Mal als Pastoren im Auftrag der Hermannsburger Mission nach Zentralsibirien gekommen, um dort evangelische Christen zu sammeln, neue Gemeinden zu gründen und dieser Kirche dabei zu helfen, Strukturen aufzubauen, die auch in Zukunft tragfähig sind.
In den Jahren 2000 bis 2011 lebten wir in Krasnojarsk, Abakan und Novosibirsk und betreuten ca. 40 Gemeinden, die sich auf einer sehr großen Fläche verteilt haben. In dieser Zeit hatten wir auch viele verschiedene Begegnungen mit orthodoxen Gläubigen und Geistlichen, von denen ich ein wenig erzähle.
Als wir Ende der 1990er-Jahre in der Millionenstadt Krasnojarsk zum ersten Mal landeten, war diese Stadt erst vor kurzem für Ausländer geöffnet worden. Lange war es eine sogenannte „geschlossene Stadt“, in der aufgrund von Waffenproduktion keine Ausländer willkommen waren. Die Stadt war grau und trist, es gab viele Hochhäuser, sogenannte Plattenbauten, Menschen, die mit hochgeschlagenen Kragen und tief in das Gesicht gezogenen Mützen durch die Straßen eilten, irgendwie beeindruckend, aber nicht besonders einladend.
Wie anders dagegen der orthodoxe Kirchenraum! Die fast 400 Jahre alte, orthodoxe Kirche, das älteste Gebäude der Stadt, empfing einen in einem warmen Dämmerlicht; unzählig viele kleine Kerzen erleuchteten eine rotgolden ausgemalte Kirche, das wenige Licht ließ meist nur erahnen, wie die Fresken weitergehen und in welche neuen Räume die Kirche sich öffnet. Weihrauchduft drang in die Nase, es wurde irgendwo leise gesungen oder gemurmelt. Ich kann mich gut an meinen Eindruck erinnern: „Das ist der schönste Raum, den ich bis jetzt gesehen habe.“ Und mir fiel das Diktum ein, dass der Gottesdienstraum in der Orthodoxie ein Fenster zum Himmel sein soll, um seine Herrlichkeit zu zeigen.
Die Russische-orthodoxe Kirche (ROK) – ein vielschichtiges Phänomen. Zum einen dieser Überfluss an Feierlichkeit und Glanz in einer Kultur des Materialismus. Der hohe Blutzoll, den die ROK in Zeiten der kommunistischen Verfolgung der Kirche bezahlt hat; keine Religionsgemeinschaft verlor mehr Geistliche durch Mord und Terror.
Zum anderen die spätere Unterwanderung der ROK durch die Geheimpolizei, die Agententätigkeit von Geistlichen bei ausländischen Kirchenkonferenzen, die offensichtliche Allianz, die die neuen Machthaber nach 1991 mit der Russisch-orthodoxen Kirche geschlossen hatten. Und ihre Folgen: Überall wurde mithilfe des Staates gebaut, es finden sich an vielen Ecken Kapellen, Kirchen oder Klöster. Der nach dem Gesetz neutrale Staat hat sich diese Kirche ausgesucht, um seine Ideologie vom besonderen Volk und heiligem Boden zu untermauern.
Die anderen Konfessionen und Religionen spielen dabei eine nachgeordnete Rolle. So war es in Krasnojarsk üblich, dass sich der Vertreter der staatlichen Administration zunächst mit dem Vertreter der Russisch-orthodoxen Kirche traf, danach gab es auch Treffen mit den anderen Religionsvertretern.
Diese Allianz ist meiner Beobachtung nach noch stärker geworden. Die Privilegien der ROK sind gewachsen, aber ihr Spielraum ist noch mehr eingeschränkt worden. Sie ist zu einem Claqueur der staatlichen Politik geworden, segnet geistlich das ab, was politisch vorgegeben wird.
Freies religiöses Handeln ist nicht möglich, da es mit hohen Strafen versehen wird. Einzelne Geistliche, die das versuchen, wie der aus den 80er- und 90er-Jahren bekannte Alexander Men, bezahlten dafür mit ihrem Leben. Vor wenigen Tagen bin ich dank Dr. Johannes Oeldemann vom Johann-Adam-Möhler-Institut für Ökumenik in Paderborn auf einen aktuellen Aufruf von orthodoxen Laien und Geistlichen aufmerksam gemacht worden. Hier wird – aufgrund der Brisanz anonym – die orthodoxe Kirchenleitung, insbesondere Patriarch Kyrill, aufgefordert, die religiösen Irrwege zu verlassen. In verschiedenen Artikeln wird der Kern des christlichen Glaubens benannt und gleichzeitig der aktuelle Weg der ROK verurteilt. Auch wenn der Aufbau ein anderer ist, gleicht diese Erklärung in gewissem Sinne dem Barmer Bekenntnis von 1934, das einer Kirche in höchster Not Orientierung geben sollte. Die Erklärung finden Sie auf Deutsch und auf Russisch unter folgendem Link.1
So bleibt ein zwiespältiger Eindruck: Einerseits scheint die russische Kirche mit dem Schatz ihrer Liturgie, der Verehrung der Ikonen und ihrem traditionellen Platz in der russischen Gesellschaft wie ein Fenster zu sein, durch das man in alte, bewahrte Formen des Christseins zurückblicken kann. Und andererseits ist sie heute gleichzeitig eine politische Größe, die zeigt, wohin eine Kirche geraten kann, die keine Freiheit hat, die aber ihre eigenen Kräfte auch nicht erkennbar dafür nutzt, Freiheit zu erlangen und Widerstand zu leisten. So hat sie ein wertvolles und wunderbares Erbe und ist zurzeit gleichzeitig ein politischer Akteur, der sehr viele Fragen aufwirft.
Anmerkung
- https://kurzlinks.de/kpov (24.02.2025). (Bitte beachten Sie, dass Sie Menschen in Russland, denen Sie dieses Dokument weiterleiten, gefährden können).