pelikan

„Der Film ist ein für sich stehendes Erlebnis“

Simone Liedtke im Gespräch mit dem Filmemacher und Religionspädagogen Phil Rieger

 

Simone Liedtke: Lieber Phil, wir sprechen heute über die Faszination Film. Keine Erklärvideos, sondern Film als Kunst – die aber auch Einzug in digitale und analoge Klassenräume halten kann. Warum ausgerechnet Film? Was begeistert dich an diesem Medium?

Phil Rieger: Film drückt immer etwas aus, über das wir nicht sprechen können. Es führt uns in gewissem Maße etwas „vor Augen“. Dabei ist das, was wir auf der Leinwand sehen, meist fernab von unserem Leben und befreit uns für eine Zeitlang vom Alltag: vor allem dann, wenn große Raumschiffe, Lichtschwerter oder auch Zauberschüler*innen die Bilder beherrschen. 

So weit weg und künstlich diese Welten zwar sein mögen, so nah sind sie doch an unserem Leben. Zwischen den Raumschiffen und Zauberlehrlingen werden die großen Fragen des Lebens von der Liebe bis zum Tod verhandelt. So ist Film die Unterbrechung des Alltags und zugleich Reflexion unseres Alltags. 

Liedtke: Was kann ein Film für den schulischen oder gemeindlichen (Religions-)Unterricht leisten, was ein Text, Bild oder Gespräch nicht kann? 

Rieger: Film – vermehrt auch als Serie – ist das postmoderne Medium unserer Zeit. Es ist Ausdruck unseres Zeitgeistes. Vor allem bei Jugendlichen ist dabei das, was zählt, das, was ich sehe! Etwas polemisch formuliert: Subjektivität vor Objektivität! 

Insofern lassen sich mit einem Film keine klassischen Lernziele verfolgen (wenn man bei Film nicht an Erklärvideos denkt). Mit Filmen bloß Lerninhalte zu illustrieren, ist sicher möglich, würde dem Medium und der Seherfahrung der Schüler*innen aber nicht gerecht werden. Ob Film also „bessere“ Chancen für Vermittlung von Inhalten im Unterricht hat als andere Medien, vermag ich nicht zu sagen. Sicher ist aber: Der Film nutzt – im besten Falle – alle seine Kanäle, um Figuren und Momente zu verdichten. So werden wir unmittelbar emotional und kognitiv beteiligt, bis hin zur körperlichen Reaktion. Warum sonst bringen uns Komödien zum Lachen? Oder warum kommt uns das Leid auf der Leinwand manchmal so nahe, dass wir weinen müssen?
Wenn der Film als das, was er ist, in Bildungsprozessen eingesetzt wird, kann er blühen. Er ist keine bloße Abbildung oder Erklärung von Welt, sondern deren visuelle und auditive Interpretation. Wenn diese Interpretation mit unserer eigenen Interpretation von Welt aufeinandertrifft, wird es spannend: Wir selbst werden von Konsument*innen zu Akteur*innen und müssen nun diese Kollision verhandeln. 

Jede künstlerische Form, die uns anregt, über uns selbst und die Welt da draußen nachzudenken, bildet uns. Ich würde sogar sagen, am ehesten dann, wenn sie uns provoziert, irritiert oder sogar schlichtweg „auf den Geist geht“. 

Liedtke: Wie kann ich die Arbeit mit Filmen didaktisch sinnvoll in meinen Unterricht integrieren?

Rieger: Zuerst muss im Unterrichtsprozess klarwerden (und das idealerweise vor dem Sehen des Films): Das ist kein Netflix auf der Couch, was mal „nebenbei“ konsumiert wird, sondern der Film ist ein für sich stehendes Erlebnis. Mit diesem Ziel wurde er gemacht.

Dabei sind Spielfilme für den Unterricht vielleicht nicht nur aufgrund ihrer Themenfülle nicht immer passend, auch die Lauflänge von 90 bis 120 Minuten ist für den Schulkontext schlichtweg ungeeignet. Daher empfehle ich sehr die Verwendung von Kurzfilmen, die innerhalb weniger Minuten einen starken Impuls setzen und die Zuschauenden emotional so stark beteiligen, wie es auch ein 90-Minüter schafft. 

Liedtke: Stichwort „emotionale Beteiligung“ der Zuschauenden: Diese ist dein Argument für den Einsatz von Filmen, wenn es um die Erschließung komplexer Themen in Unterricht und Gemeinde geht. Wie aber geht man etwa als Lehrkraft mit der Resonanz um, die man durch die Filmbilder auslöst?

Rieger: Der erste Moment nach dem Film ist entscheidend. Von hier aus in kognitive Prozesse zu gehen und den Film „analysieren“ zu wollen, ist unangemessen. Ich lasse bei jeder Filmvorführung den Abspann bis ganz zum Schluss laufen. So kann in der Stille ein erster Prozess des sich Sammelns und Verarbeitens gelingen. Zudem lässt der Abspann einen flüssigen Übergang zum Hier und Jetzt – zu unserer Welt – zu. Im Abspann wird der Film „auf den Boden der Tatsachen“ geholt. Alles keine Zauberei, sondern Technik, Geld und Menschenwerk. 

Wichtig ist dann, dass wir mit unseren Emotionen nicht allein gelassen werden, sondern diese in einem wertungsfreien Raum benannt werden können. Im Austausch mit anderen erfahren wir dann Entlastung. Den einen hat eine bestimmte Szene auch total mitgenommen, oder die andere sagt, sie habe das Ende ebenfalls nicht ganz verstanden. 

Es ist wie in einem guten Gespräch: erstmal klären, was nun obenauf liegt und dann einen bestimmten Fokus setzen. 

Auch eine gute Vorbereitung des Filmeinsatzes ist nicht zu unterschätzen: Neben dem Hauptthema eines Films gibt es viele Subthemen, die die Handlung anreichern und verdichten. Wenn einem der Einsatz eines Films zu einem bestimmten Thema wichtig erscheint, kann eine Fokussierung im Vorfeld helfen. Durch eine geschickte Vorarbeit oder Filmeinführung (Framing) vor dem Film sind die Schüler*innen für einen bestimmten Fokus im Film sensibilisiert und werden diesen weitaus stärker wahrnehmen. Gleichzeitig werden andere Themen sich auch hiermit wieder überschneiden, sodass trotz dessen eine Offenheit in der Nachbereitung des Films gelassen werden sollte. 

Liedtke: Wie nimmst du die Präsenz von religiösen Motiven im Film war?

Rieger: Die entscheidende Frage zum „Hide and Seek“ von Religion im Film ist die nach dem Rezipierenden: Wer sitzt da eigentlich vor der Leinwand oder der Flimmerkiste und entdeckt in HARRY POTTER den Messias, in der STAR-WARS-Macht den Heiligen Geist oder in MATRIX die Erlösung von dem Bösen? Als Theolog*in, Religionslehrer*in oder Religionspädagog*in deuten wir natürlich viel schneller als andere. 

Liedtke: Ist das eher eine Chance oder eine Gefahr?

Rieger: Beides zugleich! Mit Wissen über religiöse Tradition und die Verbindung dieser mit einem Film lädt sich dieser neu auf und bekommt eine neue Dimension, gleichzeitig kann der Film so auch vereinnahmt und verdreht werden. 

Davon ausgehend könnte man nun meinen, es sei sicherer, im theologischen wie religionspädagogischen Diskurs nur explizit religiöse Motive aufzugreifen. Hiermit wären Filme gemeint, die klare biblische Vorbilder haben, wie NOAH (2014) oder DIE PASSION CHRISTI (2004), aber auch Filme, in denen Religion und deren Ausformungen eine klare Rolle spielen, wie AM SONNTAG BIST DU TOT (2014).

Deutlich mehr religiöse Schlüsse lassen viele Filme aber in impliziter Hinsicht zu. Der Umgang mit Tod und Leid bis hin zur Theodizee-Frage sind sicher häufig gewählte Motive. Aber auch für die Lebenswelt von Jugendlichen relevante Themen, wie die Frage nach der eigenen Verantwortung für andere oder nach dem Umgang mit einer für sich ungeklärten Identität, berühren den religiösen Bereich unmittelbar. Ich bin mir aber sicher, dass über diese Themen auch religiös ins Gespräch zu kommen ist, ohne explizit „religiös“ zu sprechen. 

Liedtke: Wenn nun jemand meint, in einem Film ein religiöses Motiv zu entdecken: Wie kann das Filmgespräch an diesen Eindruck anknüpfen?

Rieger: Es stellt sich die Frage: Dient das entdeckte religiöse Motiv der Veranschaulichung religiöser Tradition, oder aber leistet es einen Beitrag zur subjektiven Selbst- und Weltdeutung? Mein Hauptaugenmerk bei der religionspädagogischen Bearbeitung eines Films würde immer auf letzterer Variante liegen. So wird man auch dem Film gerecht, denn das (vermeintlich) religiöse Motiv, sei es von dem*der Regisseur*in intendiert oder nicht, ist für die verschiedenen Rezipierenden nicht unbedingt gleichbedeutend.     

Aber im Grunde spielt das auch keine Rolle. Der Gehalt des Motivs ist entscheidend. 

Wenn sich die Hauptfigur Neo im Film MATRIX (1999) aus einer computersimulierten Welt befreit, um in die reale Welt zu gelangen, findet hier Erlösung statt. Erlösung, die bei genauem Hinsehen sogar religiös bebildert ist. Aber viel wichtiger als diese Erkenntnis ist die Frage danach, wie ich diese Erlösung als Rezipient miterlebe und an welche Situationen ich mit diesem Gefühl biografisch andocken kann. Vor allem dann, wenn ich merke, dass die reale Welt, in die Neo vordringt, schlichtweg desolat ist. Sie ist gar erlösungsbedürftiger als die computersimulierte Scheinwelt. 

Die Auseinandersetzung selbst ist hier der religiöse Vorgang. Die Szene von Beginn an als Illustration für das religiöse Motiv der Erlösung zu verzwecken, kann das komplette subjektive Seherlebnis zunichtemachen. Die Tradition kann – nach meinem Ermessen – in einem zweiten Schritt in den weiteren Prozess integriert werden und so als Erweiterung der eigenen Deutung angeboten werden. 

Liedtke: Du leitest nicht nur gekonnt Arbeit mit Filmen an, du bist selbst auch als Filmemacher tätig. Wie entsteht eigentlich eine Film-Story?

Rieger: Wie in jedem künstlerischen Feld gibt es kein Rezept für ein gutes Ergebnis. In der Praxis helfen verschiedene Modelle von Dramaturgie und Figurenentwicklung, aber es sind letztlich nur Formen, die Struktur geben; einen Inhalt füllen sie noch nicht. 

Nach meinen bisherigen Erfahrungen geht alles von einer Idee aus. Das klingt banal, aber das Sich-leiten-Lassen von Ideen fällt extrem schwer: Viel zu schnell wird diese Idee von mir selbst hinterfragt und kritisiert. Alles noch, bevor sie ihre eigentliche Power entfalten kann. Die Idee ist vielleicht nur ein Fragment – etwas, das später, in der eigentlichen Geschichte, nur noch eine kleine oder gar keine Rolle mehr spielt: ein Schauplatz, eine Figur, eine Szene, ein Musikstück oder sogar nur eine Farbe. Hält man solch eine Idee ganz fest und lässt sie nicht wieder frei, kann um sie und mit ihr die nächstgrößere Idee entstehen. 

Das, was hier allzu romantisch klingt, ist am Ende natürlich Arbeit. Von einem Szenenexposé bis hin zur finalen Drehbuchfassung ist es ein langer Weg. Da bin ich froh über Strukturmodelle, die mir aufzeigen, welcher Moment nun auf dem Weg hin zum Höhepunkt noch fehlt. Und über Feedback von außen, um auf blinde Flecke aufmerksam zu werden.

Liedtke: Was ist dein Anliegen beim Filmemachen? Spielt dabei eine religionspädagogische Perspektive für dich eine Rolle?

Rieger: Filmemacher*innen haben unterschiedliche Anliegen. Ich glaube, es ist viel zu früh, um über so etwas nachzudenken, über eine Programmatik oder Ähnliches. Dafür bin ich wohl zu jung. Aber ich merke selbst, dass sich bei mir ein Gefühl der Zufriedenheit einstellt, wenn ich wahrnehme, dass Menschen nach einem Film anfangen, über sich selbst und das eigene Verhältnis zur Welt nachzudenken. Vielleicht ist das auch mein religionspädagogisches Anliegen. 

Aber das sind nur Vermutungen und Versuche, etwas noch Unsagbares irgendwie sagbar zu machen. Wenn ich dann mal alt und grau bin, hoffe ich, mehr darüber sagen zu können.

Ich mache jedenfalls nicht gezielt religiöse oder religionspädagogische Filme. Film ist Film. Aber man kann sich seiner Prägung natürlich nicht entziehen. Die Themen, die ich filmisch gerne verhandle, speisen sich häufig aus dem eigenen Erfahrungsschatz als Religionspädagoge. 

Liedtke: Kannst du ein Beispiel nennen?

Rieger: Im Laufe des Studiums hat mich zum Beispiel das Thema der Authentizität beschäftigt: Wir alle redeten wie selbstverständlich davon, doch niemand vermochte genau zu sagen, was es denn nun bedeute. „Du selbst sein“ flatterte da als Sprachspiel immer wieder durchs Bild. Aber woran merke ich, dass ich gerade ich bin oder mir vielleicht doch nur vormache, etwas zu sein, von dem ich will, dass ich es bin? Irgendwann flog dann die Idee der Kongruenz von Carl Rogers durchs Bild und die Idee zum Kurzfilm ECHT entstand. 

Liedtke: Dein neuester Film heißt ER HÖRE MICH, fertiggestellt wurde er im Jahr 2020. In den Hauptrollen spielen Mathias Max Herrmann und Maximilian Grünewald. Wenn die Corona-Pandemie soweit eingedämmt ist, dass Kinobesuche wieder möglich werden, darf dieser 30-minütige Kurzfilm endlich auf der großen Leinwand gezeigt werden. Magst Du uns schon einmal neugierig machen?

Rieger: Der Film handelt von Semi. Semi ist Teil des „professionell organisierten Zuhörens“: Er und seine Kolleg*innen sind für Menschen da, die sich nach Beistand und Gehör sehnen. Semi ist einer der Besten in seinem Job. Richtig glücklich scheint er dennoch nicht zu sein. Selbst redet er wenig, schon gar nicht über sich. Auch für seinen neuen Praktikanten Sebastian hat er wenig übrig. Sein einziger Lichtblick: Maria, die er jeden Tag auf ihrer Veranda beobachtet – aus sicherer Entfernung seines Autos. Doch sein Leben gerät ins Wanken. Anonyme Drohbriefe verfolgen ihn. Es heißt, dass „wieder jemand gehen müsse“. Der Unbekannte zwingt Semi, sich endlich seiner verdrängten Vergangenheit zu stellen.

ER HÖRE MICH ist ein Film über das Zuhören, die Verantwortung, die wir als Zuhörer*in übernehmen, und über die Ruinen, die in uns schlummern. Selbst Semi, der fabelhafte Zuhörer, ist kein Mensch ohne Ruine. 

Aufgrund der Corona-Pandemie konnte der Film nicht wie geplant in 2020 Premiere feiern, allerdings reichen wir ihn derzeit bei einigen Festivals ein, sodass wir hoffen, dass er bald auch an verschiedenen Orten über die Leinwand flimmert. Wie die weitere Reise mit ER HÖRE MICH über eine Festivalauswertung hinaus aussieht, wird sich in den nächsten Monaten entscheiden. Sobald es die Bedingungen wieder zulassen, wird eine Premiere im Kino aber nachgeholt.

Liedtke: Darauf freue ich mich schon jetzt! Was kannst du uns über die Dreharbeiten berichten?

Rieger: Ein großer Dank geht an zwei finanzielle Unterstützer: Die Jugendcrew der Heinrich-Dammann-Stiftung und Andere Zeiten e.V. Der Film wurde im Sommer 2019 in Hannover gedreht. Sowohl auf dem Expo-Gelände als auch in den Straßen des Stadtteils Kleefeld. 

Der Dreh stellte in zweierlei Hinsicht eine Herausforderung dar: Der Großteil des Films spielt in einem Auto, was die Arbeit für Beleuchter*innen und Kameraleute deutlich erschwerte. Und dann fanden die Aufnahmen allesamt draußen auf öffentlichen Straßen und Plätzen statt, sodass der Dreh vor allem stark wetterabhängig und auch jederzeit durch Störung von außen anfällig war. Hier kann man von großem Glück sprechen, dass alles ohne größere Probleme funktioniert hat. 

Liedtke: Man staunt ja immer über die langen Listen von Namen im Abspann eines Films …

Rieger: Einen Film zu machen, heißt im Team zu arbeiten: Auch ER HÖRE MICH war ein Projekt, an dem viele Menschen beteiligt waren. Sowohl Personen aus der Filmbranche mit dem nötigen Know-how als auch Familie, Freund*innen und Kommiliton*innen haben mitgewirkt. Es war spannend zu sehen, dass Beteiligte so unterschiedlicher Hintergründe in kürzester Zeit zu einem Team zusammengewachsen sind. Das überwältigt mich noch heute.

Liedtke: Von was für einem Film-Projekt träumst du, was würdest Du gerne mal machen? Oder mit wem oder wo würdest du gern mal drehen?

Rieger: Ich kann gar nicht genau sagen, von welchem Projekt ich ganz konkret träume. Das Einzige, was ich mir in dieser Hinsicht vielleicht wünsche, ist, dass ich nur Stoffe umsetze, die einem akuten Interesse entspringen. 

Gleichzeitig freue ich mich einfach, immer weiter zu lernen. Ich bin auf keiner Filmhochschule oder Ähnlichem. Bei mir im Leben kreist derzeit zwar fast alles um das Thema Film, aber neben dem Lernen über und mit Film will ich lernen, noch sensibler zu werden für die Dinge, die mich berühren. Die Dinge, die einen so begeistern, dass man denkt, sie seien es wert, verfilmt zu werden. Derzeit befinde ich mich wieder am Anfang: beim Ideensammeln und -festhalten.

Liedtke: Wie bist du zum Film gekommen?

Rieger: Als Kind habe ich schon immer Videos mit Freunden gedreht, und als Jugendlicher habe ich mit kleinen Produktionen an Jugendfilmwettbewerben teilgenommen. Das hat mich damals ganz schön umgehauen: den eigenen Film auf großer Leinwand zu sehen und zu wissen, dass gerade alle versuchen, mit in die Welt abzutauchen, die man selbst mit seinem Team zu erschaffen versucht hat. 

Dann habe ich im Alter von 16 Jahren an der Inbetween Filmschool Hannover teilgenommen, an welcher über einen Zeitraum von knapp zwei Jahren zehn Filmemacher*innen mit den unterschiedlichsten Vorerfahrungen mitmachen durften. Mit viel Ehrfurcht war ich dort dabei. Viele andere Teilnehmende hatten deutlich mehr Erfahrung in der Film-Szene. Der eine hatte gerade seinen ersten Langfilm abgeschlossen. Aber nichtsdestotrotz konnte ich gemeinsam in einer Co-Regie mit Thomas Böhm unseren Kurzfilm MEHR ALS 1000 WORTE realisieren.

Liedtke: Und was schaust du selbst?

Rieger: Ich sitze genauso gern im Kinosessel wie einfach auf dem Sofa und schaue vom schwarz-weißen Stummfilm bis zur neusten Netflix-Serie alles, was so aufs Tableau kommt. 

Liedtke: Warum liegt es dir so am Herzen, dass z.B. Jugendliche sich selbst als Filmemacher*innen ausprobieren?

Rieger: Der Prozess des Filmemachens ist vielschichtig. Von der Stoffentwicklung über die Planung und den eigentlichen Dreh bis hin zur Postproduktion sind die unterschiedlichsten Fähigkeiten gefragt. In jeder Gruppe von Jugendlichen, sei es Schulklasse, gemeindliche Jugend- oder Konfirmand*innen-Gruppe schlummern die gefragten Kompetenzen: Der Eine hat immer eine zündende Idee; beim Filmen mit dem Smartphone macht der Einen kein Anderer etwas vor, und der Nächste steht gerne mal auf der (imaginären) Bühne. So viele Talente – und beim Film kommen sie zusammen. 

Wo man früher noch schwere Kameras brauchte, reicht heute oft das Smartphone aus der Hosentasche. Hier ist der gesamte technische Apparat des Filmemachens schon vorhanden: vom Notizbuch für erste Ideen bis hin zum Schneidetisch in Form einer Schnitt-App.

Und wenn alles gelingt, steht am Ende gar ein Produkt, das im besten Falle sogar noch vor Publikum aufgeführt wird. 

Glücklicherweise ist daher die Hürde zum Filmemachen mittlerweile deutlich niedriger als früher.

Liedtke: Da stimme ich dir zu. Wir beide wissen aber auch, dass solche Arbeit mit Filmen trotzdem viel Aufwand bedeutet. Was sagst du denen, die noch zweifeln, ob sie sich das zumuten sollen?

Rieger: Der lange Weg lohnt sich! Nicht nur die individuellen Stärken der Beteiligten werden ins Zentrum gerückt, sondern die Jugendlichen werden hier auch herausgefordert: Wie gelingt eine effiziente Zeitplanung für einen Dreh? Wie treffen wir innerhalb unseres Teams Entscheidungen? Wie gehen wir mit Fehlern oder unvorhersehbaren Ereignissen um? 

Daneben ist natürlich eine pädagogische Begleitung sinnvoll, die sowohl als Unterstützer*in sowie konstruktive*r Kritiker*in auftreten darf. Dabei können dann auch weitere Inhalte wie rechtliche Aspekte (Urheberrecht oder Recht am eigenen Bild), ethische Fragestellungen (Was darf ein Film zeigen? Wie kann ich meine Produktion nachhaltig gestalten?) oder auch medienpädagogische Elemente (Jugendschutz, eigenes Medienkonsumverhalten) eine Rolle spielen. 

Und ganz obendrein schult das eigene Filmemachen das eigene Auge und die eigene Filmkompetenz.

Liedtke: Hättest du dafür ein Beispiel, das unsere Leser*innen gleich mal ausprobieren können?

Rieger: Ja, die sogenannte „Lumière-Minute“. Mit der Übung können Jugendliche lernen eine neue Aufmerksamkeit für die Welt und ihre ästhetische Betrachtungsweise durch die Linse der Kamera zu bekommen. Sie sollen sich vorstellen, ihr Smartphone hätte nur noch Speicherplatz für exakt eine Minute Film. Nun sollen sie sich einen Punkt in der Welt suchen, den sie für so spannend halten, dass er diese Minute Wert ist.

Voraussetzung: Der Ausschnitt soll Bewegung abbilden, allerdings darf die Kamera sich dabei keinen Millimeter bewegen. Eine Minute – eine Einstellung. Die Einstellung soll so interessant wie möglich gestaltet werden. 
Es ist überraschend, was man für Ergebnisse bekommt, wenn man sich selbst limitiert und den Kameraauslöser wieder zu etwas Kostbarem werden lässt.