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Film und Religion – Oder: Filme mit etwas Theologie im Kopf angeschaut

Von Wilhelm Gräb

 

Religiöse Wahrnehmung und Deutung

In Filmen steckt viel Religion. Wenn wir sie mit etwas Theologie im Kopf anschauen, können sie zu interessanten Religionsgesprächen anregen. Filme halten unserer Lebens- und Alltagswelt den Spiegel vor und entführen zugleich in fremde Sphären. Sie provozieren den Rückschluss auf selbst Erlebtes, ermöglichen genauso aber die Einwanderung in eine ungeheure Vielfalt uns zuvor unbekannter Erlebnis- und Fantasiewelten. Ins Arsenal der Stoffe, mit denen Filme arbeiten, gehören von Anfang an auch die großen Erzählungen, Ursprungsmythen und apokalyptischen Visionen der Religionen. Obwohl erst am Beginn des 20. Jahrhunderts aufkommend, ist der Film zur bedeutendsten Kulturformation unserer Gegenwart geworden, wobei er inzwischen längst nicht mehr ans Kino gebunden ist, sondern seine alltagskulturelle Präsenz vermittels des Fernsehens und inzwischen vor allem der Streamingdienste gewinnt.

Die kulturelle Bedeutung, die dem Film in der modernen Mediengesellschaft zukommt, steigert sich durch die digitale Mediatisierung noch einmal exponentiell. Sie sorgt zudem dafür, dass die Unterscheidung zwischen der experimentellen Kunstform des Films und dem Film als populärem Unterhaltungsmedium hinfällig geworden ist. Es ist dies inzwischen auch keine Unterscheidung mehr, die das Verhältnis des Films zur Religion ernsthaft berührt.

Auf zwei Ebenen stellt der Film eine Nähe zur Religion her: einmal durch das Erleben, das er vermittelt, die fremde Wirklichkeit, um die er unser Leben erweitert. Zum anderen durch die Deutungsräume, die er eröffnet. In beidem ist er ebenso Unterhaltung wie auch Kunst. Filme haben die Kraft, uns zu ergreifen, zu faszinieren, oder auch zu erschrecken und zu verwirren, uns bis in unsere (Alb-)Träume hinein auf quälende oder beglückende Weise zu verfolgen. Filme machen, dass auch andere, fremde Welten zur Wirklichkeit unseres Lebens hinzutreten, zumindest in unseren Vorstellungen und Imaginationen, in unseren Fantasien und (Alb-)Träumen.

Das Erleben eines Films kann einer ästhetischen Erfahrung gleichkommen, einer Wahrnehmung, die uns auf uns selbst zurückwirft. Dann kommen wir intensiver mit uns selbst in Kontakt, sehen durch die Berührung mit anderen Welten, denen wir im Film begegnen, auch auf uns selbst gleichsam mit anderen Augen. Aber zumeist fehlen uns die Worte, um auszudrücken, was wir empfinden, oder gar, um sagen zu können, warum dieser Film uns ergriffen oder auch entsetzt und abgestoßen hat.

Möglicherweise betreten wir dennoch die zweite Ebene, auf der der Film seine performative Kraft freisetzt. Dann versuchen wir die ästhetische Erfahrung mit ihm zu deuten. Wir verharren nicht in der Unmittelbarkeit unseres Erlebens, sondern tauschen uns aus. Was war es, wodurch mich dieser Film angesprochen, ergriffen, irritiert, abgestoßen hat? Was davon gehört zu mir selbst, geht mich an? Deshalb vielleicht, weil ich mich auf meine Ängste oder verborgenen Wünsche angesprochen finde, oder weil es meinen Möglichkeitssinn transzendiert? Vielleicht sehe ich mich sogar konfrontiert mit etwas, das unendlich größer ist als meine Vorstellungskraft reicht, aber mich doch zutiefst angeht, im Guten oder im Bösen? Diese Fragen, die auf der zweiten Ebene des deutenden Sich-Verhaltens zum Filmerleben aufkommen, sind offene Fragen. Filme führen in offene Deutungsräume. Auf dem Wege einer theologisch inspirierten Deutung kann die ästhetische Erfahrung im Erleben des Films aber möglicherweise zu einer religiösen Erfahrung werden. Dann komme ich anders auf mich selbst zurück. Etwas geht mit mir vor, was einer Läuterung, einer Befreiung, einer Erlösung gleichkommt.

Damit verhält sich der Film zur Religion wie dies auch andere säkulare Kultur- und Kunstformen tun, etwa die bildende Kunst, die Literatur, die Musik, das Theater. Sie alle haben in der Moderne ihre Autonomie gewonnen, sich von den traditionellen, verfassten Religionen gelöst, sind aber dennoch ein vorzügliches Medium religiöser Erfahrung und Sinndeutung geblieben. Für immer mehr Menschen treten sie an die Stelle traditioneller Religionen.

Gleichwohl sind für den Film, wie für die anderen säkularen Künste auch, die Erzählungen und Symbole der traditionellen Religion eine unerschöpfliche Motivressource geblieben. Die biblischen Bezüge vor allem, die sie immer wieder herstellen, müssen sich jedoch den Darstellungsmöglichkeiten und Erzählstrategien des neuen Mediums fügen. Sobald die Religion im Film vorkommt, wird sie von diesem in Regie genommen. Das ist im Blick auf die bildende Kunst, die Musik, das Theater, die Literatur und die Poesie nicht anders. Immer haben wir es mit Kultur- und Kunstformen zu tun, die in den letzten 200 bzw. 100 Jahren autonome Sphären der Errichtung fiktionaler Welten und transformativer Erlebnisverdichtung geworden sind. Und immer ist es eine höchst spannende Frage, was aus der Religion wird, wenn sie in den Sog der autonomen Formen säkularer Kultur gerät, von diesen aufgenommen und weiterverarbeitet wird.

Das gerade macht nun aber die Religion im Film auch für die Theologie und die Religionspädagogik zu einem ebenso zentralen wie ergiebigen Thema. Filme können selbst zu einem religionsproduktiven Faktor werden, zum Medium religiöser Erfahrung und religiöser Kommunikation. Das habe ich schon angesprochen und werde noch einmal mit zwei Beispielen darauf zurückkommen.

Filme zeigen, darauf gilt es zuvor ebenfalls noch hinzuweisen, Religion auch so, wie sie in den verfassten Religionen gelebt wird. Sie erzählen von Menschen, die die Rituale und kulturellen Gepflogenheiten ihrer Religion achten und sich zugleich in einer zunehmend multikulturellen Gesellschaft von den Zwängen der Tradition zu lösen versuchen (z. B. MONSIEUR CLAUDE UND SEINE TÖCHTER – Originaltitel: QU’EST-CE QU’ON A FAIT AU BON DIEU? Französische Filmkomödie des Regisseurs und Drehbuchautors Philippe de Chauveron, 2014). Sie thematisieren die Konflikte, in die Menschen durch eine strenge religiöse Observanz in der modernen, ebenso säkularen wie religionspluralen Welt geraten (z.B. UNORTHODOX, Deutsche Netflix-Miniserie, 2020). Filme zeigen Religion, indem sie die großen Erzählungen der Bibel aufnehmen, fortschreiben, umschreiben, radikalisieren (z.B. NOAH, US-amerikanischer Fantasy- und Bibelfilm von Darren Aronofsky, 2014; DIE LETZTE VERSUCHUNG CHRISTI, ein auf dem Roman Die letzte Versuchung von Nikos Kazantzakis basierender Spielfilm von Martin Scorsese, 1988; DIE PASSION CHRISTI – Originaltitel: The Passion of the Christ, Spielfilm von Mel Gibson, 2004) oder auch parodieren (z.B. MONTY PYTHON’S LIFE OF BRIAN, 1979). Schließlich kreieren Filme eigene mythische Welten und Göttergeschichten. (z.B. die Kinotrilogie DER HERR DER RINGE nach dem gleichnamigen Werk von J.R.R. Tolkien von Peter Jackson, 2002-2003; die US-amerikanische Fantasy-Fernsehserie GAME OF THRONES, deutsche Erstausstrahlung über Sky 2011-2019) Dabei werden wiederum zahlreiche Analogien zu biblischen und religionsgeschichtlichen Erzählmustern sichtbar – zumindest für die, die einen theologisch und religionswissenschaftlich geschulten Blick einnehmen.

In den meisten Filmen jedoch tritt kein religiöses Personal auf. Es werden keine biblischen Referenzen aufgemacht. Weder Gott noch die Götter greifen ins Geschehen ein. Auch die Protagonisten des Films scheinen in keinem explizit religiösen Bezug zu stehen. Und doch eröffnen auch solche Filme eine spirituell-religiöse Dimension, wenn wir sie mit einer religionssensiblen Einstellung anschauen. Sie zeigen Religion nicht dadurch, dass sie an Traditionen, Vorstellungen, Sprachen und Symbole der traditionellen Religionen anschließen, sondern indem sie uns hinführen zu dem, worum es der Religion auf existenziell bedeutsame Weise geht.

Nun kann man natürlich darüber streiten, was das ist, worum es der Religion existenziell geht und weshalb sie für unser Leben bedeutsam sein soll. Deshalb begleitet jede Diskussion des Verhältnisses von Religion und Kultur, Religion und Kunst, Religion und Film die Frage nach dem, was Religion ist. Das sollten wir jedoch nicht beklagen, sondern als entscheidenden Teil der Lösung des Problems betrachten. Es zeigt sich daran, dass zur Darstellung und Mitteilung von Religion, gleichgültig in welchem Medium sie geschehen, heute immer auch der Diskurs über Religion gehört. Insofern ist es doch etwas zu einfach, von der Religion im Film zu reden. Das, was die Religion im Film existenziell bedeutsam macht, entsteht gleichsam immer erst zwischen dem Film und uns, die wir ihn anschauen, uns auf ihn einlassen, eine wie auch immer ergreifende Erfahrung mit ihm machen. Dazu gehört dann zudem, dass wir in das Gespräch darüber eintreten, welche Gefühle und Gedanken in uns selbst ausgelöst wurden, welche Ängste und (Alb-)Träume, Wünsche und Hoffnungen die filmische Begegnung mit anderem Leben in fremden Welten in uns angesprochen oder geweckt hat. Von der Religion im Film zu sprechen oder zumindest von der spirituellen Dimension unserer Erfahrung mit ihm, kann dann zum Ausdruck bringen, dass wir uns mit unserer eigenen Subjektivität in dieses Gespräch hineinziehen und zu noch einmal anderen Deutungen der Erfahrungen unseres eigenen Lebens führen lassen.


Exemplarische Möglichkeiten zum Gespräch über Transzendenz

Auf zwei Filme will ich abschließend, notgedrungen viel zu kurz, hinweisen, die für mich dies beides auf exemplarische Weise leisten. Sie geben mir zum einen an einer ebenso ergreifenden wie erschütternden Erfahrung teil und eröffnen zum anderen das Gespräch über die religiöse Transzendenzdimension der Wirklichkeit und die eigene Einstellung ihr gegenüber:

VERONIKA BESCHLIEßT ZU STERBEN – Film von Emily Young, nach dem gleichnamigen Roman von Paul Coelho (USA 2009)

Der Film beginnt unvermittelt mit dem Versuch Veronikas, sich durch Einnahme von Schlaftabletten das Leben zu nehmen. Fast nebenbei erfahren die Zuschauer*innen, dass sie sich zu diesem Schritt entschloss, weil sie keine Lust mehr hatte, weiterzuleben – die Gründe freilich erscheinen banal. In kurzen Sentenzen lässt Veronika ihr zukünftiges Leben Revue passieren – während sie eine Pille nach der andern schluckt. Die Bilder, die vor ihr auftauchen, sind die eines bürgerlichen Lebens: beruflich einigermaßen situiert sein, sich verlieben, heiraten, Kinder kriegen, dann natürlich auch Ehekrisen erleben, das normale Programm eben.

Am Ende des Films sehen wir dieselbe Veronika wieder. Sie ist dabei, beglückt in genau dieses Leben aufzubrechen, bis über beide Ohren in einen jungen Mann verliebt. Sie wird ihn heiraten. Sie wird in ihrem Beruf einigermaßen erfolgreich sein. Sie wird Kinder kriegen. Ihre Ehe wird in Krisen geraten. Sie wird ein ziemlich unspektakuläres bürgerliches Leben führen, aber es wird ein erfülltes Leben sein.

Es ist am Ende alles so, wie es am Anfang war, und doch ist zugleich alles anders. Warum? Veronika ist eine andere geworden. Was ist mit ihr passiert? Davon erzählt der Film, von der Wandlung, die mit Veronika geschieht. Es ist eine Wandlung, die nicht die äußeren Umstände ihres Lebens betrifft, sondern ihre innere Einstellung zum Leben, ihre Vorstellungen vom und ihre Erwartungen ans Leben, eine Wandlung von der Sinnleere hin zu erfüllter Sinnerfahrung.

Die Antwort auf die Frage nach dem Sinn des Lebens, die Veronika nach und nach findet, ist keine gedankliche. Sie wird nicht mit Worten gegeben. Sie liegt in den Bildern des Films, mit denen sich zunehmend ein Lächeln ins Gesicht der Veronika einzeichnet. Die Bilder des Films führen in den Zirkel einer ästhetischen Erfahrung. Sie sagen: Der Sinn des Lebens ist das Leben selbst. Also, lebe dein Leben, koste jeden Augenblick aus, als wäre es dein letzter, und du wirst merken, wie schön es ist, zu leben!

Explizite Religion kommt in Gestalt eines Sufi-Predigers vor. Seine Aufgabe ist es, die religiöse Botschaft, die der Film mit seinen Bildern gibt, auch auszusprechen: Die Liebe zum Leben und das Vertrauen ins Leben gehören zusammen. Doch die schönen Worte machen nicht den Unterschied. Es kommt auf die Erfahrung mit der Erfahrung an, darauf, sich für solche Erfahrungen, wie sie der Film vor Augen stellt, offen zu halten.
Der Film redet nicht von Gott, aber er zeigt, dass Veronika nach und nach eine Kraft spürt, die sie selbst transzendiert. Das ist die unendliche Kraft der Liebe, die religiöse bzw. theologische Deutungen nicht zwingend macht, aber auf plausible Weise ermöglicht.

THE BROKEN CIRCLE BREAKDOWN
Film von Felix van Groeningen, nach dem gleichnamigen Theaterstück von Johan Heldenberg (Belgien, Niederlande 2012)

Schon mit den ersten Szenen führt dieser Film mitten hinein ins schlimmste Unglück: Ein kleines Mädchen, Maybell, ist an Leukämie erkrankt. Seine Eltern, Didier und Elise, begleiten es ins Krankenhaus. Die beiden sind ein interessantes Paar: er ein Künstler- und Aussteigertyp, sie mit vielen Tattoos, die an den unbedeckten Stellen ihrer Haut hervortreten. Da haben zwei Menschen einander gefunden, die einen eigenwilligen Lebensstil praktizieren. Als Eltern einer krebskranken Tochter reagieren sie jedoch genauso wie andere auch: geschockt und hilflos.

Den großen emotionalen Bogen, der die zeitversetzten Teile der Filmhandlung zusammenhält, stiftet die Musik, die von Didier so geliebte und mit seiner Band praktizierte Country-Musik. Die Musik mit ihren Songs, ihren eingängigen, unter die Haut gehenden Melodien und wehmütigen Texten ist immer da. Die Musik führt durch den Film hindurch. Sie setzt den Kontrapunkt zum wirklichen Leben, das so grausam ist.
Die Musik sagt mehr, als Worte sagen können. Sie gibt der Liebe Ausdruck, die bleibt, auch dann noch, wenn der Glaube zerbricht und die Hoffnung schwindet. Die Musik nimmt aber auch die Zuschauer*innen an die Hand. Am Anfang und am Ende des Films singt die Bluegrass-Band den wehmütigen Country-Song, der eigentlich ein Beerdigungslied ist: “Will the circle be unbroken, by and by, Lord, by and by. There‘s a better home a-waiting. In the sky, Lord, in the sky.”

Dieses Lied singt Didier, der jeden Jenseitsglauben leugnet und Gott verflucht, voll Inbrunst mit. Sein Gefühl sagt ihm, dass daran nichts falsch ist. Obwohl sein Verstand widerspricht, gibt er der todkranken Maybell Recht, als diese wissen will, ob das tote Vögelchen, das sie in ihren Händen hält, bald ein leuchtender Stern am Himmel sein wird. Die Musik, so möchte ich fast sagen, ist in diesem Film die Sprache der Religion des Gefühls, eines unaussprechlichen Vertrauens in das – den Tod überwindende – Leben. Doch der Religion des Gefühls tritt die Theologie mit ihrer kritischen Reflexion entgegen.

Sobald die Musik verstummt und Didier zusammen mit Elise ein letztes Mal das Lied voll Wehmut singt: „If I needed you“, bricht Didier in einen heiligen Gotteszorn aus, einem modernen Hiob gleich. Er bringt den Glauben an Gott nicht zusammen mit dem Unglück, das ihn und Elise getroffen hat. Gegen den alles bestimmenden Schöpfer-Gott revoltiert er, aber mehr noch gegen den Glauben bornierter Fundamentalisten, die aus religiösen Gründen die Forschung an Stammzelltherapien behindern.
Die Religion in diesem Film ist die Religion des Gefühls. Sie findet ihren Ausdruck in der Musik und der Sprache der Poesie. Diese halten Didier und Elise auch noch in der Katastrophe, die über ihr gemeinsames Leben hereinbricht, zusammen. Sie halten sogar den Einwänden einer religionskritischen Theologie stand. Sie verweisen auf das Geheimnis eines absoluten, grundlos gründenden Glaubens, der noch im Schwinden des Lebenssinns am Leben erhält.