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Meine Lieblings-Filmtropen

Von Andreas Behr

Nennen Sie mir einen Film, in dem nicht irgendwann irgendwer in einen Spiegel schaut. Wahrscheinlich werden Sie lange überlegen müssen. Figuren in einem Film neigen zur Selbstbetrachtung. Der Held zieht sich ins Bad zurück, wäscht sich die Hände und klatscht sich etwas kaltes Wasser ins Gesicht. Anschließend stützt er sich auf dem Waschbeckenrand auf. Er schaut sich selbst in die Augen und denkt nach. Wie wird er sich entscheiden?

Die Heldin schminkt sich noch mal die Lippen nach, oder sie steigt ins Auto und richtet sich den Rückspiegel ein. Jedenfalls sieht sie sich selbst, schaut sich in die Augen und denkt nach …

Der Blick in den Spiegel ist ein Motiv, das in unzähligen Filmen auftaucht.

Immer wenn eine Figur mit sich noch nicht im Reinen ist und eine Entscheidung zu treffen hat, zeigt die Regie, wie sie in einen Spiegel blickt. Beim Zusehen verstehen wir, dass sich die Figur in einem Dilemma befindet. Wir sehen ihr über die Schulter, oft bleibt das Spiegelbild unseren Augen verborgen. Gerade dann entsteht beim Zuschauen eine genaue Vorstellung davon, welche Mimik der Figur über das Gesicht und welche Gedanken ihr durch den Kopf gehen. 

Solche Motive, die in Filmen immer wiederkehren, werden Tropen genannt. Eine Trope setzt die Regie immer dann ein, wenn im Film etwas erzählt werden soll, was die Kamera nicht direkt zeigen kann. In einem Buch kann beschrieben werden, was die Figur gerade denkt, wie sie sich dabei fühlt und wie ihr Entscheidungsprozess abläuft. Im Film kann dies durch eine Stimme aus dem Off ebenfalls verbalisiert werden. Da der Film aber ein visuelles Medium ist, ist das oft nicht passend. Im Buch lese ich Worte und stelle mir die Szene vor meinem inneren Auge vor. Im Film sehe ich die Szene und denke mir die Worte dazu aus. Damit ich aber nicht irgendwelche Worte denke, sondern solche, die zur Szene passen, setzt die Regie eine Trope ein, um meine Vorstellungen in die Richtung zu lenken. 

Dass Tropen funktionieren, können Sie ganz einfach nachprüfen. Zeigen Sie Schüler*innen einen Filmausschnitt ohne Ton, in dem eine Figur vor einem Spiegel steht und sich selbst anschaut. Lassen Sie die Schüler*innen dann einen inneren Monolog der Figur schreiben. Höchstwahrscheinlich wird sich in diesen Texten die Person vor dem Spiegel wenig Gedanken über ihre äußere Erscheinung machen; vielmehr wird sie vermutlich ein Problem wälzen oder eine Frage stellen: Spieglein, Spieglein an der Wand. 

Eine ähnliche Funktion hat die Trope des halb beleuchteten Gesichts. Eine Hälfte ist hell ausgeleuchtet, die andere liegt im Schatten. Die beiden Bereiche sind scharf getrennt. Zu Beginn des Films DAS BRANDNEUE TESTAMENT lernen wir z.B. die Tochter Gottes kennen. Ihr Vater, Gott, lebt mit seiner Familie in Brüssel und regiert von hier aus autoritär und misanthropisch die Welt. Tochter Ea beschreibt den schrecklichen Alltag mit ihrem tyrannischen Vater und ihrer hilflosen Mutter. Dann blickt sie in die Kamera; ihr Gesicht ist durch das Licht in zwei Hälften geteilt. Wir sind gespannt: Wird sie sich für die helle oder die dunkle Seite der Macht entscheiden? 

Brillen werden häufig als Trope eingesetzt, um Figuren zu charakterisieren. Mit Brille ist Superman eben nur Clark Kent, den niemand für voll nimmt. In Collegefilmen verwandelt sich das Aschenbrödel – sprich: die nerdige, unsportliche und als Streberin verschriene Klassenkameradin – zur Ballkönigin. Nicht zufällig passiert der entscheidende Wendepunkt, als sie die Brille abnimmt oder – noch klischeehafter – als der gutaussehende Schulschwarm dies tut und ihr tief in die Augen blickt. 

Erinnern sie sich noch an die Serie TRIO MIT VIER FÄUSTEN? Von den drei Detektiven sind zwei echte Haudegen, die keinem Handgemenge aus dem Weg gehen. Kopf des Trios ist der Dritte, der eher ängstlich ist und Fälle lieber durch Nachdenken statt Nachsetzen löst. Natürlich trägt er als einziger eine Brille. 

Auch Harry Potter ist Brillenträger. So wird er von Anfang an als Außenseiter stilisiert. Er ist eben kein echter Zauberer, weil er als Muggle sozialisiert wurde. Und er ist zunächst vor allem klug; Stärke muss er erst noch entwickeln. Interessant ist, dass Harry seine Brille nie ablegt. Er behält also seine Identität bei und verwandelt sich nicht wie das „hässliche Entlein“ aus der Teenie-Komödie. 

Meine Lieblingstrope ist der Apfel.  Sie kennen garantiert mindestens einen Film, in dem jemand an pointierter Stelle eine solche Frucht isst. Um gleich bei Harry Potter zu bleiben: Dessen Gegenspieler Draco Malfoy scheint Äpfel sehr zu mögen. Ebenso Käpt’n Barbossa in den FLUCH-DER-KARIBIK-Filmen. Dr. House in der gleichnamigen Serie beißt öfters in einen Apfel.

Kaum zu überbieten ist die Arroganz, mit der Captain Kirk in STAR TREK, gespielt von Chris Pine, im Kobayashi-Maru-Test agiert. Der Test für Raumschiffkapitäne gilt als nicht zu bestehen. Die Testpersonen sollen gar nicht gewinnen können; sie sollen lernen, mit dem Scheitern umzugehen. Kirk allerdings hat vor dem Test die Software manipuliert. So sitzt er betont gelassen in seinem Kapitänssessel hingeflegelt und tut, als wäre die ganze Situation ein Kinderspiel. Während er seine Befehle gibt, isst er demonstrativ einen Apfel. 

Im Film ADAMS ÄPFEL taucht die Trope im Filmtitel nicht zufällig im Plural auf. Hier wird mit der Trope gespielt, unterschiedliche Charaktere werden mit dem Apfel in Verbindung gebracht. Das Ziel einer der Hauptfiguren, einen Apfelkuchen zu backen, führt das Vexierspiel der Anspielungen noch weiter. 
„In Fritz Langs ‚M‘ von 1931 isst der Kindermörder Hans Beckert einen Apfel, als er auf der Straße ein kleines Mädchen sieht und ihn die gefährliche Lust überkommt.“  

Der Apfel signalisiert uns, dass wir es hier mit einer Person zu tun haben, die sich nicht so eindeutig den Guten oder den Bösen zuordnen lässt. James Kirk ist zwar der Held, der immer wieder das Universum rettet, aber er hat seine Schattenseiten. Der Kindermörder ist von seinen Trieben versklavt und muss gegen seine eigentlich freundliche Natur handeln. Wer einen Apfel isst, erscheint oft als Bösewicht und trägt doch im Laufe der Geschichte zum Guten bei oder umgekehrt. 

Auch mit dieser Trope lässt sich spielen. In KIRSCHBLÜTEN HANAMI  erzählt Doris Dörrie von Rudi, dem seine Frau jeden Tag einen Apfel mit zur Arbeit gibt. „An apple a day keeps the doctor away“, sagt Rudi jedes Mal, nur um den Apfel dann doch einem Kollegen zu überlassen. Der Held isst den Apfel also nicht, dennoch werden wir im Laufe des Films ganz neue, ungeahnte Seiten an ihm kennenlernen.

In dem Film THE BRAVE ONE spielt Jodie Foster eine Journalistin, die kurz vor der Hochzeit mit einem Mann steht, in den sie offensichtlich sehr verliebt ist. Die beiden turteln und necken sich. Bevor sie zu einem abendlichen Spaziergang aufbrechen, teilen sich die beiden einen Apfel. Kurz darauf endet ihre Zeit im Paradies, und das Böse tritt in ihr Leben in Gestalt einiger krimineller Jugendlichen, die sie zusammenschlagen. Als die Heldin aus ihrem Koma erwacht, ist ihr Verlobter schon beerdigt. Sie muss lernen, wie sie weiterleben kann. Dabei entdeckt sie DIE FREMDE IN DIR, wie der deutsche Titel des Films heißt. Sie begreift, dass sie nicht nur eine feinsinnige Journalistin ist, die literarisch ambitionierte Radiobeiträge schreiben kann, sondern dass sie auch zum brutalen Racheengel taugt. Zwei Seelen in ihrer Brust – wer bemerkt hat, dass sie einen Apfel aß, hat es ahnen können.