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Filmfestivals und kirchliche Filmarbeit

Von Dietmar Adler


Filmfestivals und kirchliche Filmarbeit

Rike ist taff. Als Notärztin hat sie alles im Griff. Und für ihren Segeltörn, ausgehend von Gibraltar, klappt alles, vom Einkauf über das Verstauen der Lebensmittel auf der Elf-Meter-Yacht bis zur ausgefeilten Technik. Tausende von Seemeilen in den Atlantik hinein geht Rikes Ein-Frau-Törn. Es sind eindrückliche Bilder, die der Film STYX uns zeigt: die starke, kontrollierte Frau und das Meer. Ein Sturm kommt auf, das fordert die Skipperin und das Boot. Aber sie meistern es. Rike träumt sich an das Ziel ihrer Fahrt: Urwald-Inseln mitten im Atlantik, ein Paradies.

Als alles wieder ruhig ist, da geschieht etwas: Sie entdeckt ein Boot, voll mit Menschen. Manche springen ins Wasser. Ein Junge schwimmt heran, sie hilft ihm an Bord. Es ist Kingsley, etwa 14 Jahre alt, erschöpft, verzweifelt.

Rike fragt nicht nach dem Woher und Wohin. Die Menschen sind in Gefahr. Sie funkt die Küstenwache an. Diese sagen Hilfe zu, raten ihr aber selbst, sich von dem Boot zu entfernen.Nichts geschieht, stundenlang. Angefunkte Schiffe ziehen weiter. Das Schicksal der Menschen in Seenot scheint niemanden zu interessieren.

Der Film STYX des Regisseurs Wolfgang Fischer wurde bei der Berlinale 2018 uraufgeführt, die Hauptrollen spielen Susanne Wolff und Gedion Wekesa Oduor. In Berlin gewann er auch den Preis der Ökumenischen Jury in der Sektion Panorama. Später wurde er auch Film des Monats der Jury der Evangelischen Filmarbeit.1


Filmfestivals

Ökumenische Jury? Ja, bei bedeutenderen Filmfestivals gibt es kirchliche Jurys, und das schon seit den 1950er- / 60er-Jahren, zunächst konfessionell getrennt, später dann seit den 1970er-Jahren ökumenisch. Bei zwei Dokumentarfestivals konnten inzwischen sogar interreligiöse Jurys etabliert werden. Diese Jurys zählen zu den „Unabhängigen Jurys“ und genießen bei den Festivals ein bemerkenswert hohes Ansehen. Nominiert werden sie von den kirchlichen Filmorganisationen SIGNIS (für die katholischen Juror*innen) und INTERFILM (für die protestantischen, anglikanischen und orthodoxen). Die drei- bis sechsköpfigen Jurys schauen zumeist die Internationalen Wettbewerbsprogramme der Festivals, beraten sich unabhängig von Einflussnahme durch irgendeine Seite und vergeben dann einen oder mehrere Preise.

Nach welchen Kriterien prämieren sie die Filme? Es geht nicht um einen ausdrücklichen religiösen Bezug. Ein Festivalleiter sprach es bei einem Ökumenischen Empfang aus: Preisträgerfilme der kirchlichen Jurys seien meist seine persönlichen Lieblingsfilme, aber sie zeichneten sich nicht etwa dadurch aus, dass da „ein kleiner Jesus durchs Bild flattert“. Die Filme brauchen keinen explizit christlichen Bezug, um in Betracht zu kommen. Die Kriterien, auf die sich die kirchlichen Jurys beziehen, sehen zum einen eine hohe künstlerische Qualität vor. Zum anderen werden Filme ausgezeichnet, die in besonderer Weise Menschenwürde und Menschenrechtsfragen sowie christliche Werte thematisieren. Ferner werden Filme ausgezeichnet, die die Zuschauenden für transzendente Dimensionen des Lebens sensibilisieren.

Praktisch sieht eine Jury-Arbeit aber nun nicht so aus, dass mit einem Katalog mit Kriterien zum Abhaken gearbeitet würde. Ein Film muss einen schon packen, in Bann ziehen und begeistern, wenn man ihm einen Preis verleihen will. Wichtig ist der Austausch über die Filme, oft findet ein Ringen in den Jurys statt. Diese sind international besetzt, die Juror*innen kommen aus verschiedenen Berufen, da sind Theolog*innen dabei, Filmschaffende, Kritiker*innen, Pädagog*innen. Gerade die verschiedenen Perspektiven auf einen Film machen eine gute Jury-Arbeit aus. Dennoch sind viele Jury-Entscheidungen recht einmütig.

Zur kirchlichen Präsenz auf Filmfestivals gehören bei vielen Festivals auch Ökumenische Filmempfänge. Begegnung und Austausch zwischen Film-sensiblen Menschen aus den Kirchen und Filmschaffenden, Kritiker*innen und Festivalleuten eröffnen allen immer wieder neue Perspektiven.
Ein Film wie STYX ist ein gutes Beispiel gerade für die Sensibilisierung der Rezipierenden durch einen Film. Er zieht in Bann, aber er konfrontiert uns zugleich mit Fragen der Humanität. Mit seiner fiktiven Geschichte zeigt und fokussiert er, was täglich passiert, wenn Menschen sich über die Meere auf die Flucht machen. Aus dem Film vernehme ich die Frage, was ich denn getan hätte, wäre mir dieser Junge und dieses Schiff voller Geflüchteter begegnet. Und universalisiert höre ich die Frage nach unserer Verantwortung in den europäischen Gesellschaften für Menschen, die sich unter Lebensgefahr auf den Weg machen. Ein Thema, von dem ich in den Nachrichten höre, kommt mir auf der Leinwand mit einem Mal sehr nah. Bei STYX in einem Spielfilm, den man trotz der Weite des Meeres auch als Kammerspiel verstehen kann.

Aber auch zwei ebenfalls von der kirchlichen Filmarbeit ausgezeichnete Dokumentarfilme zum gleichen Themenbereich „Seenotrettung Geflüchteter“ berühren und zwingen zur Auseinandersetzung: SEEFEUER (Gianfranco Rosi, 2016), der die Menschen auf der Mittelmeerinsel Lampedusa zeigt, und ELDORADO (Markus Imhoof, 2018), der den Weg Geflüchteter von der Rettung nach Mitteleuropa verfolgt, dabei aber einen sehr persönlichen Zugang des Regisseurs wählt. Alle drei genannten Filme sind übrigens über kirchliche Medienzentralen für die nicht-kommerzielle Vorführung zu entleihen.

Bei der Auswahl der Filmpreise auf einem Festival oder der Arbeit der Jury für den „Film des Monats“ geht es zunächst nicht um eine „Verwertbarkeit“ in didaktischen Zusammenhängen. Sich von den Empfehlungen kirchlicher Film-Jurys für die eigene Film-Rezeption inspirieren zu lassen, tut wachen Christenmenschen auch ohne Verwertungsabsicht gut. Viele dieser Filme fordern heraus, erweitern Horizonte, inspirieren: Sie können als persönlichkeitsbildend erlebt werden. Zu einer zeitgenössischen christlichen Existenz gehört die Bereitschaft, sensibel für die Ambivalenzen der Wirklichkeit und die Fragen und Zweifel der Mitmenschen zu sein. Die Begegnung mit Filmen bereichert Menschen – gerade wenn sie irritieren.


Kirchliche Filmarbeit

Gleichwohl gibt es aus der kirchlichen Juryarbeit heraus auch Empfehlungen für die kirchlichen Medienzentralen für den nicht-kommerziellen Verleih. Diese Verleihmöglichkeiten bilden die Grundlage für die kirchliche Filmarbeit, die vor Ort höchst lebendig ist. So gibt es in vielen Kirchengemeinden Filmclubarbeit, auch Kooperationen mit Kinos.2 
Die Corona-Zeit zeigt: Natürlich kann man auch qualitativ hochwertige Medien zu Hause streamend konsumieren, und Streamingdienste bieten inzwischen auch Filme, die bei Festivals ausgezeichnet werden. Aber es gibt eben doch eine Sehnsucht nach dem gemeinsamen Filmerlebnis auf einer Leinwand in einem ansonsten dunklen Saal. Filmeinführungen und Filmgespräche, in denen ich meine Filmerfahrungen mit denen anderer in Beziehung setzen kann, sind ein Merkmal kirchlicher Filmarbeit. In den Schulen bieten Kurz-, Dokumentar- und Spielfilme Medien, die immer wieder herausfordern und unterrichtliche Prozesse in Gang setzen. In der Jugendarbeit, der Erwachsenenbildung und in der Seniorenarbeit werden sie ebenfalls eingesetzt. Für viele Pädagog*innen, Gruppenleiter*innen und Diakon*innen und Pastor*innen ist das Medium Film aus ihrer Praxis nicht mehr wegzudenken. Und auch der Film STYX ist für den Einsatz in Schule und Erwachsenenbildung geeignet.3


Arbeitskreis Kirche und Film

Um den Graben zwischen kirchlicher Filmarbeit auf internationaler Ebene und der Praxis in Schule, Gemeinde und Kultur- und Bildungsarbeit vor Ort zu schließen, wurde 2002 in der Landeskirche Hannover der „Arbeitskreis Kirche und Film“ gegründet, der mit dem Arbeitsbereich Kunst und Kultur im Haus kirchlicher Dienste Hannover verbunden ist.

Angesprochen sind natürlich Multiplikator*innen (Schule, Gemeinde, Kultur, Bildung), aber auch überhaupt Menschen, die sich für den Film interessieren und eine Beziehung zur Kirche haben. Es geht um Impulse, aber auch um Vernetzung und Austausch untereinander. Bei den ein bis zwei Treffen im Jahr werden die unterschiedlichsten Themen behandelt: Mal geht es um die Reformation im Film, mal um die Darstellung von Lebensentwürfen im Film. Mal ist es die dezidierte Darstellung religiöser Motive im Film, mal die Gestaltung von Filmgottesdiensten mit höchst weltlich daherkommenden Filmen. Hinzu kommen Filmveranstaltungen in Kooperation mit Kinos, aber auch Fortbildungsveranstaltungen in Kooperation mit anderen.

Zwischendurch gibt es Newsletter mit Hinweisen zum Themenbereich Film und Religion.

2021 wird zusätzlich ein eigener Verein „INTERFILM Deutschland“ gegründet, auch er dient in erster Linie der Vernetzung der kirchlichen Filmarbeitenden – nun auf nationaler Ebene: untereinander und mit der international arbeitenden Organisation INTERFILM.


Links

  • Interfilm: www.inter-film.org
  • Film des Monats: www.film-des-monats.de
  • Haus Kirchlicher Dienste Hannover:
  • www.kunstinfo.net/film
  • www.medienzentralen.de

 

Anmerkungen

  1. Vgl. Adler, Dietmar: Mit einer jungen Frau unterwegs nach New York. www.feinschwarz.net/mit-einer-jungen-frau-unterwegs-nach-new-york (Abruf 12.5.21).
  2. Vgl. den Beitrag „Das Projekt „Kirchen und Kino“ auf Seite 23 in diesem Heft.
  3. Weiterführendes Material zum Film von Gundi Doppelhammer: www.kunstinfo.net/film/filmbesprechungen