Selbstoptimierung? - Achtsames Leben. Eine Andacht

Von Silke Leonhard

 

Verlauf:

Begrüßung / Votum

Morgengebet EG 818

Lied
EG 166, 1-2+4: Tut mir auf die schöne Pforte
oder freiTöne 1: Du bist ein Gott, der mich anschaut oder freiTöne 93: Klüger

Ansprache

Lied
EG 171: Bewahre uns, Gott
oder EG 170: Komm, Herr, segne uns

Gebet
Gott, du siehst uns. Deine Augen nehmen uns wahr – mit dem, was wir an uns mögen, und dem, was wir nicht gern an uns sehen. Dafür danken wir dir. Gesundheit ist ein hohes Gut – das erfahren wir jetzt mehr denn je. Gib uns einen liebenden Blick für die Fragilität des Lebens. Mach uns achtsam für andere, die an Ansprüchen an das Leben und sich selbst zu zerbrechen drohen. Bewahre uns vor Zerstörung, festige uns und schenke uns einen Blick für Heilsames – durch deinen Heiligen Geist.

Vaterunser

Segen

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Selbstoptimierung? – Achtsames Leben

Wien, eine meiner Heimaten, letztes Jahr im Urlaub. In der Nähe einer U-Bahn-Haltestelle im 7. Bezirk. Ein riesiges Haus, ein großes Portal, FitInn heißt das Etablissement – darüber eine Tafel: „Wir haben den Tempel, du bringst die Opfer.”1 Eine junge Frau mit Sporttasche läuft schwungvoll die Treppe hinauf und öffnet die Tempeltür, um hineinzugehen. In der universitätsähnlichen Halle steht „Fakultät für Körperbau”.

FitInn ist mit seinen 25 Häusern in Wien und darüber hinaus die österreichische Nummer Eins in Sachen Fitnessstudio. Eine Bildungseinrichtung, um Menschen fit zu machen, eingerichtet mit einer Menge an Verheißungen: Fitnessgeräte von Marktführern, digitale Innovationen zur Unterstützung des Trainings, ungestörte Trainingsmöglichkeiten für Frauen durch eigene Bereiche, hochwertige Ausstattung, extra lange Öffnungszeiten von 6 bis 24 Uhr, Personal Trainer, etc.

Etliche Slogans treiben an:
–    Train harder than yesterday.
–    Geh an deine Grenzen. Und dann geh weiter.
–    Was du heute tragen sollst? Hanteln.
–    Sauna braucht nur, wer beim Training nicht schwitzt.
–    Cardio is hardio.
–    Wenn deine Beine weh tun, mach mit den Armen weiter.

Lebensweisheiten werden metaphorisch-ironisch verpackt:
–    Badehose einpacken, Sixpack auspacken
–    Erst die Figur, dann der Bikini
–    Heiße Körper entstehen in der kalten Jahreszeit.
–    Dezemboah
–    Workoutholic
–    Lieber Bank drücken statt vor dem Training.
–    1 h Training sind gerade mal 4% deines Tages.
–    Müde, atemlos, Schwitzen, Muskelkater. Läuft!
–    Sei nicht so faul wie deine Ausreden.
–    Ärmel ist ein dehnbarer Begriff.
–    Anatomie lernt man am besten am eigenen Körper.
–    Nimm dir deinen Vorsatz Satz für Satz vor.
–    Die echte Problemzone ist deine Couch.
–    Manche geben sich die Kante, andere machen sich zu einer.
–    Cookies mal lieber nicht zulassen.
–    Schwarte nicht länger.

Einige Slogans treiben es noch weiter über, suggestiv über die Würdegrenze und unter die Gürtellinie:
–    Es reicht, wenn die Jacke dick ist.
–    Du hast dich auseinandergelebt.
–    Es reicht, wenn diese Schrift fett ist.

Und einige sind noch expliziter existenziell und religiös konnotiert:
–    Zeit für Frühlingsgefühle: Leid, Schmerz, Erschöpfung.
–    Den Christbaum ins Kreuz heben reicht leider nicht.
–    Heavy Christmas.
–    Verbrenne das Jüngste Gericht.

„Wir haben den Tempel, du bringst die Opfer!“ Opfer dienen dazu, die Verbindung zum Heiligen aufrechterhalte, die durch kultische und soziale Unreinheit verursachten Störungen zu beseitigen. Von Duftopfer kann hier wohl kaum die Rede sein. Schmerz- und Schweißopfer leben die menschlichen Mächte und Möglichkeiten aus (Salz konserviert und gibt Geschmack …).

Wir wissen inzwischen sehr viel über Selbstoptimierungsstrategien – die Versuchung und den Druck, mehr aus sich zu machen. An der Leiblichkeit macht sich das besonders bemerkbar – im Sport, durch Ernährungsratgeber und -weisheiten, Süchte, Zwänge. Daran ändert auch nichts, dass wir zumindest ahnen, dass Menschen nicht nur 50 Jahre alt und danach weggeworfen werden, sondern dass Altern ein Teil unseres Lebens, der Gesellschaft ist. Aber es gibt viele rituelle Wege, dies möglichst wie mit der Wirkung einer Anästhesie wenig spürbar zu machen.

Die Slogans bewegen sich ohne Frage nicht auf der Ebene von Wellness oder sanfter Selbstwerdung – sie sind nicht auf einer Linie des „Erkenne dich selbst“ oder gar reformpädagogisch „Werde, der oder die du sein wirst“, sondern von „Werde, der oder die gefordert ist“. Eine „Fakultät für Körperbau” in Gestalt eines Tempels ist so etwas wie eine Selbstoptimierungseinrichtung zum Erreichen heldenhaften Lebens und Verdrängen von Fragmentarität. Im Komparativ zum Superlativ: Dranbleiben, mehr, schlanker, fitter, härter, schlagkräftiger. Du musst dein Leben ändern – du musst dich ändern, um schön, stark und unsterblich zu sein. Die „Mach dich besser-Botschaften“ triggern und fordern wahrlich Opfer. Das Training verändert Identität und Status, auch das Selbstbewusstsein oder damit gar die Rolle des Menschen. Opferkult war schon immer auch eine Vorstufe zur Wirtschaft – in der Abstraktion vom Gabentausch zum Warentausch. Training gegen schöne Stärke zu tauschen, stimmt eben nicht. Aber die Verheißung entfaltet eben trotzdem ihre Wirkung: Das Training der Lebensoptimierung zu ritualisieren, gehört für viele vor allem jüngere Menschen und ihre Lebensläufe zum Alltag. Vor allem für die, welche die Power dazu haben. Selbstoptimierungsindustrie hält einen Zerrspiegel vor das Leben und stellt es in ein anderes Licht, in dem es vielleicht mehr glänzt oder aber wie hier in einem kalten Licht erst einmal missbilligt wird. Marktparolen arbeiten im Interesse der Erfolgssteigerung gerade mit der Pejorisierung und dem Imperativ zur Kontrolle, und dies nicht selten auch mit medikamentösen Begleitern.

Nun ist ja aber ein Fitnessstudio nicht etwas grundlegend Schlechtes oder gar Lebensfeindliches. Statt zwölf Stunden vor Smartphone und Tablet zu arbeiten oder zu daddeln (in denen man immerhin die digital möglichen Zerrbilder komisch finden kann), bewegt man sich. Sport ist wichtig für Ältere, die ihr Leben erhalten können, sagen Mediziner. Körperliche Mächte und Power, die auf der Straße zu Gewalt wird, in das Training zu stecken, ist ein Mittel der Gewaltenkanalisierung. Und in Corona-Zeiten merken wir mehr denn je, wie die Einschränkung von Bewegung und Sport auch lebenseinschränkend wirken kann.

Aber was ist das Maß – der Opferkult – oder sagen wir: die Hingabe – wem oder was dient diese Hingabe, damit sie lebenstauglich, nein gar lebenserhaltend, lebensförderlich ist? Wer ist das tragfähige Gegenüber für unser Tun, wohin geht unser Leben? Wie sieht das Leben aus, wenn der Leib ein Tempel des Heiligen Geistes ist?

In einen Tempel des Heiligen Geistes geht man mit Bedacht. Leibliche Menschen achten auf den Draht zum anderen. Balancen von Tun und Lassen werden achtsam gefunden. Man schaut auch auf eine Ausgewogenheit zwischen Selbstakzeptanz alias Rechtfertigung und Streben mit den guten Werken. Dieser Tempel heißt „Fakultät für achtsame und maßvolle Lebensgestaltung“, und er enthält Botschaften, die das Leben sinnvoll begleiten und kritisch ermutigen. Nicht „Geh an deine Grenzen und dann geh weiter“, sondern: Geh an deine Grenze und achte sie. Ein Tempel hat Geländer für Ältere und für das Älterwerden, Freiraum für Spiel für die Kreativität und Nachdenklichkeit.

Was Gesundheit angeht, ist es mit dem Ein- für Allemal nicht getan. Wir Menschen gehören nicht uns selbst, so oder so nicht. Egal ob freiwilliges Training oder gezwungenermaßen lebenslange Medikamentengaben und Behandlung: Exzellente Lebensförderung ist im bildenden Sinne nicht nur akut, sondern chronisch. Das Leben wird nicht in einem Fitnessband aufgezeichnet, und es besteht auch nicht nur aus den bewältigten Schritten und Kilometerleistungen, welche die modernen Apps in den Smartphones uns aufzeichnen. Die Logik des Lebens, ihre Vita-Logie, und die Aufzeichnung des Lebens, ihre Bio-Grafie, sind gewollt sowie gegeben zugleich, vorgeformt sowie gestaltbar. Geprägte Form, die lebend sich entwickelt, würde Goethe sagen. Deshalb ist es gut, den Blick wissenschaftlich, vor allem pädagogisch und eben ganz deutlich auch kirchlich auf die gestaltbaren Möglichkeiten zur Bildung und Stärkung des Gesunden, zur erhaltenden Lebensführung und nachhaltigen Weltgestaltung zu werfen. Entsprechend dem liebenden und achtsamen Blick Gottes.

Das Leben mit Wegmarken und Geländern auszustatten, die uns leiblichen Menschen einen sorgsamen Kontakt zu uns selbst inmitten der sich wirklich verändernden Welt verschaffen – uns Menschen mit einem Leben, das sich nur ganz begrenzt in den je „hauseigenen“ Tempeln abspielt. Dafür wünsche ich uns offene Augen, Ideen, Mut und Gottes Geist, Leben als Gnade zu sehen und seine kostbare Erkundung in christlicher Perspektive bewegend und hoffnungsvoll zu gestalten.

  1.  https://fitinn.at