Wenn die Bibel Bilder von der Zukunft malt…

Von Michaela Veit-Engelmann

 

Das Reich Gottes hat schon begonnen – wie wird es vollendet?

Prognosen sind schwierig, besonders wenn sie die Zukunft betreffen“, sagt das Sprichwort. Zukunft ist unverfügbar – doch ist es zentraler Bestandteil des christlichen Bekenntnisses, dass die Zukunft dieser Welt in Jesus Christus Gegenwart geworden ist. Jesus selbst sprach vom Reich Gottes und prägte damit einen Zentralbegriff christlicher Theologie.

Dieser Artikel zeichnet die Grundlinien der neutestamentlichen Rede vom Reich Gottes nach und fragt, wie diese Zukunftshoffnung die biblische Gegenwart bestimmt, bevor er die Relevanz des Themas für unsere Zeit bedenkt.

Jesus von Nazareth machte das Reich Gottes zum wichtigsten Gegenstand seiner Predigten. In seiner Rede von der Königsherrschaft des Gottes Israels war Jesus Kind seiner Zeit: Bereits das Alte Testament sprach von Gottes Herrschaft im Himmel und verband damit die Hoffnung auf ein Eingreifen auf Erden (u.a. Jes 37,14–20; Ps 99,1). Aus der Vergewisserung erinnerter Verheißungserfüllungen wie dem Auszug aus Ägypten, dem Einzug ins gelobte Land sowie dem Bau des Tempels resultierte das Zukunftsvertrauen in die Geschichtsmächtigkeit Gottes – das sich allerdings durch die Erfahrung der Zerstörung Jerusalems 587 v. Chr. zunehmend in die eschatologische Zukunft verlagerte: Man erwartete nicht mehr Gottes Handeln in der Geschichte, sondern sein Eingreifen als Ende der Geschichte – und das bald. Der Fachbegriff dafür ist Naherwartung. Jesus teilte diese Vorstellung: Wenn er vom Königtum Gottes sprach, dann war es für ihn da – was in der politisch instabilen Lage Israels unter römischer Besatzung auch eine politische Konnotation hatte.

Das Reich Gottes ist wie ein Senfkorn

Jesus sprach vom Reich Gottes, als stünde sein Kommen nicht nur dicht bevor, sondern als sei es bereits eingetroffen, vgl. Mk 1,15: „Die Zeit ist erfüllt, und das Reich Gottes ist nahe herbeigekommen.“ Gegenwärtiges und zukünftiges Gottesreich gehören untrennbar zusammen. Das Senfkorngleichnis (Mk 4,30–32) bringt es auf den Punkt: So wie das Senfkorn zwar schon gesät, aber noch nicht zum Baum geworden ist, ist es mit dem Reich Gottes: Es beginnt jetzt, aber die Vollendung steht noch aus.

Jesu Äußerungen über das Reich Gottes sind sehr vielfältig. Er verbindet damit die Erwartung eines großen Gastmahls, zu dem alle geladen sind (Mt 8,11; Lk 13,29) – eine Hoffnung, die er in den Mahlgemeinschaften mit Menschen am Rande der Gesellschaft bereits zeichenhaft vorwegnahm (u.a. Lk 19,1–10). Doch die Umstände dieses Gastmahls verwirren: Die Türen können verschlossen sein (Mt 23,13); es gibt eine hierarchische Sitzordnung (Mt 18,4; 5,19f); die Armen gehören schon jetzt dazu (vgl. Lk 6,20) und die Zöllner und Huren haben Vorrang beim Einlass (Mt 21,31c). Wer am Reich Gottes mitwirkt, darf nicht zurückschauen (Lk 9,62) und muss es annehmen wie ein Kind (Mk 10,15). Jesus weiß zudem: Längst nicht alle gehören dazu – am wenigsten die Reichen (Mk 10,17–27: „Es ist leichter, dass ein Kamel durch ein Nadelöhr gehe, als dass ein Reicher ins Reich Gottes komme.“). Dazu passt, dass das Jüngste Gericht Teil des Reiches Gottes ist: Die Würdigkeit des Einzelnen wird geprüft (Lk 10,13f; 13,22–30).

Wann kommt denn das Reich Gottes?

Man ist angesichts der verwirrenden Bilderfülle den Pharisäern dankbar, dass sie insistieren: „Wann kommt denn das Reich Gottes?“ (Lk 17,20). Leider ist Jesu Antwort mehrdeutig (Lk 17,21). Luther übersetzt: „Siehe, das Reich Gottes ist mitten unter euch!“ Doch so klar, wie es klingt, ist es nicht: Die griechische Phrase meint eher „innerlich in euch“, bietet also eine spirituelle Deutung: Jeder trägt das Reich Gottes in sich.

Die Nichtfassbarkeit des Begriffs des Reiches Gottes ruft in Erinnerung, was aufgrund seiner Bekanntheit oft in Vergessenheit gerät: Es handelt sich um eine Metapher – von der transzendenten Herrschaft Gottes kann man nur mithilfe der sprachlichen Möglichkeiten der eigenen Wirklichkeitserfahrung sprechen.

Dass Jesus vom Reich Gottes oft in Gleichnissen redete, macht die Interpretation nicht einfacher. Denn hier wird der metaphorische Prozess verdoppelt: Das Reich Gottes, in sich bereits Metapher, wird selbst zum Bildempfänger. Jesus bietet eine szenische Veranschaulichung des Reiches Gottes, allerdings mit bewusster Verfremdung: Das universale Reich wird mit einem winzigen Samenkorn verglichen (Mk 4,30–32), aus dessen Anfängen von selbst Großes erwächst (Mk 4,26–29; Lk 13,18f.20f.).

Jesus wusste um seine einzigartige Autorität

Jesus wusste sich selbst als Teil des Gottesreiches – dies zeigt seine eigentlich unerhörte Äußerung: „Wenn ich durch Gottes Finger die bösen Geister austreibe, so ist ja das Reich Gottes zu euch gekommen.“ (Lk 11,20, vgl. Mt 12,28). Jesus sah sich als Repräsentant der eschatologischen Herrschaft Gottes, ausgestattet mit einzigartiger Autorität. Deshalb konnte er das Bestehen im Jüngsten Gericht an seine Person binden: „Wer sich aber meiner und meiner Worte schämt […], dessen wird sich auch der Menschensohn schämen!“ (Mk 8,38)

Jesu Rede vom Reich Gottes widersetzt sich jeder Eindeutigkeit. Will man dennoch in Worte fassen, was er erhoffte, wenn er davon sprach, dann am ehesten so: Jesus erwartete die eschatologische Aufrichtung der Herrschaft Gottes, deren Wesen bereits die Gegenwart bestimmt. Er rechnete mit der Auferweckung zum Jüngsten Gericht und wusste, dass das Leben der Vorbereitung darauf diente (Mk 2,18–27).

Die Verkündigung Jesu prägte den weiteren Sprachgebrauch im Neuen Testament – allerdings mit einer bemerkenswerten Akzentverschiebung: Jesu Äußerungen über das Reich Gottes sind nur in Texten überliefert, die ihn selbst bereits als dessen Erfüllung sahen: Aus dem Prediger des Reiches Gottes wurde seine Personifikation.

Die Synoptiker setzen jeweils eigene Akzente

Die synoptischen Evangelien füllen deshalb den Begriff neu: So verbindet Markus die endgültige Aufrichtung des Reiches Gottes mit der Parusie, also der Wiederkunft Jesu Christi selbst (Mk 13,24–27) – für Jesus wäre das undenkbar gewesen.

Matthäus spricht nicht vom Reich Gottes, sondern verwendet den aus dem synagogalen Judentum bekannten Begriff Königsherrschaft der Himmel. Mit Jesus und dem Judentum seiner Zeit teilt er die Vorstellung eines jenseitigen Reiches, das den Zeitlauf der Welt abrupt beenden wird – und auf das es vorbereitet zu sein gilt (Mt 25,1–13: „Darum wachet. Denn ihr wisst weder Tag noch Stunde!“). Gleichzeitig greift Matthäus aber mit der Übernahme von Jesu Gleichnissen auch dessen Botschaft auf, dass das Reich Gottes schon jetzt im Kleinen anfängt. Für Matthäus stellen Tod und Auferstehung Jesu eine Vorwegereignung dieses Königreiches dar: Bei Jesu Tod, so berichtet er, seien in Jerusalem begrabene Heilige auferweckt worden und nach Jesu Auferstehung den Menschen erschienen (Mt 27,52f.) – eine eher unbekannte apokalyptische Randnotiz, die zeigt: In Jesu Tod ereignet sich dieses zukünftige Reich bereits. Für Matthäus gehört das Gericht untrennbar dazu. Er legt Jesus fünf Reden in den Mund, die alle mit dessen Ankündigung enden. Am Schluss der letzten Rede wird das Weltgericht (Mt 25,31–46) dann geschildert: Der Menschensohn Jesus urteilt über die Menschen. Problematisch ist, dass der Glaube dabei keine Rolle spielt; es zählen nur die Taten. So betont der Richter: „Was ihr einem der Geringsten meiner Brüder getan habt, das habt ihr mir getan.“ (Mt 25,40). Für Matthäus ist nur das Handeln Voraussetzung für den Einlass in das Reich Gottes. Allerdings muss man konstatieren: Matthäus war wohl kein Pädagoge – zumindest kein guter: Dass es besser ist, für das Reich Gottes zu werben, anstatt mit Drohungen Angst zu machen, hat er nicht begriffen. Wie gut, dass Matthäus auch die Seligpreisungen überliefert und hier das Reich Gottes in Farben malt, die Hoffnung schenken: Wer Leid trägt, soll getröstet werden; wen nach Gerechtigkeit hungert, der soll satt werden – denn solchen Menschen gehört das Himmelreich (Mt 5,1–12).

Die Wiederkehr Christi lässt auf sich warten

Anders als Matthäus macht es sich Lukas, der Verfasser des lukanischen Doppelwerks, in der Welt bequem. Die Wiederkehr Christi lässt auf sich warten; der Fachbegriff hierfür lautet Parusieverzögerung. Lukas weiß zwar noch, dass für Jesus das Reich Gottes bereits angebrochen war – aber das ist nun etwa 50 Jahre her. Seitdem ist nichts passiert … Das muss Lukas der Gemeinde erklären. Deshalb schreibt er neben dem Evangelium auch die Apostelgeschichte. Nun folgt auf die Auferstehung Jesu nicht mehr das Reich Gottes, sondern die Zeit der Kirche. Der Neutestamentler Conzelmann sprach deshalb davon, dass Jesus die „Mitte der Zeit“ sei. Das Reich Gottes ist zu einer jenseitigen Größe geworden. Im Zentrum steht bei Lukas daher nun die Frage, wie jeder Einzelne für seine individuelle Auferstehung Vorsorge treffen kann (vgl. die nur bei Lukas zu findenden Texte Lk 12,4f. 16–21; 23,39–43).

Johannes setzt andere Akzente: Der Begriff des Reiches Gottes fehlt. Weil Jesus nicht das Kommen Gottes, sondern die Bedeutung seiner eigenen Person zum Inhalt der Predigt macht, findet eine Konzentration auf die Christologie statt: Durch den Glauben an Christus ist der Christ schon aus dem Tod ins Leben gegangen und das Gericht an ihm schon vollzogen (Joh 5,24; 3,18–21). Man spricht hier von der präsentischen Eschatologie im Unterschied zur futurischen Eschatologie der Synoptiker.

Weltliche Unterschiede sind aufgehoben

Auch bei Paulus spielt der Begriff des Reiches Gottes keine Rolle; er findet sich nur in traditionellen Formulierungen (d.h. in Versen, wo Paulus zitiert: Röm 14,17; 1Kor 4,20; 6,9; 1Thess 2,12). Auch Paulus erwartet eine jenseitige Totenauferweckung (u.a. 1Thess 4,13ff; 2Kor 5,1–10; 1Kor 15); die Gegenwart ist für ihn ganz darauf ausgerichtet; d.h. sie ist teleologisch. Der zentrale Text dafür ist Röm 6,3–11: Paulus beschreibt, dass das alte sündige Leben der Christen in der Taufe bereits abgetötet wurde und sie nicht mehr nach den Maßstäben dieser Welt leben (V.4). Deshalb warten sie darauf, zukünftig als neue Menschen mit Christus aufzuerstehen (V.5). Die Spannung zwischen „schon jetzt (gestorben)“ und „noch nicht (auferweckt)“ ist für Paulus zentral; der Fachbegriff lautet eschatologischer Vorbehalt: Die christliche Gemeinde befindet sich in einem Zwischenzustand zwischen dem Tod in der Taufe und dem Leben in der Auferstehung – sie existiert zwar in der Welt, aber in Distanz zu ihr. So beschreibt Paulus in Gal 3,26–29, dass typisch weltliche Unterschiede aufgehoben sind: „Hier ist nicht Jude noch Grieche, hier ist nicht Sklave noch Freier, hier ist nicht Mann noch Frau, denn ihr seid allesamt einer in Jesus Christus.“ In der Taufe hat jeder den Geist als Angeld der Zukunft erhalten (2Kor 1,22; 5,5) und ist mit den Glaubensgeschwistern zu neuer Gemeinschaft verbunden; Paulus wählt dafür das Bild vom Leib Christi (1Kor 12,12–31). Die Gegenwart bleibt ein angespanntes Warten auf die Zukunft – eine Zukunft übrigens, die der ganzen auf Erlösung harrenden Schöpfung gilt (Röm 8,19ff).

Für Jesus war klar: Die Zukunft der der Menschheit entgegenkommenden Gottesherrschaft hat die Gegenwart bereits eingeholt. Die frühen Christen glaubten, dass in Jesus Christus das eschatologische Reich Gottes bereits auf Erden gegenwärtig war – und dass er es schon bald bei seiner endgültigen Wiederkunft vollends aufrichten würde.

Die Vollendung steht immer noch aus

2000 Jahre später muss man konstatieren: Diese Hoffnung hat sich noch nicht erfüllt. Das Christentum steht bis heute in der paulinischen Spannung von „schon jetzt“ und „noch nicht“. Die Gewissheit, dass diese Welt nicht nur ein Ende, sondern auch ein Ziel hat, teilt sie nach wie vor. Doch die Zeit bis dahin ist gedehnt. Gottes Reich war zwar in Jesus Christus schon gegenwärtig, doch die endgültige Erfüllung steht noch aus. Der Systematiker Wolfhart Pannenberg hat dafür den Begriff Prolepse geprägt. Das sich in Christus vorwegereignende Reich Gottes braucht die zukünftige Vollendung – dass diese gewiss kommen wird, verbürgt wiederum Jesu Auferstehung, die selbst eschatologisches Ereignis in der Zeit ist. Deshalb gilt: Christen leben in „eschatologischer Existenz“ (Rudolf Bultmann); sie haben ihr „Bürgerrecht im Himmel“ (Phil 3,20). Die Rede vom Gottesreich fungiert dabei als kritisches Ideal und inhaltliches Korrektiv der Gegenwart: Sie schenkt einen erweiterten Blick auf die Welt – weil sie Bilder davon malt, was auch sein könnte… Wer daher mit dem Reich Gottes nur die jenseitige Totenauferweckung verbindet, verschenkt dessen metaphorisches Potenzial: Das Reich Gottes steht nicht nur für eine Hoffnung jenseits des Todes, sondern auch symbolisch für die Auferstehung zum wahren Leben diesseits des Todes.

Der katholische Dogmatiker Gisbert Greshake unterscheidet zwischen Futurum und Adventus: Es gibt eine Zukunft, die planbar ist, weil sie die Verlängerung des Vergangenen darstellt. Das ist das Futurum. Aber es gibt zugleich – Gott sei Dank! – auch Ereignisse, die von außen als Geschenk zukommen: Adventus – das ist die von Gott geschenkte Heilszukunft seines Reiches. Gegen alle menschlichen Selbstverabsolutierungsversuche ist als befreiender Gedanke festzuhalten: Gott allein schenkt dieser Welt ein Ziel! Hilfreich ist die von Dietrich Bonhoeffer geprägte Unterscheidung zwischen letzten und vorletzten Dingen. Nur das Christusgeschehen ist als Letztes absolut zu setzen; der Begriff des Vorletzten bezeichnet hingegen das Leben in der Welt, das zwar gewichtigen, aber keinen endgültigen Wert hat.

Das Reich Gottes kommt nicht ohne uns

Allerdings bleibt die Frage: Wenn die absolute Zukunft als Adventus Geschenk ist – welchen Beitrag leistet der Einzelne? Der biblische Befund ist in seiner Vielfältigkeit eindeutig: Das Reich Gottes kommt zwar von selbst – aber nicht ohne uns. Denn: Die Botschaft vom jenseitigen Friedensreich hat einen unwiderstehlichen Sog, der hineinnimmt in die Hoffnung, dass dieses Reich schon jetzt beginnt, und so anspornt, daran mitzuwirken. Vielleicht meint Jesus das mit seiner Aussage „Wer das Reich Gottes nicht annimmt wie ein Kind, der wird nicht hineingelangen!“ (Mk 10,15): Kinder tun Dinge dann, wenn das Ziel verlockend ist.

Doch wie umgehen mit dem Widerspruch zwischen dem Glaubenswissen, dass mit Jesu Auferstehung die Endzeit begann – und dem Gefühl, dass die Zeitläufe der Welt ewig währen? Zentral ist nicht die zeitliche Nähe des Gottesreiches, sondern die Gewissheit seines Kommens: Diese Welt ist begrenzt – durch Gottes Ziel. Dieses Wissen schenkt die Einsicht, dass der Status Quo nicht absolut zu setzen ist, sondern sich von der Botschaft des Kommens Gottes relativieren lassen muss. Prognosen mögen unsicher sein, doch der Glaube schenkt Sicherheit.

Anmerkungen:

Literatur

  • Bedford-Strohm, Heinrich (Hg.): „… und das Leben der zukünftigen Welt“. Von Auferstehung und Jüngstem Gericht, Neukirchen-Vluyn 2007
  • Horn, Friedrich W.: Paulus Handbuch, Tübingen 2013
  • Kollmann, Bernd: Neutestamentliche Schlüsseltexte für den Religionsunterricht, Stuttgart 2019
  • Link-Wieczorek, Ulrike (Hg.): Reich Gottes und Weltgestaltung. Überlegungen für eine Theologie im 21. Jahrhundert, Neukirchen-Vluyn 2013
  • Pannenberg, Wolfhart: Systematische Theologie Band 3, Göttingen 1993
  • Strecker, Georg: Theologie des Neuen Testaments, Berlin 1995