Die Kirche in die Kneipe tragen

Von Maximilian Bode

 

Ein theologischer Stammtisch

Der Vikar sitzt in der Kneipe und trinkt Bier. Was jetzt erstmal nach Arbeitsverweigerung oder „übler Nachrede“ klingen mag, habe ich zu einem Teil meines Jobs gemacht.

Um genauer zu sein, eigentlich sollte es nur ein Bildungsprojekt im Rahmen meines Vikariats an zwei bis drei Abenden werden, aber jetzt treffe ich mich einmal pro Monat mit verschiedenen Menschen in der Kneipe gegenüber der Kirche. Dort sitzen wir dann und reden über Gott und die Welt. Okay, der Fairness halber sei noch dazu gesagt: Natürlich bin ich häufiger auch so in dieser Kneipe, aber eher für ein Feierabendbier, und das zähle ich auch nicht als Arbeitszeit.

Die Idee für das Projekt entstand übrigens bei einer solchen Gelegenheit. Man könnte sagen: eine klassische Schnapsidee. Einer der Barkeeper erzählte mir von seiner Freundin, die gerade Theologie studiert, und dass es doch irgendwie schade sei, dass Menschen so wenig über ihren Glauben sprächen. So war die Grundidee des Stammtisches geboren: Warum treffen wir uns nicht mal hier in der Kneipe, um über Gott und die Welt zu sprechen? Und ich dachte mir: Schön niedrigschwellig wäre dieses Gesprächsangebot, vielleicht senken der Ort und eine ungezwungene Atmosphäre auch Hemmschwellen, die Menschen sonst hindern, mit der Kirche bzw. ihren Vertreter*innen in Kontakt zu treten.

Wie aber bei jeder Schnapsidee brauchte es noch ein paar nüchterne Gedanken, um die Idee in die Tat umzusetzen. Mich bewegten vor allem folgende Fragen: Wen laden wir ein? Und welche Themen sollen besprochen werden?

Ich entschied mich dazu, eine kleine Gruppe aus religiös interessierten Menschen einzuladen, zusätzlich alle, die gerne dazu kommen wollen. Anstelle von festgelegten Gesprächsthemen wählte ich Zeitungsartikel aus, um damit ein Gespräch zu initiieren. Den Abschluss und Übergang in den freien Teil des Abends sollte schließlich der Predigttext für den kommenden Sonntag bilden.

Tatsächlich finden die Stammtischabende nach wie vor gemäß dieser Grundidee statt. Jeden zweiten Sonntag im Monat treffen wir uns um 20 Uhr in der Kneipe. Am Anfang eine kleine Gruppe aus vier persönlich eingeladen Personen. Mittlerweile hat sich ein relativ fester Kreis aus acht bis zehn Menschen gefunden. Das Schöne an dieser Gruppe ist, dass die Teilnehmer*innen aus unterschiedlichen Zusammenhängen kommen: So sind Theolog*innen, Studierende anderer Fakultäten, zufällige Kneipenbesucher*innen und auch Gemeindemitglieder dabei. Darüber hinaus sind verschiedene Konfessionen anwesend (lutherisch, reformiert und katholisch), selbst ein Agnostiker hat sich in unsere Gruppe gewagt. Ebenfalls gut durchmischt ist das Alter der Gruppe, von Anfang 20 bis kurz vor 50 reicht das Altersspektrum.


Ein typischer Stammtischabend

Ein typischer Stammtischabend sieht wie folgt aus: Falls neue Menschen dabei sind (was gar nicht so selten vorkommt), stellen sich alle kurz vor. Besonders beliebt ist die Variante: Name, Hobby/Beruf und Zahnbürstenfarbe. Wenn alle sich auf diese Weise bekannt gemacht haben, werden ein paar – mehr oder weniger – aktuelle Zeitungsartikel vorgestellt. In neun von zehn Fällen habe ich Zeitungsartikel dabei. Es ist aber auch schon vorgekommen, dass andere auf interessante Artikel gestoßen sind und diese dann mitbrachten. In einem demokratischen Prozess einigen sich die Anwesenden anschließend auf einen Artikel. Dieser bildet dann die Gesprächsgrundlage für den Hauptteil des Abends. Das heißt: Die Themen, über die wir sprechen, ergeben sich zumeist aus dem gewählten Artikel. Es genügen dafür kurze Zeitungsartikel, die ein religiöses Thema anschneiden und aus der ansonsten säkularen Tagespresse stammen. Ist nun der Artikel gewählt, entsteht ein offener Austausch darüber. Für das Gespräch ist es wichtig, dass die Inhalte nicht in ein theologisches Fachsimpeln abdriften, weil es dann mit der gewünschten Niedrigschwelligkeit schnell vorbei ist. Während der ersten Treffen lief der Austausch noch sehr zentriert über mich, den Vikar. Damals hatte ich auch noch Gesprächsregeln dabei, falls die Konversation mal aus dem Ruder laufen sollte. Mittlerweile kann ich darauf getrost verzichten und es kann durchaus passieren, dass sich zwei oder mehrere parallele Gespräche ergeben. Beides kommt mir sehr entgegen, da ich zwar der Initiator des Projektes bin, mich aber eher als Teil der Gruppe denn als zentrale Figur verstehe.

Dadurch, dass kein Thema für den Abend festgelegt ist, kann eine große thematische und inhaltliche Bandbreite entstehen. So reichten unsere Gespräche schon von der eigenen Gebetspraxis, über die jeweilige Vorstellung darüber, was einen guten Gottesdienst ausmacht, bis hin zur Frage: Was bedeutet es heute eigentlich, Christ zu sein. Aber auch tagesaktuelle Themen, wie der offene Brief „Demut Christi“ an Kardinal Marx oder Themen des (Kirchen-)Jahres, z. B. die Passionszeit oder Neujahrsvorsätze, können aufkommen.

Dieser offene Austausch dauert je nach Thema ungefähr anderthalb Stunden. Das Schöne dabei ist, dass eine Kultur des gegenseitigen Voneinanderlernens vorherrscht. Es gibt also keine dauerhaften Expert*innen, sondern interessierte Menschen und solche, die ihr Wissen zur Verfügung stellen. Wenn dieser Teil des Gespräches abklingt, gibt es in der Regel eine kurze Pause, bevor wir uns einem Bibeltext zuwenden. Ursprünglich war es so gedacht, dass dieser einfach nur der Perikopenordnung für den nächsten Sonntag folgt. In der aktuellen Praxis hat sich aber eingeschlichen – ganz uneigennützig – den Predigttext für meine nächste Predigt zu besprechen. Danach endet der offizielle Teil des Stammtisches. Da wir uns aber in einer Kneipe befinden, müssen nicht alle sofort nach Hause gehen. In der Regel verlassen zwei Drittel die Kneipe nach gut zweieinhalb Stunden, während das letzte Drittel oft noch länger bleibt. Bei denen, die länger bleiben, kann es dann durchaus passieren, dass die Themen des Stammtisches weiter diskutiert werden. Ein bisschen wie kleine religiöse Gesprächsflammen, die sich über die Kneipe verteilen.

Das Spannende am Konzept „Theologischer Stammtisch“ ist m. E. nun: Zum einen kommen Menschen ungezwungen über sich und ihren Glauben ins Gespräch. Es herrscht keine Bibelkreis-Atmosphäre oder eine Atmosphäre von Erwachsenenbildung, in der es Lehrende und Lernende gibt. Alle begegnen einander stattdessen auf Augenhöhe. Das ist für mich am wichtigsten. Zum anderen findet das Gespräch im öffentlichen Raum statt und ist offen für alle Menschen.

Die Kombination von beidem sorgt dafür, dass eine Gruppe zusammengekommen ist, die sich so weder im kirchlichen Kontext noch im üblichen Kneipenkontext begegnen und unterhalten würde. Und gerade das macht die Gespräche, die wir führen, für alle Beteiligten interessant. Und dies gilt nicht nur für die aktiv Mitredenden, sondern auch für viele andere Besucher*innen der Kneipe, die etwas von den Gesprächen mitbekommen. So ist es schon mehrfach vorgekommen, dass ich im Anschluss an den Stammtisch mit anderen Kneipengänger*innen sprach. Der Grundtenor dieser Gespräche war zumeist: „Cool, dass ihr das macht, ich würde ja nicht dazu kommen, weil Glauben für mich nicht so ein Thema ist, aber …“, und in den meisten Fällen entstand dann ein weiteres Gespräch über Gott und die Welt. Selbst nach dem offiziellen Ende des Stammtisches finden also weiterhin kirchliche Gesprächskontakte am „anderen Ort“ statt.


Jeder und jede ist religiös ansprechbar

So bestätigt sich für mich insbesondere bei den theologischen Stammtischen die praktisch-theologische These von Wilhelm Gräb: „Die meisten Menschen sind ansprechbar für die religiöse Dimension ihres Lebens“1 . Nur, und diese Erkenntnis muss ich wohl kaum mit einem Zitat oder Zahlen belegen, immer weniger Menschen kommen in die Kirche oder gar in den Gottesdienst, um über die religiöse Dimension ihres Lebens zu sprechen. Meine Erfahrung mit dem Projekt des theologischen Stammtisches zeigt, dass die Konsequenz aus beiden Thesen aufgeht, nämlich: Wenn die Menschen nach wie vor über Gott und die Welt reden wollen, dafür aber nicht in die Kirche kommen, dann muss die Kirche eben zu den Menschen gehen. Und wo wird mehr über Gott und die Welt gesprochen als in Kneipen?

Wenn wir außerhalb der Kirche nur höflich auf diese verweisen, können auch anderswo gute und produktive Gespräche über den Glauben entstehen.

Der Vikar sitzt also in der Kneipe und kann dies mit Fug und Recht zu seiner Arbeitszeit zählen, weil er mit anderen Menschen über die religiöse Dimension ihres Lebens spricht. So ist das Projekt „Theologischer Stammtisch“ für mich ein Beitrag dazu, religiöse Themen am „andern Ort“ zu thematisieren. Nur, dass der für uns Kirchenleute „andere Ort“ oftmals näher am Alltag der Menschen ist.

Anmerkungen

  1. Gräb, Wilhelm: Predigtlehre. Über religiöse Rede. Göttingen 2013, 17.