Geschlechtergerechte Religionspädagogik der Vielfalt

von Annebelle Pithan

 

Als eines der Schlüsselprobleme von Bildung nennt Wolfgang Klafki die “gesellschaftlich produzierten, alten und neuen Ungleichheiten im Widerspruch zum Gerechtigkeitsprinzip”. Explizit erwähnt er die Ungleichheit “zwischen Männern und Frauen”1. Positiv gewendet ist damit die Geschlechtergerechtigkeit als ein Ziel von Bildungsprozessen bestimmt. Rahmenrichtlinien, Lehrpläne und bildungspolitische Stellungnahmen haben inzwischen ebenfalls die Auseinandersetzung mit Geschlech­terrollen und die Geschlechtergerechtigkeit als Aufgaben formuliert und zielen auf eine “reflexive Koedukation”.2

Aufgabe der Schule ist es, die persönliche Entwicklung der Schülerinnen und Schüler zu fördern. Dazu gehört auch ihre geschlechtliche Identität. Sie sollen unterschiedliche Geschlechterrollen, -attribute, -bilder etc. kennenlernen und sich mit Vorurteilen und Stereotypen auseinandersetzen. Sie sollen sich mit den gesellschaftlichen Positionen von Frauen und Männern auseinandersetzen und erkennen, dass “Gleichberechtigung und Chancengleichheit von Frau und Mann auf die Veränderung überkommener geschlechtsspezifischer Rollen zielt”.3 Sie sollen Optionen für ihre persönliche Entfaltung, den Respekt vor anderen und ihre Verantwortung für eine an (Geschlechter-)Gerechtigkeit orientierte Gesellschaft entwickeln.

In der Schulpraxis ruft das Bildungsziel der Geschlechtergerechtigkeit unterschiedliche Reaktionen hervor. Manchen Lehrkräften ist es unbekannt, andere halten es für wichtig, wieder andere für überholt. Auch Schülerinnen und Schüler verhalten sich ambivalent. Angesichts der immer höheren Anforderungen, die an Lehrerinnen und Lehrer gestellt werden, kann die Auseinandersetzung mit der Geschlechterfrage – noch dazu gegen Widerstände – subjektiv als Überforderung aufgefasst und abgewehrt werden. In der Tat kann damit zunächst mehr Arbeit und Aufmerksamkeit verbunden sein. Allerdings steht dem auch ein Gewinn gegenüber. Der Faktor Geschlecht bestimmt das Schulleben ohnehin, und viele Situationen, Konflikte etc. können dann deutlicher wahrgenommen, analysiert und pädagogisch angegangen werden. Geschlechtergerechtigkeit ist Teil von Lernen an Heterogenität – eine der zentralen Zukunftsaufgaben von Bildung und religiöser Bildung.

In der Religionspädagogik werden Geschlechterfragen seit etwa 20 Jahren bearbeitet. Mittlerweile liegen zahlreiche Veröffentlichungen vor, kürzlich erschien ein Überblickswerk.4 Die Theorien und Konzepte haben sich ebenso weiterentwickelt wie die gesellschaftliche und schulische Wirklichkeit. Aus der Vielzahl möglicher Themen möchte ich hier auf aktuelle Entwicklungen zu Geschlechterdiskursen und zu Gottesvorstellungen eingehen.

 

Geschlechtervorstellungen im Wandel

Welche Vorstellung jeder und jede Einzelne von männlich und weiblich hat, hängt mit der eigenen Biografie zusammen. Wie nehme ich mich als Frau, als Mann wahr? Was erwarte ich von Jungen, was von Mädchen? Welches Verhalten fördere ich, welches lasse ich durchgehen, welches untersage ich? Wie beurteile ich die Interaktionen in der Klasse? Welche Materialien wähle ich aus? Die Herausforderung besteht darin, sich die eigenen Einstellungen und Handlungsweisen bewusst zu machen und einen reflektierten Umgang mit der Geschlechterfrage anzustreben, d.h. Genderkompetenz zu erwerben.

Noch vor 50 Jahren schien es klar zu sein, wie Männer und Frauen/Jungen und Mädchen sind. Ein Junge weint nicht! Ein Mädchen macht sich nicht schmutzig! Die Jungen bereiteten sich darauf vor, als Familienernährer “ihren Mann zu stehen”. Die Mädchen bekamen Puppen, um “eine gute Mutter” zu werden. Erst 1977 durfte die Frau gegen den Willen des Ehemannes berufstätig sein. Die Kirchen pflegten die Rollenverteilung “zum Wohle der Kinder und der Ehe” oder weil die Frau in der Gemeinde zu schweigen habe. Die gesellschaftliche Realität sah häufig auch damals schon anders aus, aber die Geschlechtervorstellungen waren prägend und Ziel schulischer und religiöser Bildung.

Heute stehen den Geschlechtern mehr Möglichkeiten offen, in einzelnen Bereichen wurde die Hierarchie zwischen den Geschlechtern verringert oder abgebaut. Grundlegend wirksam bleibt in unserer Gesellschaft das “kulturelle System der Zweigeschlechtlichkeit” (Hagemann- White). Wir kennen nur zwei Geschlechter und jeder Mensch muss sich diesen zuordnen. Ein Säugling ist ein Junge oder ein Mädchen. Das biologische Geschlecht, z.B. äußere Geschlechtsmerkmale, schien eindeutig festzustehen, das soziale Geschlecht, z.B. den Geschlechtern zugeschriebene Eigenschaften und Rollen, unterliegt dem historischen Wandel. Man unterscheidet daher zwischen sex (dem biologischen Geschlecht) und gender (dem sozialen Geschlecht). Welcher Seite dabei größere Bedeutung zukommt, wird unterschiedlich beurteilt. Derzeit wird das biologische Geschlecht wieder stärker diskutiert. Die einen halten es für ein zu überwindendes Konstrukt, die anderen behaupten es als grundlegend für die Geschlechterrollen.

 

Dekonstruktion von Geschlecht – Menschen sind verschieden
Der Kulturvergleich zeigt, dass die Zweigeschlechtlichkeit nicht naturgegeben ist. So kennen etwa nordamerikanische indianische Kulturen die two-spirits, Menschen, die sich männlich und weiblich identifizieren. In Indien leben die Hirjas als Frauen mit einem Männerkörper, in Albanien Mädchen/Frauen als Männer, die Burrneshas.

VertreterInnen des Konstruktivismus und der queer-Bewegung5 – am bekanntesten ist die US-amerikanische Philosophin Judith Butler – vertreten die Auffassung, dass auch das biologische Geschlecht konstruiert sei. Es beruhe auf Konventionen. Menschen seien vielfältiger, könnten sich ändern und hätten je eigene (Geschlechter-)Identitäten. Tatsächlich sind die vermeintlich feststehenden biologischen Unterschiede zwischen den Geschlechtern keineswegs eindeutig, was Hagemann-White bereits 19846 darlegte: Nicht alle Frauen können schwanger werden. Hormone werden mit Me­dikamenten angepasst. Etwa eins von tausend Kindern wird ohne eindeutiges Ge­schlecht geboren und als “Ausnahme” (auch operativ) einem Geschlecht zugeordnet. Seitdem eine größere Offenheit für diese Themen herrscht, hört man öfter von Menschen, die mit dem Ge­schlecht, dem sie biologisch zugeordnet werden, nicht leben wollen oder können.

Der sehr zu empfehlende ar­gentinische Film XXY zeigt eine Jugendliche, die als Mädchen aufgewachsen ist, sich in der Pubertät aber als Junge entwickelt. Es wird deutlich, wie wenig das “kulturelle System der Zweigeschlechtlichkeit” diesem Menschen gerecht wird. Sie/Er soll eines von beiden Geschlechtern sein und ist doch beides oder eben etwas Drittes: Alex!

 

Geschlechterdifferenz festschreiben – Mann und Frau verschieden geschaffen
In den letzten Jahren nehmen Stimmen zu, die die Geschlechter immer noch oder erneut biologistisch festschreiben wollen. Die biologistisch argumentierenden Positionen gehen von körperlichen Merkmalen, wie Genen, Hormonen oder Hirngröße aus und leiten davon weibliche und männliche Eigenschaften ab. Sie werden in populäre Literatur (“Warum Frauen nicht einparken und Männer nicht zuhören können…”) ebenso verbreitet wie durch in den Medien zitierte Untersuchungen. Der Mann sei von Natur aus aggressiv (Jäger), die Frau habe das “Muttergen”.

In kirchlicher Bildungsarbeit knüpfen vor allem mythopoetische und christlich-fundamentalistische Strömungen an eine klare Geschlechterdifferenz an. Mythopoetische Ansätze, etwa in der kirchlichen Jungen- und Männerarbeit, gehen von vermeintlich zeitlosen männlichen Archetypen aus, die es wiederzuentdecken gelte: z.B. der “wilde Mann”, der “Krieger”, der “Priester”, der “Liebhaber”. Diese Ansätze können als Zugang zu eigenen Gefühlen und Erfahrungen durchaus Entwicklungsmöglichkeiten eröffnen. Sie greifen jedoch zu kurz, wenn sie Männer festlegen, ohne soziale, kulturelle u.a. Hintergründe einzubeziehen. Unberücksichtigt bleiben meist Unterschiede und Hierarchien zwischen Männern und mögliche Macht- und Hierarchieverhältnisse zwischen Männern und Frauen.

Im Sinne einer starren Geschlechterdifferenz argumentieren auch evangelikale/fundamentalistische Stimmen. Mann und Frau seien von Gottes Schöpfung her gleichwertig, aber verschieden. Ihre Bestimmung liege vor allem in Ehe und Familie. Der Mann sei das Haupt der Frau (Eph 5,29), die Frau Hilfe des Mannes (Gen 2,18). Der Mann müsse sich auf seine Versorgerrolle besinnen und so seinen “natürlichen Egoismus” überwinden. Die Frau überwinde durch ihre Bestimmung als Hilfe des Mannes “natürliches Dominanzgefühl”.7 Konflikte und Probleme gelte es “in Christus” zu überwinden. Die “Genderideologie” wird als “die Gesellschaft zerstörende Ideologie” für den “Familienverfall” verantwortlich gemacht und “staatliche Umerziehungsmaßnahmen gegen Genderstereotype” angeprangert. Die “Auswechselbarkeit” von Frau und Mann und die “Veruneindeutigung des Geschlechts”8 seien wider die göttlich legitimierte Grundordnung von Ehe, Familie und christlichen Werten in der Gesellschaft.

Diese Positionen stellen eine zunehmende Herausforderung für eine pluralitätsfähige Religionspädagogik dar. Sie antworten auf ein steigendes Sicherheitsbedürfnis in einer andauernden Wirtschafts- und Orientierungskrise. Unberücksichtigt bleiben dabei die Pluralisierung von Lebensentwürfen, die multikulturelle und multireligiöse Gesellschaft wie gesellschaftliche Rahmenbedingungen für die Veränderung von Familien und Geschlechterrollen. Es gibt keine eindeutigen Definitionen der Geschlechter weder in wissenschaftlichen Untersuchungen noch in der Bibel. Einstellungen sind biografisch bedingt, gesellschaftlich geformt und von Interessen bestimmt. (Religiöse) Bildung hat das Ziel, Kinder und Jugendliche für eine plurale Welt vorzubereiten, indem sie sich gemäß ihren Möglichkeiten jenseits von Festlegungen entfalten, die eigene Würde erkennen, die Würde anderer respektieren lernen. Das Akzeptieren von Unterschiedlichkeit, ohne diese in Hierarchien und Abwertungen umzudeuten, ist ein zentrales Ziel von Bildung. Wie sich geschlechtsspezifische Sozialisation mit religiöser Bildung verknüpft, möchte ich anhand von Gottesvorstellungen skizzieren.

 

Gottesvorstellungen – eine Frage des Geschlechts?!

Gottesvorstellungen sind ein zentrales Gebiet religiöser Bildung. An ihnen wird erkennbar, wie Kinder und Jugendliche sich selbst verstehen, was ihnen wichtig ist, was sie fürchten und hoffen. Im besten Falle werden ihnen “Fenster zum Unendlichen” (Dorothee Sölle) geöffnet, die für sie in ihrer Lebenswelt förderlich sind. Sie sind eines der am meisten untersuchten Themen des RU9, wobei zunächst gemalte Bilder, neuerdings auch andere Visualisierungen sowie Gespräche und Videoaufzeichnungen über den Malprozess zu Grunde liegen.

Untersuchungen zum Malen haben ein deutlich klischeehaftes Bild ergeben: “Mädchen zeichnen gerne Prinzessinnen, Pferde, Häuser und Motive, die Beziehungsgeschehen zum Ausdruck bringen. Jungen bevorzugen Fahrzeuge, Raumschiffe, Dinosaurier und Monster und zeichnen häufiger aggressive Motive.” Jungen lassen sich in ihrer Motivwahl “stärker von medial vermittelten Themen (Werbung, Musikszene, aktuelle öffentliche Diskussion)” beeinflussen; im Stil sind sie spontaner, dynamischer. Mädchen bemühen sich “schönere” Bilder zu malen.10 Diese Ergebnisse bestätigen sich auch in Untersuchungen zu Bildern, die Kinder von Gott malen.11

Die Untersuchungen der 1990er Jahre zeigen, dass Jungen und Mädchen gleichermaßen vor allem die Frage nach der Beziehung zwischen Gott und Mensch, nach dem Wirken Gottes in der Welt, nach der Bedeutung Gottes für das eigene Leben sowie Fragen nach dem Ort und der Macht Gottes beschäftigt.12 Die Kinder ordnen Gott positive Eigenschaften und Metaphern zu. Dabei stellen Jungen häufiger religionskritische Fragen: Macht und Ohnmacht Gottes, Glaube und rationale Welterklärung, Gleichsetzung von Glaube und Aberglaube, Bedeutungslosigkeit Gottes als Erhalter der Welt. Einige Jungen verwenden Bilder aus der Technik und übertragen sie auf das Wirken Gottes in der Welt sowie auf die Beziehung zwischen Gott und Mensch. Gott wird eher als jemand gesehen, der radikal in die Welt eingreift. Die Mädchen verfügen über ein breiteres Spektrum an Ausdrucksmöglichkeiten und wählen Merkmale, “die auf Weisheit, Transzendenz und Beziehung hindeuten (z.B. Bart, Heiligenschein, ausgebreitete Arme), während Jungen historische Insignien politischer Macht und Herrschaft, wie Krone, Thron und Kreuz, bevorzugen”.13 Lehmann kommt zu dem Schluss, “dass Mädchen eher als Jungen die personale Nähe Gottes zu den Menschen darstellen und über ein breiteres Spektrum an Ausdrucksmöglichkeiten verfügen, um persönlich plausibel von Gottes Beziehung zur Welt und zu den Menschen zu sprechen”, während Jungen eher “die Macht und Kraft Gottes betonen”.14

Eine Studie von Georg Hilger und Anja Dregelyi zu “geschlechtstypischen und geschlechterdifferenten Merkmalen in den Gottesvorstellungen” von zehnjährigen Grundschulkindern,15 zeigt “realistischere, stärkere und provokativere Darstellungen bei vielen Jungen”16. Sie verwenden Motive aus der Comic- oder Computerwelt und männlich geprägte Stereotypen: Ritter, Marsmenschen, Sciencefiction Figuren und roboterhafte Gestalten. Sie betonen die Größe Gottes, insbesondere seine Mächtigkeit und Kraft, selten findet sich “ein Du in persönlicher Beziehung”.17 Die Darstellungen der Mädchen sind personaler und drücken stärker Gottes Fürsorglichkeit, Schutz, Nähe aus und enthalten öfter weibliche Attribute wie Ketten und Kleider. Die Bilder der Mädchen zeigen die Andersartigkeit, Transzendenz und Unsichtbarkeit Gottes bei gleichzeitiger personaler Nähe zu den Menschen.

Diese Ergebnisse bestätigen auch die Untersuchungen von Anna-Katharina Szagun, die ab 1999 Rostocker Schülerinnen und Schülern im Alter von sechs bis 17 Jahren aus überwiegend nicht christlichen Elternhäusern vier bis sieben Jahre lang begleitete.18 Die qualitative Längsschnittstudie basiert auf Visualisierungen (Materialcollagen der Kinder) und persönlichen Gesprächen. Szagun kommt zu dem Ergebnis, dass Mädchen bevorzugt Naturmaterialien verwenden, Jungen dagegen technisches Material sowie technische Vergleiche für Gott verwenden. Zudem schienen Jungen bereits im Grundschulalter zu spüren, “welchen Gewinn für das Selbstwertgefühl eine Person aus der Spiegelung in einer gleichgeschlechtlichen göttlichen Figur ziehen” kann.19

Stephanie Klein konzentrierte sich in ihrer viel beachteten Studie auf die Gottesbilder von Mädchen und die mögliche Weiblichkeit Gottes.20 Sie fand weibliche Gottesbilder als Ergänzung von Gott (“seine Frau”). Bemerkenswert ist ein Mädchen, das Gott als Figur mit weiblichen Attributen malt, jedoch die Figur im Gespräch als Jesus bezeichnet. Im weiteren Gespräch spricht sie von der gemalten Person wieder als “sie”. In einem Folgebild malt sie Jesus anders, z. B. mit Bart. Klein vermutet, dass Mädchen vielleicht weibliche Vorstellungen von Gott haben, gleichzeitig aber bereits internalisiert haben, dass Gott nicht weiblich sein kann oder dass es nicht gut ist, von Gott als weiblich zu sprechen. Diesen Ansatz stützen die Untersuchungen von Manuela Wiedmaier zu Gottesvorstellungen von Grundschülern und Grundschülerinnen, die besonders die Gespräche und Interaktionen der Kinder beim Malen und Verändern ihrer Bilder analysierte.21 Auch sie stellt fest, dass sich allein Mädchen mit dem Ge­schlecht Gottes auseinandersetzen und mit einem “internalisierten Denkverbot der Weiblichkeit Gottes” umgehen.22

 

“Gott hat mehr als einen Namen”
Auch wenn man die methodische Begrenztheit von solchen Studien berücksichtigt, fördern sie doch interessante Ergebnisse zutage. Sie machen deutlich, dass Kinder individuelle Zugänge zu Gott haben, die mit ihrer Lebenswelt korrespondieren. Durch die Geschlechterbrille zeigen sie auch bemerkenswerte Unterschiede zwischen (einer Gruppe von) Mädchen und Jungen und weisen darauf hin, dass eine geschlechtstypische Sozialisation nach wie vor wirksam ist und sich auch auf religiöse Vorstellungen auswirkt. Insbesondere die auch aus der Entwicklungspsychologie bekannte Beziehungsorientierung der Mädchen sowie die verdrängte Bedürftigkeit von Jungen scheinen in Verbindung mit der jeweiligen Gottesbeziehung zu stehen. Wenn Jungen lernen, dass sie als “kleiner Mann” alles im Griff haben müssen, projizieren sie vielleicht ihre Ängste und Machtfanta­sien auf einen Gott, der alles regelt. Wenn Mädchen dazu erzogen werden, nett zu sein und für andere zu sorgen, liegt ihnen die Vorstellung einer Naturwelt, die sie hegen können oder eine sich wandelnde Beziehung zu Gott vielleicht nahe. Beobachtungen in der Schulpraxis und Studien könnten hier weiterführen.

Über das Ernstnehmen der vorhandenen Geschlechter­stereotype und ihrer Funktion hinaus, kommt es aber auch darauf an, diese zu irritieren und den Schülerinnen und Schülern neue Blickwinkel zu eröffnen. Es reicht nicht zu beklagen, dass Jungen mit dem lieben, fürsorglich zugewandten Gott nichts anfangen könnten. Kritisch bemerkt Thorsten Knauth dazu, dass “martialische, kräftige und kriegerische Bilder eine neue Farbe in die allzu harmonie­orientierte Verkündigung bringen können”, es bestehe aber die Gefahr einer “unkritischen Remaskulinisierung der Gotte­srede”.23so Ziel ist vielmehr die Erweiterung der Lebensmöglichkeiten und Gottesvorstellungen.

Vor allem weibliche Attribute für Gott scheinen den Untersuchungen zufolge einem Denkverbot zu unterliegen. “Gott wird als unterschieden vom Menschen dargestellt, doch ist die Personalität Gottes notwendig mit der Männlichkeit verbunden, sowohl in der kindlichen Vorstellungswelt als auch in kulturellen Darstellungsweisen. Gott kann in nicht-personalen Symbolen, als Sonne, Kerze, Brot etc. dargestellt werden, nicht aber als Frau”.24 Hier wirkt sich aus, dass das weithin tradierte Gottesbild bestimmte männliche Bilder ins Zentrum stellte: Herrscher, König, Vater. Damit spiegelte es auch eine patriarchale Gesellschaft, in der der Mann in Gesellschaft und Familie zu bestimmen hatte. Diese “Ordnung” wirkt bis heute, anscheinend auch bei nicht christlich sozialisierten Kindern, fort. Verdrängt und vergessen sind andere biblische Gottesbezeichnungen: Gott als “alles gebärender Mutterschoß” (Apg 17,26ff.), als Henne (Mt 23,36; Lk 13,34), als Adler (Ex 19,4) oder als Quelle (Ps 36,10). Adonai (Gott) kann auch mit “die Ewige” übersetzt werden. Ruach ( Geist Gottes), ist z.B. in Gen 1,1, grammatikalisch Femininum und daher besser mit “Geistkraft Gottes” zu übersetzen. Auch die “Weisheit” (z.B. Spr 1,20-33) repräsentiert das göttliche Wirken und eine Tradition der Christentumsgeschichte, die vor allem in der Mystik aufgegriffen wurde.25 Die Wandlungsfähigkeit Gottes wird auch in der Vorstellung einer “Clownin Gott” (Gisela Matthiae) ausgedrückt. Wenn die Menschen als Ebenbilder Gottes geschaffen sind, hat dies Auswirkungen auf das Gottesverständnis, es spiegelt das Männliche und das Weibliche wider.

Es geht um eine Kontextualieserung der Gottesbeziehung. Ein Kind, das leidet, wird von einem anderen Gottesnamen angesprochen als eines, das zufrieden ist. Eine geschlechterbewusste Religionspädagogik unterstützt Mädchen, die als weibliche Wesen zum Bilde Gottes geschaffen wurden, sich in christlichen Vorstellungen wiederzufinden. Sie unterstützt Jungen, mit ihren Ängsten konstruktiv umzugehen. Sie schärft den Blick für die Unterschiedlichkeit der Menschen – auch als Mädchen und Jungen.

 

Anmerkungen

  1. Klafki,Wolfgang: Schlüsselqualifikationen/Allgemeinbildung – Konsequenzen für Schulstrukturen, in: Braun, Karl-Heinz (Hg.): Schule mit Zukunft. Empfehlungen und Expertisen der Enquete-Kommission des Landtages von Sachsen-Anhalt, Opladen 1998, S. 145-208, hier S. 151.
  2. Vgl. z.B. Ministerium für Schule, Jugend und Kinder des Landes Nordrhein-Westfalen (Hg.): Richtlinien und Lehrpläne zur Erprobung für die Grundschule in Nordrhein-Westfalen, Düsseldorf 2003, S. 14 u.ö.
  3. Z.B. Ministerium für Schule und Weiterbildung, Wissenschaft und Forschung (Hg.): Richtlinien und Lehrpläne für die Sekundarstufe II – Gymnasium/Gesamtschule in Nordrhein-Westfalen. Evangelische Religionslehre, Düsseldorf 1999, S. 34 u.ö.; Zitat S. XIV.
  4. Pithan, Annebelle u.a. (Hg.): Gender – Religion – Bildung. Beiträge zu einer Religionspädagogik der Vielfalt, Gütersloh 2009.
  5.  Queer (engl. schräg, quer) bezeichnet eine (Theorie)Bewegung, die u.a. aus der Sicht von Homosexualität, Transgender u.a. die Zweigeschlechtlichkeit infrage stellt.
  6. Hagemann-White, Carol: Sozialisation. Weiblich-männlich? Opladen 1984.
  7. Cochlovius, Joachim, Das biblische Bild von Mann und Frau – genial und aktuell, in: Männerfrust und Frauenpower. Die Geschlechterkrise und ihre Überwindung, idea-Dokumentation 5/2008, 37-40, hier 37.
  8. Hoffmann, Monika, Die Auflösung der Geschlechterordnung und die Gender-Indeologie, in: Männerfrust und Frauenpower. Die Geschlechterkrise und ihre Überwindung, idea-Dokumentation 5/2008, 27-36, hier 34.
  9. Zusammenfassend Lehmann, Christine: Heranwachsende fragen neu nach Gott. Anstöße zum Dialog zwischen Religionspädagogik und Feministischer Theologie, Neukirchen-Vluyn 2003; Lehmann, Christine: Gottesvorstellungen von Mädchen und Jungen, jungen Männern und Frauen. Eine Betrachtung neuer Untersuchungen unter der Gender-Perspektive, in: Pithan, Annebelle u.a. (Hg.): Gender – Religion – Bildung. Beiträge zu einer Religionspädagogik der Vielfalt, Gütersloh 2009,S. 182-193. Zur Methodendiskussion vgl. z. B. Klein, Stephanie: Gottesbilder von Mädchen. Bilder und Gespräche als Zugänge zur kindlichen religiösen Vorstellungswelt, Stuttgart u.a. 2000.
  10. Wichelhaus 1993, S. 86f., zit. n. Wiedmaier, Manuela: Wenn sich Mädchen und Jungen Gott und die Welt ausmalen … Feinana­lysen filmisch dokumentierter Malprozesse, Berlin u.a. 2008, S. 60.
  11. Im Folgenden beziehe ich mich auf Lehmann 2003 und 2009. Ich gehe hier nur auf Kinder ein, zu Jugendlichen vgl. ebd.
    Lehmann 2003, S. 137f.
  12. Lehmann 2009, S. 183.
  13. Lehmann 2009, S. 191.
  14. Hilger, Georg / Dregelyi, Anja: Gottesvorstellungen von Jungen und Mädchen – ein Diskussionsbeitrag zur Geschlechterdifferenz, in: Bucher, Anton A. u.a.: “Mittendrin ist Gott”. Kinder denken nach über Gott, Leben und Tod, Jahrbuch für Kindertheologie Bd. 1, Stuttgart 2002 [2. Aufl. 2008], S. 69-78, hier S. 70.
  15. Hilger / Dregelyi 2002, S. 73.
  16. Hilger / Dregelyi 2002, S. 73.
  17. Szagun, Anna-Katharina: Dem Sprachlosen Sprache verleihen. Rostocker Langzeitstudie zu Gottesverständnis und Gottesbeziehung von Kindern, die mehrheitlich in konfessionslosem Kontext aufwachsen, Jena 2006.
  18. Szagun, Anna-Katharina / Fiedler, Michael: Religiöse Heimaten. Rostocker Langzeitstudie zu Gottesverständnis und Gottesbeziehung von Kindern, die mehrheitlich in konfessionslosem Kontext aufwachsen, Jena 2008.
  19. Szagun 2006, S. 362.
  20. Klein, Stephanie: Gottesbilder von Mädchen. Bilder und Gespräche als Zugänge zur kindlichen religiösen Vorstellungswelt, Stuttgart u.a. 2000.
  21. Wiedmaier 2008.
  22. Wiedmaier 2008, S. 382.
  23. Knauth, Thorsten Jungen in der Religionspädagogik – Bestandsaufnahme und Perspektiven, in: Pithan, Annebelle u.a. (Hg.): Gender – Religion – Bildung. Beiträge zu einer Religionspädagogik der Vielfalt, Gütersloh 2009, 72-94, hier 91.
  24. Stephanie Klein zit.n. Wiedmaier 2008, S. 79.
  25. Sölle, Dorothee: Mystik und Widerstand. “Du stilles Geschrei…”, Hamburg 1997

Text erschienen im Loccumer Pelikan 2/2010

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