Gewaltprävention als Genderthema? - Die Bedeutung von Emotionen für ethische Bildungsprozesse im Religionsunterricht

von Elisabeth Naurath

 

Es steht außer Zweifel, dass ethische Bildung ein wesentliches Ziel von Religionsunterricht darstellt. Auch wenn seit dem Volksentscheid in Berlin neu diskutiert wird, ob ethische Bildung im Kontext einer religiösen Verortung oder losgelöst hiervon geschehen soll, ist doch die umgekehrte Frage geklärt: Religiöse Bildung impliziert die Vermittlung eines Wertehorizonts, der sich in Lebensorientierungen und -einstellungen als Ausdruck ethischer Kriteriologie vollzieht – im Fall christlichen Religionsunterrichts auf der Basis eines biblisch legitimierten Menschenbildes. Doch können wir vom Menschen sprechen ohne seine Leiblichkeit und damit auch Geschlechtlichkeit in den Blick zu nehmen? Müssen wir nicht vielmehr geschlechtsspezifisch differenzieren, wenn es in der Ethik um Lebenseinstellungen und Wertorientierungen geht: Welche Unterschiede und Gemeinsamkeiten gibt es hier zwischen Jungen und Mädchen? Welche Bedeutung haben Rollenerwartungen im Blick auf den Umgang mit gesellschaftlichen Normen? Aufgrund welcher Erfahrungen geschieht Gewissensbildung? Spielen da nicht ganz entscheidend auch die biographischen Hintergründe von männlicher und weiblicher Sozialisation hinein?

Die Geschlechterfrage begegnet bei Themen wie Schöpfung und Menschenbild, Liebe und Sexualität oder ‚Leben in Gemeinschaft‘. Insbesondere Impulse feministischer Religionspädagogik haben im Blick auf anthropologische Themen ethischer Bildung zu Revisionen bei Lehrplänen und Unterrichtsmaterialien geführt, indem nun vermehrt ‚sex and gender‘ (biologische und soziale Geschlechtlichkeit) als Differenzkriterien in den Blick kommen. Problematisch ist allerdings, dass bei Themen wie Frieden, Gerechtigkeit oder Freiheit die Geschlechterfrage theoretisch wie auch praxisbezogen nur eine marginale Rolle spielt – so als gäbe es bei der Etablierung eines Wertebewusstseins keine geschlechtsspezifischen Unterschiede, so als hätte die Verwirklichung von Werten wie beispielweise ‚Frieden‘ angesichts der Erscheinungsformen von Gewalt im häuslichen Kontext, in den Schulen oder gar in den kriegerischen Auseinandersetzungen dieser Welt keine dezidiert geschlechtliche Dimension.

 

Die Faszination von Gewalt

In der schulischen Praxis stellt sich die friedenspädagogische Frage häufig anders, nämlich geschlechtsspezifisch dar, wie folgendes Beispiel1 deutlich macht: In einer dritten Grundschulklasse wurde im Religionsunterricht anhand der Jakob-Esau-Geschichte das Thema ‚Segen’ behandelt. Die Kinder sind aufgefordert, ein eigenes Bild zu malen mit der Überschrift ‚Segen in meinem Leben’. Ein neunjähriger Schüler zeigt der Lehrerin sein Bild, auf dem er Krieg gemalt hat: Panzer, Flugzeuge mit Bomben etc. Die Lehrerin fragt ihn erstaunt, was das mit Segen zu tun habe. Darauf antwortet der Schüler: “Ach, Krieg zu malen ist viel spannender. Ich werde am Schluss alles rot durchstreichen, dann ist es ein Friedensbild!”

Dieses frappierende Beispiel aus dem Religionsunterricht zeigt die Faszination von Gewalt, die ein Segens- oder Friedensbild im Vergleich zu Gewaltdarstellungen für – nach meiner Erfahrung – vorrangig männliche Grundschulkinder als langweilig erscheinen lässt. Wo könnten die Gründe für diese Faszination von ‚sex and crime‘ liegen? Könnte es sein, dass vor allem Jungen von Macht, Stärke, Gewalt und medialen Helden fasziniert sind, weil sie eigene Gefühle der Ohnmacht und des ‚Noch-nicht-Könnens’ angesichts impliziter Erwartungen an ihre Geschlechterrolle dadurch kompensieren? Begeistern die magischen Künste Harry Potters die Heranwachsenden so sehr, weil hier Grenzen der Wirklichkeit machtvoll durchbrochen werden können? Drückt sich darin auch eine Sehnsucht nach Befreiung von Konventionen oder Stereotypisierungen aus? Der Religionsunterricht hätte sich hier der Frage zu stellen, inwieweit diese Sehnsucht auch als Sehnsucht nach Gott respektive nach dem Heiligen als Entgrenzendem wahr und ernst zu nehmen ist. Dies insbesondere, da das Heilige nach Rudolf Otto ‚fascinosum et tremendum’ (also Faszinierendes und Erschreckendes) in sich vereint und sich damit einseitigen Zuschreibungen sperrt. Verständlicherweise wird also eine Religionsdidaktik, die nur den ‚allzeit lieben Gott’ vermitteln will, in ihrer Einäugigkeit Dimensionen des Gottesbildes und der Gottessehnsucht ausblenden, die – religionspsychologisch betrachtet – vor allem für männliche Kinder und Jugendliche bedeutsam sein könnten.

 

Die ‚Genderisierung‘ des Gewaltdiskurses

Während noch in den 1980er Jahren die Geschlechterthematik in der Gewaltforschung weitgehend unbeachtet war, erregt heute die gezielte forschungswissenschaftliche Frage ‚Wie kommt die Gewalt in die Jungen?‘2 kaum Widerspruch. Hierbei muss der öffentliche Diskurs zur Gewaltthematik in Abhängigkeit von gesellschaftlichen Aufmerk- samkeitsbedingungen gesehen werden: Die Frage, ob man tatsächlich von einem deutlichen Anstieg der Kinder- und Jugendgewalt in unserer Gesellschaft sprechen kann oder ob hier ein wahrnehmungspsychologisches Problem vorliegt, das die (vor allem mediale) Bewusstmachung zu einem Prozess ständiger Bewusstwerdung aufgrund höherer Aufmerksamkeit führt, gleicht der Frage nach der Priorität von Huhn oder Ei. Kriminologische Statistiken konstatieren zwar eine Verjüngung und Verrohung von Gewalttaten, machen jedoch die mediale Fokussierung auf gewalttätige Einzelphänomene für den Eindruck einer wachsenden Gewaltbereitschaft verantwortlich. Ähnliche Wahrnehmungsprozesse untermauern auch die Behauptung eines grundsätzlich ‚männlichen Gesichts’ der Gewalt.3 Nicht zuletzt trägt eine Verkürzung bzw. Verfälschung kritischer Jungen- und Männerforschung in populärwissenschaftlicher Ratgeberliteratur dazu bei, weiterhin rollenspezifische Klischees zu bedienen. Hierbei fallen drei Stoßrichtungen der Argumentation auf: der ‚Arme-Jungen’-Diskurs, der ‚Die-Schule-versagt’-Diskurs und der ‚Wie-Jungen-sind’-Diskurs.4 Die Probleme männlicher Identitätsentwicklung fokussiert der ‚Arme-Jungen‘-Diskurs, indem resümiert wird, dass der Wandel der Geschlechterrollen für die heranwachsenden Jungen zu einem unlösbaren Paradox geführt habe: einerseits sollten sie Stärke nach dem Muster traditioneller Männlichkeitsvorstellungen und andererseits emotionale Kompetenzen wie Sensibilität und Einfühlungsvermögen entwickeln. Die Konfrontation mit zwei einander widersprechenden Männerbildern führe jedoch zu starker Verunsicherung, welche sich wiederum in wachsender Aggression und Gewaltneigung ausdrücken kann. Daran anknüpfend sieht der ‚Die-Schule-versagt’-Diskurs eine deutliche Benachteiligung der Jungen in schulischen Lerninhalten und -formen sowie Leistungsmaßstäben, da die Unterrichtsorganisation den eher extrovertierten und raumgreifenden, männlichen Interessen entgegenstünden. Auch diese in gewissem Sinn falschen Anforderungen an Heranwachsende männlichen Geschlechts bergen ein eklatantes Konfliktpotential in sich, das aufgrund der biologischen Disposition – hier wird vor allem mit dem erhöhten Testo­steronspiegel als ‚Männlichkeitshormon’ argumentiert – die Gewaltbereitschaft der Jungen stark erhöhe. Diese Argumentation des ‚Wie-Jungen-sind’-Diskurses hat im pädagogischen Kontext eine auf besonders problematische Weise ‚entlastende’ Funktion, die ideologiekritisch zu entlarven ist: Wenn Eltern von einem Vortrag zum männlichen Testosteronspiegel kommen und sich nun endlich das Aggressionspotential ihres Sohnes erklären können, ist die entschuldigende Wirkung nicht nur eine Absage an pädagogische Bemühungen, sondern erinnert an traditionell-rollen­stereotype Einstellungen, die angesichts männlicher (auch sexueller) Gewaltneigung gerne mal ein Auge zudrückt. Demgegenüber verweisen Studien der kritischen Jungen- und Männerforschung darauf, Gewalt nicht vorschnell als Form männlicher Lebensweise bzw. -bewältigung anzusehen, sondern gesellschaftspolitische Zusammenhänge einer “hegemonialen Männlichkeit”5 bzw. die weiterhin evidente Rolle von Männlichkeitsmythen6 in den Blick zu nehmen.

 

Jugendliche Brutalität – Mangel an Mitgefühl

Wenn auch ein grundsätzlicher Anstieg der Kinder- und Jugendgewalt als gesellschaftliches Phänomen in Frage zu stellen ist, so warnen doch Kriminalstatistiken7 vor einer steigenden Brutalität. Im Unterschied zu früheren Gewaltdelikten werde heute auf ein bereits am Boden liegendes und damit besiegtes ‚Opfer‘ mit äußerster Brutalität eingeschlagen und ohne Hemmschwelle eingetreten. Ein auffallender Mangel an Einfühlungsvermögen und Mitgefühl wird angesichts derartiger massiver Grenzüberschreitungen diagnostiziert. Dies allerdings ist nicht ohne geschlechtsspezifische Hintergründe zu sehen – wie emotionspsychologische Forschungen zur Entwicklung von Mitgefühl zeigen.8 So wird nicht nur in der Gewaltpräventionsforschung, sondern auch in Konzepten einer geschlechterbewussten Pädagogik die Entwicklung emotionaler Kompetenz als Kernbereich der Förderung von Prosozialität gesehen.9 Die Frage nach Geschlechterunterschieden durchzieht mittlerweile wie ein roter Faden emotionspsychologische Forschungen. Jutta Kienbaum, Professorin für Entwicklungspsychologie in Bozen, konnte in ihren lang- jährigen Studien zur Genese von Mitgefühl zeigen, dass das Geschlecht eines Kindes bzw. eines Jugendlichen einen wesentlichen Effekt auf pädagogische Beziehungsstrukturen – und damit auch für die Entwicklung mitfühlenden und prosozialen Verhaltens hat. Bereits im Kleinkindalter lassen sich signifikante Unterschiede feststellen: Die Mädchen zeigten im Mittel deutlich höhere Bereitschaft zu Mitgefühl und drückten diese emotionale Betroffenheit in tröstendem Verhalten aus.10 Auch zwei umfassende Jugend­- studien11 der Universität Augsburg mit fast 1.000 Jugendlichen sprachen dem Parameter ‚Geschlecht’ höchste Relevanz im Blick auf den Wert ‚Mitgefühl‘ zu. Haben Jungen also weniger empathisches Einfühlungsvermögen als Mädchen?

Es wird so gedeutet, dass im Jugendalter der Sozialisationsdruck zur Anpassung an die gesellschaftlich vorgegebene Geschlechterrolle steigt. Dies dürfte der Grund dafür sein, dass die Mitgefühlsbereitschaft der Mädchen von der Kindheit zur Jugendzeit im Vergleich zu den Jungen deutlich zunimmt. Ob Mädchen und Frauen aber wirklich empathischer sind oder lediglich stärker den Rollenerwartungen entsprechen, bleibt eine spannende Frage. In diesem Zusammenhang hat Hoffman12 auf die hohe Relevanz sogenannter Induktionen hingewiesen, die gegenüber Mädchen auffallend häufig gezeigt wurden: Induktionen im erzieherischen Verhalten sind opferzentrierte Erklärungen, d.h. dem Kind werden die verletzten Gefühle einer anderen Person bewusst gemacht, um Empathie bzw. Verantwortungsbewusstsein zu stärken. Im Gegensatz hierzu stehen Disziplinierungsmaßnahmen und Strafen, die die Aufmerksamkeit vom Gegenüber abziehen und Schuldgefühle erzeugen. Diese Emotionskontrolle wirkt sich nach Hoffman besonders negativ auf die Jungen aus, denn unterdrückte Gefühle blockieren die Offenheit und Sensibilität für andere und suchen sich in Aggressionen ein Ventil.

 

Emotionales Lernen als Chance

Was bedeutet das für den Religionsunterricht? Es bedarf hierzu einer Ermöglichungsdidaktik. Das heißt, dass die Schüler und Schülerinnen neben der kognitiven Reflexion ethischer Fragen wie beispielsweise mittels Dilemmageschichten auch Möglichkeiten haben sollten, eigene Erfahrungen, Fragen, Eindrücke und Gefühle im Unterrichtsprozess zum Ausdruck zu bringen. Diese emotionale Dimension des Lernens in den Blick zu nehmen, ist nicht nur für den Bereich der Grundschuldidaktik, sondern gerade auch für die weiterführenden Jahrgangsstufen, in denen eher kognitive Lernprozesse intendiert sind, wesentlich. Auf dieser Basis – einer Integration dezidierter emotionaler Gehalte – können geschlechtsspezifische Sichtweisen offensichtlich eingebracht und reflektiert werden. In einer Zusammenschau theologischer, pädagogischer und psychologischer Kriterien lassen sich daher für den Religionsunterricht folgende Anregungen eines ‚geschlechtergerechten‘ Bildungsanspruchs zusammenfassen:13

Religiöse Bildung geht nicht von einem heteronomen Moralverständnis aus, sondern von Bildung als Selbstbildung, d.h. es geht hier um Selbstbewusstwerdungsprozesse. Erst das Wahrnehmen und Ausdrücken eigener Gefühle macht es möglich, Gefühle anderer zu deuten und konstruktiv mit ihnen umzugehen. Unterrichtspraktisch sollte daher das Prinzip handlungsleitend sein: ‚Alle Gefühle sind erlaubt, nicht aber alle Verhaltensweisen!‘ Dies impliziert eine grundsätzliche Wertschätzung der Person, die bestätigend und anerkennend ist – ohne gleichzeitig den Anspruch auf (selbst)kritische Korrekturen aufzugeben. Aus emotionspsychologischer Sicht wird eine besondere Chance präventiver Intervention in der Möglichkeit des Erlebens positiver Gefühle zum Aufbau psychosozialer Ressourcen gesehen. Insofern der christliche Glaube sui generis die Aufgabe ernst nimmt, als Ausdruck des Evangeliums die mitfühlende und liebende Zuwendung Gottes zu jedem Menschen – Jungen wie Mädchen in deren Kontextualität und Individualität – spürbar werden zu lassen, garantiert der Religionsunterricht aufgrund seines Bildungsanspruchs Freiheit im Fühlen, Denken und Glauben.

Als Grundbedingung emotionaler wie auch sozialer Entwicklung gilt die unterrichtspraktische Realisierung zur Wahrnehmung und zum Ausdruck von Emotionen. Gerade im gegenwärtigen Kontext von medialer Reizüberflutung wird diese programmatisch als ästhetische Bildung im ursprünglichen Sinn des Wortes gefordert. Dass der Religionsunterricht besondere Möglichkeiten auch zur Wahrnehmung von Emotionen bietet, liegt auf der Hand und kann methodisch adäquat umgesetzt werden: Wege der Selbstreflexion – ob dies Meditationen, Bildbetrachtungen, spielerische Elemente oder kreatives Schreiben sind – umfassen genuin religionspädagogisches Handeln und ermög- lichen die Bewusstwerdung von Gefühlen. Dies sollte allerdings in der Umsetzung nicht so arrangiert werden, dass nur oder vorrangig die Mädchen angesprochen werden. Vielmehr ist der Rahmen so zu öffnen, dass alle Gefühle erlaubt sind und nicht im Sinne eines ‚Religionsstunden-Ichs’ nur die positiven und prosozialen Gefühle artikuliert werden dürfen. Hierzu gehört auch die Auseinandersetzung mit biblischen Texte, in denen Gewalt eine Rolle spielt: Weder die Verdrängung solcher Texte, noch deren Rationalisierung oder Harmonisierung sind legitim oder hilfreich. Vielmehr können sie eher geeignet sein, um negative, angst- und schuldbesetzte Gefühle von Schülerinnen und Schülern aufzugreifen und einen Prozess gemeinsamer Klärung in Gang zu bringen.

Dies wiederum schult das Emotionsverständnis und Emotionswissen: Eigene Gefühle wahrnehmen, verbal artikulieren oder nonverbal ausdrücken zu können, ist nicht zuletzt die Voraussetzung dafür, Ärger, Wut und Aggression bewusst zu machen und zu reflektieren. Der Religionsunterricht kann – vielleicht mehr als andere Fächer – Möglichkeiten zur Sensibilisierung eigener Gefühle eröffnen. Denn neben der zwischenmenschlichen Perspektive spielt ja auch die Gott-Mensch-Beziehung als Transzendierung der Wirklichkeit eine Rolle. Dies wirft insbesondere die Frage nach einer adäquate Bibeldidaktik auf, mit deren Hilfe es gelingen kann, eigene Emotionen in der Fülle der Gefühlswelten biblischer Figuren zu verlebendigen. So sind biblische Geschichten geeignet, sowohl Basisemotionen (wie Freude, Wut, Angst, Traurigkeit), als auch komplexe Emotionen (wie Mitgefühl, Neid, Schuld etc.) in der Verfremdung biblischer Personen ausdrücken zu dürfen.

Dies möchte ich abschließend an einem Beispiel aus dem Religionsunterricht zum Thema Mose illustrieren14: Wenn es einige Jungen (es handelt sich um zehnjährige Viertklässler) “echt cool” finden, dass Mose einen Ägypter erschlagen hat, dann greifen weder moralische Appelle noch Disziplinierungsmaßnahmen. Vielmehr kann eine intensive, d.h. nicht nur auf der kognitiven Ebene, ablaufende Beschäftigung mit der biblischen Geschichte selbst weiterführend sein. Aus meiner Erfahrung erweitert sich durch Methoden kreativer Bibeldidaktik das religionsdidaktische Handlungsrepertoire enorm: Wir haben ein Standbild (das heißt ohne Bewegung und ohne Worte) zur Unterdrückungssituation in Ägypten in Gruppenarbeit gestaltet. In der anschließenden Reflexion meinten jene ‚coolen Jungs’ , dass die Perspektive von “Oben-Sein” gar nicht angenehmer war als die von “Unten-Sein”. Entscheidend ist auch die Möglichkeit zum Rollentausch, indem die mutmaßlich andere und fremde Seite auch erlebt werden kann. Wie ist das, wenn die Mädchen den aggressiveren Part übernehmen? Aus einer gespielten Rolle heraus fällt es leichter, über Gefühle zu sprechen, im Schutz einer Rolle Emotionen zuzulassen und auszudrücken. Der Schatz biblischer Geschichten, die als Lebens- und Glaubensgeschichten geradezu zum Spiel einladen und sich damit schulischem Leistungsdenken sperren, erweitern so im Schutz der Rolle das Repertoire an emotionalen Ausdrucksmöglichkeiten und sind in ihrer persönlichkeitsbildenden Funktion nicht zu unterschätzen, wenn die Schüler und Schülerinnen im anschließenden Klassengespräch kompetent zur Reflexion des Erlebten ermutigt werden.

 

Anmerkungen

  1. Vgl. Naurath, Elisabeth: Mit Gefühl gegen Gewalt. Mitgefühl als Schlüssel ethischer Bildung in der Religionspädagogik, Neukirchen 22009, S. 30; dies.: Religion, Gewalt, Geschlecht. Gender als vernachlässigte Frage im Diskurs religiöser Gewaltforschung, in: Zeitschrift für Wissenschaft und Frieden (W&F) 26/2008, S. 40-43.
  2. Vgl. Kassis, Wassilis: Wie kommt die Gewalt in die Jungen? Soziale und personale Faktoren der Gewaltentwicklung bei männlichen Jugendlichen im Schulkontext, Bern-Stuttgart-Wien 2003.
  3. Doch nicht zuletzt aufgrund eines Wandels der Rollenstereotypen zeigen neuere Kriminalstatistiken eine erhebliche Zunahme der Gewaltdelinquenz bei Mädchen, auch wenn der Anteil männlicher Gewalt nach wie vor deutlich überwiegt.
  4. Vgl. Schultheis, Klaudia/ Fuhr, Thomas: Grundfragen und Grundprobleme der Jungenforschung, in: Dies/Ders../Strobele-Eisele, Gabriele. (Hg.): Kinder: Geschlecht männlich. Pädagogische Jungenforschung, Stuttgart 2006, S. 16ff.
  5. Kassis, Wie kommt die Gewalt in die Jungen?, S. 149.
  6. Vgl. Wölfl, Edith: Gewaltbereite Jungen – was kann Erziehung leisten? Ansätze zu einer genderorientierten Pädagogik, München 2001, S. 98.
  7. In der Polizeilichen Kriminalstatistik (PKS) der Polizeiinspektion Osnabrück sind beispielsweise für das Jahr 2007 insgesamt 39.645 Straftaten Jugendlicher erfasst worden. Dies entspricht einem Rückgang gegenüber dem Vorjahr um 839 Fälle oder 2,07 %. Während Diebstahlsdelikte in der Gesamtzahl sanken (-1.278 Fälle; – 6,8 %), haben Rohheitsdelikte ( + 62 Fälle; + 1,4 % ) und Körperverletzungen ( + 117 Fälle; + 3,8 % ) zugenommen.
  8. Vgl. Volland, Cordelia/ Ulich, Dieter/ Kienbaum, Jutta/ Hölzle, Elisabeth: Doing gender by doing emotion? Die geschlechtsspezifische Entwicklung der Mitgefühlsbereitschaft im Jugendalter, in: Zeitschrift für Psychologie in Erziehung und Unterricht 55/2008.
  9. Vgl. zum Beispiel Kaiser, Astrid/ Nacken, Karola/ Pech, Detlef: Mädchenstunden und Jungenstunden. Geschlechterbewusste Pädagogik in der Praxiserprobung., in: Die Deutsche Schule 93/2001, S. 429-443.
  10. Vgl. Kienbaum, Jutta: Erzieherinnenverhalten und kindliches Mitgefühl – eine Beobachtungsstudie (bislang unveröffentlichtes Vortragsmanuskript).
  11. Vgl. Ulich, Dieter/ Kienbaum, Jutta/ Volland, Cordelia: Wie entwickelt sich Mitgefühl?, in: Augsburger Berichte zur Entwicklungspsychologie und Pädagogischen Psychologie 87, Augsburg 2001.
  12. Vgl. Hoffman, Martin L.: Sex differences in empathy and related behaviors, in: Psychological Bulletin 84/1977, S. 712-722.
  13. Vgl. zum Folgenden: Petermann, Franz/ Wiedebusch, Silvia: Emotionale Kompetenz bei Kindern, in: Petermann, Franz (Hg.): Klinische Kinderpsychologie 7, Göttingen 2003.
  14. Vgl. auch: Naurath, Elisabeth: Wider das Böse. Die Entwicklung von Mitgefühl bei Mädchen und Jungen als religionspädagogische Aufgabe, in: Kuhlmann, Helga/ Schäfer-Bossert, Stefanie (Hg.): Hat das Böse ein Geschlecht? Theologische und religionswissenschaftliche Verhältnisbestimmungen, Stuttgart 2006, S. 208-218

Text erschienen im Loccumer Pelikan 2/2010

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