Diakonische Bildung - Lernen am Ernstfall in Schule und Konfirmandenunterricht

von Harry Noormann

 

“Nicht der religiöse Akt macht den Christen,
sondern das Teilnehmen am Leiden Gottes im weltlichen Leben …
Jesus ruft nicht zu einer neuen Religion auf, sondern zum Leben.”

 

Jugendliche leiden nicht an Orientierungslosigkeit und an Defiziten sozialer Sensibilität, sie leiden an Ängsten, sozial nicht geachtet und gebraucht zu werden3

Lothar Kulds These ist eine prägnante Antwort auf unsere Frage, was Jugendliche von Angeboten diakonischen Lernens erwarten dürfen: die Erfahrung, sozial geachtet und gebraucht zu werden. Wir stecken in gesellschaftlichen Umwälzungen, auf die das diakonische Lernen zweifellos eine pädagogische Reaktion darstellt. Die Phänomene selbst sind inzwischen feuilletonistisches Gemeingut:

Die Erosion dauerhafter und verlässlicher, traditionsvermittelter normativer Bindekräfte von Familie und Sozialmilieu wirkt wie eine “gewaltige Entsicherungsfuge” (U. Beck) für überkommene Vertrautheiten von Sozialität und Solidarität, einmal mehr beschleunigt von einer Durchdringung aller Lebensbereiche mit marktradikalen Effizienzdoktrinen. Ethisch blinde Marktgesetze, ihre Nötigung, stärker, schneller, gewiefter zu sein als die Mitkonkurrenten, verwandeln tendenziell auch mitmenschliche Kommunikation zu Tauschwertakten im Kalkül der Nutzenmaximierung. Was will ich? Wie kann ich mich behaupten? Wie gewinne ich Anerkennung, die Bestätigung, gebraucht zu werden? Individualisierung meint Freiheit und Zwang, das “Leben in die eigene Hand zu nehmen”: “Chancen, Gefahren, Unsicherheiten der Biographie, die früher im Familienverbund, in der dörflichen Gemeinschaft, im Rückgriff auf ständische Regeln oder soziale Klassen definiert waren, müssen nun von den Einzelnen selbst wahrgenommen, interpretiert, entschieden und bearbeitet werden.”4 Überspitzt ausgedrückt: Individualisierung erzwingt gewissermaßen Selbstbezogenheit. Die Implikationen und Folgen werden in den zeitdiagnostischen Wissenschaften kontrovers beurteilt.

Die Frage lautet: Werden Mitgefühl, Anteilnahme und Rücksichtnahme zum kontraproduktiven Luxus eines strukturell aufgenötigten, ichbezogenen Lebensethos?

Ja!, meinte vor Jahren der emeritierte Tübinger Kinder- und Jugendpsychiater Reinhart Lempp. Die pathogenen Syndrome von Autozentrismus und sozialer Apathie könnten zur kollektiven psychischen Ausstattung der jungen Generationen heranwachsen.5 Kinder, die heute statistisch mit einem halben Geschwister aufwachsen, machen anders als ihre Altersgenossen vor 100 Jahren mit durchschnittlich vier Geschwistern von klein auf weniger Erfahrungen “von gegenseitiger Verantwortung füreinander, von gegenseitiger Hilfe und Verpflichtung, aber auch von gegenseitigem Verstehen und sich ineinander Einfühlen” (ebd., 16).

Der kommunikative Nahraum lässt das Individuum um seine eigene Mitte kreisen, während die Gesetze draußen (“Schule erzieht zu egoistischen Alleingängern”) ihm geradezu aufnötigen, in ständiger Rivalität zu anderen um einen Platz an den Sonne zu buhlen.

Mit Ulrich Beck widerspricht der Sozialpsychologe Heiner Keupp vehement diesen Menetekeln, das Ringen um das eigene Leben katapultiere die Menschen in eine vereinzelte, autozentristische Robinsonexistenz sozialer Schwerelosigkeit. Die nostalgischen Polaritäten “Auflösung traditionaler Gemeinschaftlichkeit = Isolation, Individualisierung = Abbau von Solidarität = Egoismus” seien empirisch haltlos. Aus den “Schraubstöcken der Tradition befreit” suchen nach Keupp Menschen nach “verbindlichen neuen sozialen Netzen, die Zugehörigkeit und Lebenssinn herstellen” und entwickeln neue Formen selbst bestimmter Beziehungen und Solidarität.6

Die kontroversen Einschätzungen sind pädagogisch unmittelbar belangvoll. Lempp argumentiert aus einer Defizitanalyse: Heranwachsende leiden unter Defiziten an Beziehungsfähigkeit, sie brauchen eine Erziehung zu Sozialverhalten und Rücksichtnahme, den pädagogischen Beziehungstherapeuten.

Der pädagogische Rat von Beck und Keupp dagegen lautet: Fördert und unterstützt die individuelle Lebensführungskompetenz, stärkt die Ressourcen von Kindern und Jugendlichen (nicht zuletzt die materiellen!), um ihre sozialen Bedürfnisse in Freiheit zu gestalten.

Welcher pädagogischen Grundauffassung ordnen wir das diakonische Lernen zu? Davon hängt viel ab. Kulds Position an der Seite von Beck und Keupp ist klar. Ich spinne seine Gedanken einmal weiter:

Unsere Schülerinnen und Schüler und Konfirmandinnen und Konfirmanden kennen die Spielregeln der Verhältnisse aus dem “ff”, und sie kennen nur diese und wissen sich in ihnen zu bewegen, arrangieren sich mit dem Selektionsdruck und suchen ihren Stand zu fassen, haben das Realitätsprinzip von Leistung und Wettbewerb verinnerlicht. Wir, die Erwachsenen, sind ihre Repräsentanten. Wir haben die Welt für sie eingerichtet, wie sie ist. Uns steht es nicht an, Jugendliche zu belehren und zu meinen, “durch Ethik-Tropfen, heiße Wir-Umschläge und tägliche Einredungen auf das Gemeinwohl” dem “Egoismusfieber” beikommen zu können.7 Wer auf diese Weise besserwisserisch auf Jugendliche zugeht, hat schon verloren. Uns muss vielmehr daran gelegen sein, Jugendliche als Bündnispartner gegen die ethisch blinde Macht des Marktes für eine “Haltung engagierter Mitmenschlichkeit” (die Übersetzung von “Compassion”8) zu gewinnen, da diese an Erfahrungen anknüpft, die die meisten selber gemacht haben: Das Einzige, was sich vermehrt, indem man es verschenkt, ist Zuwendung und Anteilnahme – “Mitleidenschaft.” Daher die These: Jugendliche leiden nicht an Orientierungslosigkeit und an Defiziten sozialer Sensibilität, sie leiden an Ängsten, sozial nicht geachtet und gebraucht zu werden.

 

Diakonie (kennen) lernen oder diakonisch lernen?

“Diakonie” kann und sollte ein Thema auch des Konfirmandenunterrichts sein; erstens ganz praktisch: Jugendliche sollen informiert sein über die vielfältigen Arbeitsfelder der Diakonie, wohin sie sich vor Ort wenden können, wenn der Familie die Schulden über den Kopf wachsen, der Freund ständig ausrastet und der Schule fernbleibt, wenn die Oma zu Hause nicht mehr versorgt werden kann. Sie sollen etwas wissen von den Problemen der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter z.B. in der ambulanten Familien- und Jugendhilfe, die verhaltensauffälligen Kindern zu helfen versuchen, obwohl sie die Ursachen in kaputten Familien nicht beseitigen können (“Diakoniekunde”).

Zweitens ist Diakonie ein Thema, um eine Ahnung von einem unverwechselbaren Kennzeichen des christlichen Glaubens zu erhalten, das er vom Judentum geerbt und ausgestaltet hat – eine Religion, in der es nicht darauf ankommt, Türke oder Deutscher, Hartz IVler oder Banker zu sein, sondern darauf, an den Gott zu glauben, der “in der Liebe wirksam” und in der Gestalt Jesu Christi “greifbar” ist (Gal. 5,6) (Diakonie und das unverwechselbar Entscheidende des christlichen Glaubens). 

Drittens ist Diakonie ein Thema des Konfirmandenunterrichts, um zu verstehen, was Kirche ausmacht und sein will: eine um Christus zentrierte Gemeinschaft (koinonia), die feiernd vorwegnimmt, was sie erhofft (leiturgia), Zeugnis gibt von der befreienden Botschaft (martyria) und diese praktisch lebt (diakonia). Für evangelische Christen in der protestantischen Fixierung auf Wort und Schrift muss es ein besonderes Anliegen sein, die Grundfunktionen von Kirche zusammenzuhalten.

Viertens ist die diakonische Lebensäußerung von Gemeinde und Kirche ein zentrales Thema, an dem Jugendliche im Konfirmandenalter sich abarbeiten, weil sie ein feines Gespür für Authentizität, für die Glaubwürdigkeit großer Worte und steiler Moral entwickelt haben. Klaffen Anspruch und Wirklichkeit, Theorie und Praxis uneinholbar auseinander oder scheint in der Praxis auf, was die Botschaft meint? “Das Bild von Gemeinde muss für die Jugend­lichen in sich stimmen, damit sie sich wenigstens in Teilen darauf einlassen und in Zustimmung und Kritik damit identifizieren können. Der damit eingeforderten Relevanz des christlichen Glaubens für das alltägliche Leben kann in keiner anderen Organisationsform so intensiv nachgespürt werden” wie in der Diakonie.9 (Diakonie als Frage von Anspruch und Wirklichkeit des Glaubens, von “messianischer Spiritualität”).

Diese vier Perspektiven des “Themas” Diakonie lassen sich mit dem üblichen didaktisch-methodischen Repertoire im Unterrichtsraum bearbeiten. Nicht zwingend, aber überaus belebend kann dabei der kurzzeitige Besuch einer oder mehrerer diakonischer Einrichtungen einbezogen werden. “Diakonisches Lernen” aber meint etwas anderes:

  • Schülerinnen und Schüler bzw. Konfirmandinnen und Konfirmanden leisten über einen kompakten Zeitraum von mindestens zehn Stunden (bis zu mehreren Wochen) praktische Arbeit in einem Kindergarten, Behindertenheim, Altenheim, Krankenhaus, der Bahnhofsmission, bei Anlaufstellen für Obdachlose oder Flüchtlinge,
  • sie dokumentieren ihre Tätigkeit in Lerntagebüchern und Berichten und
  • reflektieren ihre Erlebnisse gemeinsam mit anderen im Kontext schulischen oder kirchlichen Unterrichts.


Auf den ersten Blick ist dies nichts aufregend Neues, ein Sozialpraktikum in kirchlichen Einrichtungen halt.10 Das innovative Potenzial dieser Initiativen leuchtet erst auf vor dem aktuellen gesellschaftlichen, kirchlichen und sozialisatorischen Hintergrund:

Gesellschaftlich:
Angesichts unübersehbarer sozialer Verwerfungen, die die Gesellschaft auseinander treiben und ihre Entsolidarisierung vertiefen, ging es schon den Urhebern des ersten Projektes “Compassion” darum, “die heranwachsende Generation für eine Gesellschaft der ‚Mitleidenschaft’ (Die Denkschrift “Maße des Menschlichen” spricht von einer “Kultur des Helfens”) zu gewinnen, in der Solidarität und Engagement für andere nicht als Dummheit gilt, sondern als ein Gewinn an Menschlichkeit betrachtet wird.”11

Kirchlich:
Nach dem teils nahezu vollständigen Schwund lebensgeschichtlicher, kirchlich-religiöser Erfahrungsbezüge von Kindern und Jugendlichen zu gelebter Religion kommen junge Menschen vorwiegend über den Religionsunterricht mit der Frage nach Gott und dem Christentum in Berührung. Wie im Konfirmandenunterricht lernen sie Religion vornehmlich an den großen Fragen, den Geschichten und Glaubenssätzen kennen – und viele auch schätzen. Diakonisches Lernen geht umgekehrt leibhaftig von außen auf Religion und Glauben zu: Beglückende und bedrückende Erlebnisse, nicht selten Grenzerfahrungen, bieten Anknüpfungspunkte für Austausch und Gespräch: “Wie hältst du das aus? Woher nimmst zu die Kraft? Was machst du, wenn du nicht mehr weiter weißt? Was hat das mit Gott zu tun?” Gewiss, für diese Fragen lässt der Alltagsbetrieb nur selten Raum. Umso wichtiger ist es, während und nach dem Praktikum Reflexionsräume zu schaffen, die einen Lernweg vom Erlebnis zur nachhaltigen Erfahrung vollziehen lassen.

Sozialisatorisch:
Diakonisches Lernen fordert von den Jugendlichen eine mutige Grenzüberschreitung, die Überwindung einer hohen Schwelle in einen Lebensraum, der für die allermeisten eine gänzlich fremde Welt darstellt, die bisher außerhalb ihres Wahrnehmungs- und Erfahrungshorizontes lag. Die “hautnahe Berührung”, der unmittelbare zwischenmenschliche Kontakt mit Behinderungen, körperlicher Gebrechlichkeit und sozialer Ausgrenzung streut Sand ins Getriebe einer utilitaristischen Alltagsrationalität (“Was habe ich davon?”). Begegnungen dieser Art konfrontieren mit einem Blickwechsel – Menschen Anerkennung entgegenzubringen nicht nach dem, was sie leisten, sondern in Achtung vor dem, was sie erleiden. Jugendliche sind solche emphatischen Beziehungsformen aus dem Umgang mit ihren nächsten Menschen, Familienangehörigen und Freunden zumeist vertraut. In einer emphatischen (Freundschafts-) Beziehung darf man sich mit den Fehlern und Unvollkommenheiten zeigen, wie man ist, man weiß um die wechselseitige Angewiesenheit und Bedürftigkeit.

In der Literatur hat sich der Begriff des “diakonisch-sozialen Lernens” durchgesetzt, die EKD hat ihn in ihrem Positionspapier von 2004 übernommen. Ich möchte der Bezeichnung “diakonisches Lernen” bzw. “diakonische Bildung” den Vorzug geben, um bei vielen Gemeinsamkeiten (wie Freiwilligkeit, Begegnung mit Notleidenden und Hilfebedürftigen, Verantwortungsübernahme, Reflexivität) bewusst eine Differenz zum sozialen Lernen zu markieren. Diakonisches Lernen schließt soziale Sensibilisierung ein. Doch sollte es dem diakonischen Lernen nicht in erster Linie um “Werteerziehung” gegen die schwächelnden Tugenden von Verantwortungsbereitschaft und Gemeinsinn gehen. Diakonische Erlebnisse sind religionspädagogisch zu durchdringen in ihrem Verweischarakter für christliches Ethos, für die Grundhaltung gegenüber dem Menschsein und seinen Beschädigungen im Licht der guten Nachricht von der Menschenfreundlichkeit Gottes.12

 

Sind 14-/15-Jährige motivierbar zu “sozialverpflichtetem Handeln”?

Ich kenne keinen fachlichen Beitrag, der die Frage, ob und unter welchen Voraussetzungen Jugendliche für diakonisches Lernen ansprechbar sind, unter entwicklungspsychologischen Aspekten behandelt. Man darf vermuten, dass das Pubertätsalter ein entwicklungspsychologisch “unpünktliches” Zeitfenster darstellt. In einer Lebensphase, in der in Körper und Geist revolutionäre Dinge vonstatten gehen, die Gefühle Karussell fahren zwischen Ohnmachts- und Omnipotenzphantasien, wirkt die Losung “Suche dir Ziele außerhalb deiner selbst!” (G. Schulze) eher deplatziert.13

Nun gibt es eine ganze Reihe von Erfahrungen mit Projekten diakonischen Lernens für die Altersgruppen der 7. bis 9. Klassenstufe, für die entwicklungspsychologische Hindernisse offenbar keinen nachteiligen Einfluss gehabt haben – von Compassion-Klassen und dem Baden-Württemberger Modellprojekt Soziales Lernen (agentur mehrwert) in den 90ern über das Hannoveraner Diakonie-Projekt “Szenenwechsel” (www.diakonische-gemeinde.de) zum Baden-Württemberger Projekt “Soziales Engagement” für Realschulklassen 5 bis 1014 bis zum neuen Rahmenplan in Berlin und Brandenburg, der diakonisch-soziales Lernen für die Jahrgangsstufen 1 bis 10 curricular fest integriert.15

Für die Frage der Motivation Jugendlicher sind nach den Befunden empirischer Begleitforschung andere als entwicklungspsychologische Aspekte beachtenswert:

  1. Generell wurde im Anschluss an das Compassion-Projekt festgestellt, dass die Jugendlichen (in diesem Fall 7. bis 12. Klassen, Gymnasien und Realschulen) weder begeistert noch ablehnend auf das Angebot zu einem freiwilligen Praktikum reagiert haben. Klare Ablehnungssignale kamen, wenn überhaupt, von Jungen. Insgesamt ist man auf eine Haltung “wohlwollender Unentschiedenheit” gestoßen.16
  2. Genderspezifische Unterschiede: Mädchen – so lautete schon eine These im Compassion-Projekt, die sich bestätigt hat – sind offener und empfänglicher für eine Ethik der Fürsorge als Jungen. Diese Beobachtung wird auf unterschiedliche Rollenerwartungen zurückgeführt, die bei aller Annäherung in den Sozialisationsbedingungen nach wie vor wirksam sind. Auf der anderen Seite haben Jungen ihre häufig aversive Haltung nach der Praktikumserfahrung revidiert.17
  3. Jugendliche möchten in der Tat wissen, welchen “Gewinn” soziales Engagement auf Zeit für sie bringt. Opfer- und Gönnerhaltungen liegen ihnen fern, auch religiöse Motive spielen kaum eine Rolle. Egoistische und altruistische Motive schließen sich nicht aus, sondern verstärken sich gegenseitig: Je mehr “Spaß” und eigene Bereicherung erfahren werden kann, je mehr es sich “lohnt”, desto höher die Bereitschaft, aktiv zu werden.
  4. Persönlichkeitspsychologische Forschungen behaupten einen Zusammenhang zwischen einem positiven Selbstkonzept und der Bereitschaft zu sozialem Engagement bei 12- bis 17-Jährigen. Wer sich selbst bejahen kann, entwickelt eine positivere Einstellung zu sozialen Werten und zur Bereitschaft, den eigenen Idealen gemäß zu handeln.18
  5. Altruistische Haltungen sind bei Jugendlichen mit kirchlicher Bindung ausgeprägter. Das kann wahrscheinlich allgemein von Jugendlichen angenommen werden, die über Vereine und andere Gruppen eine soziale Integration erfahren, die sich auf ihre Bereitschaft auswirkt, sich um andere zu kümmern.19

Und was ist mit den Bildungsverlierern und den Desintegrierten mit dem Selbstbild, nicht gut genug oder ein Versager zu sein? Sie benötigen von einem diakonischen Bildungsdenken her, das Jugendliche nicht bei ihren Defiziten, sondern bei ihren besonderen “Gaben” und Kompetenzen behaftet, der nachdrücklichen Ermutigung, weil in diakonischen Lernzusammenhängen auch andere Fähigkeiten abgerufen werden als verbale Intellektualität, Fähigkeiten, die schulisch häufig nicht honoriert oder gering geschätzt werden.

 

Wie funktioniert diakonisches Lernen – was und wie lernen Konfirmandinnen und Konfirmanden anders als in der Schule gewohnt? Erfahrungen und Befunde

Ich beginne mit einer biografischen Notiz, auch wenn Sie wegen des Altersunterschieds nur bedingt übertragbar ist: Zu Beginn meines Studiums habe ich – wie manche von Ihnen sicher auch – mein Sozialpraktikum in einem Heim für Strafentlassene und Alkoholiker absolviert, ein halbes Jahr lang, nebenbei Hebräischvokabeln und Martin Noths Amphyktioniethese. Das war etwas anderes als auf dem Bau Geld zu verdienen oder für die Post Überlandkabel einzugraben. Es war eine drastische, verunsichernde und nicht angstfreie Fremdbegegnung mit “Knackis”, mehr oder weniger trockenen Alkoholikern, ehemaligen Fremdenlegionären in Vietnam, mit Männern, die hoffnungslos auf hundert Jahre verschuldet waren.

Alle kulturellen und kommunikativen Routinen funktionierten nicht mehr. “Perturbation” sagen die Konstruktivisten, eine Störung der Welt-Umwelt-Beziehung, in der bisheriges Wissen versagt. Welche Haltung, welche Mimik und Gesten würden arrogant, welche devot wirken? Würde ich meinen Sprachcode in den ihren übersetzen können? Wie reagieren auf lautes Gelächter nach der Aufforderung, doch bitte die verbotene Schnapsflasche im Büro abzugeben? Wo war die Mitte zwischen blasierter Anbiederung und indifferenter Distanz? Würde ich Worte finden, um verständlich zu erklären, warum ich Theologie studieren will?

Ich hatte das Glück, auf respektheischende, lebensgezeichnete Persönlichkeiten zu treffen, die eine eigentümliche Würde auch dann ausstrahlten, wenn sie von ihrem sozialen Tod erzählten. Diese Achtung und Anerkennung der einzelnen Person sollte sich als Schlüssel erweisen, sich “schwach zeigen zu können, ohne Stärke zu provozieren”, wie Adorno eine freundschaftliche Beziehung bezeichnet hat.

Andererseits: Bei allem Verständnis habe ich sie nicht “verstanden” in dem Sinne, dass ich hätte in ihre Haut schlüpfen können (“passing over”). Aber sie haben mir das große Geschenk gemacht, für eine Zeit die Wirklichkeit mit ihren Augen zu sehen und mich selbst und die Welt in anderem Licht. Das in einem Bericht zu durchdenken und in Worte zu fassen, machte aus dem Erlebten eine Erfahrung, die mich durch das Studium und darüber hinaus begleitet hat. Und es war gut, dass ihre Gesichter, lachend, fragend, wütend, verzweifelt anwesend blieben, wenn es um Christus pro nobis oder um die apokatastasis pantôn ging.

Ich erzähle die Episode erstens, weil in der Literatur zum spezifischen Lernverständnis diakonischer Bildung die Dimension der Fremdbegegnung ganz unterbelichtet ist. Diakonisches Lernen bedeutet Fremdhermeneutik, das Aushandeln interkultureller und intergenerativer Differenzen, die nicht überwunden, sondern bestenfalls in “aktive Toleranz” (K.E. Nipkow) und “solidarische Konvivenz” (T. Sundermeier) überführt werden. Zweitens verdeutlicht das Beispiel die erlebnispädagogische Qualität diakonischen Lernens, die idealiter abstrahlt auf ganz andere Problembereiche und Herausforderungen.

Was ist das Besondere am Lernkonzept diakonischer Bildung? Abstrakt geht es ihm um nicht weniger als um die Überwindung der Trennung zwischen “Bildung” (Schulpädagogik) und sozialer Handlungskompetenz (Sozialpädagogik).20 Die Denkschrift “Maße des Menschlichen” hebt darauf ab, wenn sie (mit schulkritischer Pointe) den “Zusammenhang von Lernen, Wissen, Können, Wertbewusstsein, Haltungen (Einstellungen), Handlungsfähigkeit im Horizont sinnstiftender Deutungen des Lebens” als Grundlage evangelischen Bildungsverständnisses definiert. Das ist der erste Grund-Satz im Positionspapier der EKD. Es nimmt dann lerntheoretische Gedanken auf, die dem amerikanischen Konzept des “situated learning” (situiertes Lernen)21 entstammen mit der Grundthese: Kenntnisse und Fähigkeiten, die nicht in konkreten Situationen und Verwendungszusammenhängen praktisch erprobt und überprüft werden, drohen zu verdorren und werden bedeutungsloses, “träges Wissen”. Das ist keine pädagogisch neue Erkenntnis, aber sie gewinnt durch das diakonische Lernen neue Schubkraft; denn dieses besitzt drei Markenzeichen:

  1. Das Lernen “bewegt” die Person “mit Haut und Haaren”, erfüllt ihre Gefühle und ihr Denken – Lernen mit “Pathos” und Leidenschaft (gegen kognitive Einseitigkeit)
  2. Lernen vollzieht sich in realen Situationen, Lernen am Ernstfall schafft eine hohe Verbindlichkeit und verlangt Verantwortungsübernahme (gegen simuliertes schulisches Lernen auf Probe)
  3. Lernen vollzieht sich an den Orten des gelebten Lebens, schafft Orientierung im konkreten “Lebensraum” (statt im geschützten Lernraum).

Die vollzogene Lernbewegung lässt sich auf der prozessualen Ebene idealtypisch und schematisch so darstellen:

Prozessuale Strukturelemente diakonischen Lernens nach dem Konzept des situierten Lernens

Ebenen

kommunikativer Modus

Aktivität

handlungsbezogen-affektiv

„periphere Partizipation“ Handeln
„situieren“ ([an]ordnen

Wahrnehmen, beobachten,„da-sein“, reagieren, ansprechen, trösten, berühren, beraten, unter die Arme greifen, Worte finden
(Glückwunsch, Hoffnung, Trost)

kognitiv/affektiv

kommunizieren

„talking in“ / „talking about“, erzählen, miteinander sprechen, teilhaben lassen

kognitiv

reflektieren
(„Reframing“, Wazlawick)

„anders sehen“ – Bilder, Vorurteile, „befragen“, Sichtwechsel wagen,  Anfragen an Bilder meiner selbst und der Welt zulassen

spirituell

reflektieren- theologisieren

Umgang mit der (Lebens-)Zeit; was bleibt wichtig, wenn alles unwichtig wird? Tod – eine Lebensfrage?
Glauben, dass ...? Hoffen auf ...? Was ist christlich?

integrativ

transferieren

Selbstbild und Weltbild an neue Erfahrungen „andocken“

Der fett gesetzte Kasten konkretisiert, was die EKD die “Sensibilisierung für ethische Fragen” und die “Offenheit für letzte Fragen” nennt. Ich nehme eine Antwort auf den letzten Gliederungspunkt vorweg mit der These, die besondere Chance des Konfirmandenunterrichts könne darin bestehen, in der spirituellen Dimension den Fluchtpunkt ihrer diakonischen Lernangebote zu sehen. Sie stellen einen unschätzbaren Fundus an Erlebnissen und Erfahrungen bereit, um mit Jugendlichen über ihre religiösen Fragen nachzudenken, mit ihnen zu “theologisieren”.

Die Befunde aus der Projektbegleitforschung haben überraschend aufschlussreiche und ermutigende Ergebnisse über das Lernpotenzial dieses Bildungsansatzes erbracht. Ich nenne nur einige wenige:

  • als Person wichtig zu sein, akzeptiert und gebraucht zu werden,
  • gesehen zu haben, dass Leben auch ganz anders sein kann,
  • Einblicke in den Alltag von Menschen in schwierigen Lebenslagen gewonnen zu haben, aufmerksam geworden zu sein für soziale Problemlagen und Hilfen, bisherige Urteile zu überdenken,
  • in einem ungewöhnlichen, auch problematischen Umfeld sich zurechtgefunden, größere Verhaltenssicherheit erlangt und eigene Schwächen und Grenzen erfahren zu haben,
  • wichtige Anstöße erhalten zu haben zum Nachdenken über das eigene Leben.22

 

Diakonisch-soziales Lernen in der Schule boomt – diakonisches Lernen nun auch mit Konfirmandinnen und Konfirmanden, weil es “in” ist?

Diakonisches Lernen hat in gut einem Jahrzehnt eine glänzende Akzeptanz- und Verbreitungskarriere hinter sich gebracht. Es gibt eine unübersichtlich gewordene Vielfalt an Initiativen und Projekten in (vermutlich) allen Landeskirchen. Die Diakonie Hannover hat 2007 ein Pilotprojekt abgeschlossen, nachdem die Konföderation schon 2005/ 2006 den landesweiten Schülerwettbewerb zum Thema Diakonie ausgeschrieben hat.23 In Hamburg, in der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau und neuerdings in Berlin erleichtert ein virtueller Atlas den Überblick über das Angebot an außerschulischen, religiös-diakonischen Lernorten.

Einen Innovationspreis kann der Konfirmandenunterricht nicht mehr gewinnen, wenn er auf diesen Zug aufspringt.

Eine deutliche Tendenz geht inzwischen dahin, diakonische Praktika curricular fest zu etablieren oder “Diakonie” gar als Fach einzurichten wie zuerst am Schulzentrum Michelbach (BaWü seit 1996/97).24 In Baden-Württemberg sind Praktika im Rahmen des “Themenorientierten Projekts Soziales Engagement” für Realschulklassen 5 bis 10 seit 2004 verbindlich. Die Kirche und Diakonie Berlin-Brandenburg hat im Schuljahr 2006/07 nachgezogen.

Zumindest die Freiwilligkeit des diakonischen Lernens könnte auf diesem Wege Schaden nehmen – oder wird dem o.g. innovativen Lernkonzept die Spitze abgebrochen, wenn diakonisches Lernen ins Korsett schulischer Bildungsstandards und Kompetenzmodelle eingeschnürt wird – mit Ziffernoten und verbalen Beurteilungen wie in Baden-Württemberg?

Vielleicht liegt hier die erste Chance des Konfirmandenunterricht: die Freiheit diakonischer Lernangebote gegen ihre Verschulung zu retten.

Eine zweite Chance, über die wir diskutieren könnten, wären (im Zuge der Schulautonomie und Ganztagsschulentwicklung!) Grenzöffnungen und Anbahnung von Kooperationen zwischen Schule, Gemeinde, Konfirmandenunterricht. Die alten Arbeitsteilungen sind passé. Einer Neubelebung der Gedanken von Nachbarschaftsschule und dem Lebensraum Schule sollte sich die Gemeinde nicht verschließen.

Eine dritte Chance war oben schon angesprochen: Wenn wir lernen würden, die religiösen Fragehaltungen und Vorstellungen von Kindern und Jugendlichen, wie sie sich in und nach einem diakonischen Praktikum darstellen, so professionell zu interpretieren und zu kommunizieren, wie wir einen biblischen Text auslegen (die RU Denkschrift “Identität und Verständigung” von 1994, S. 28), käme der Konfirmandenunterricht jenem Lernen näher, das diakonische Bildung auszeichnen soll: leidenschaftliche, am Leben geerdete Auseinandersetzung.

Die Erwartungen an diakonisches Lernen wären dann nicht zuerst auf der Ebene von Lernzielen und einem Katalog von Kompetenzen abzubilden, sondern grundlegend und fundamental in einer neuen Fragwürdigkeit der Wahrnehmung von Wirklichkeit. Die Vorstellung von der Wirklichkeit als einer riesigen ebay-Tauschbörse mit der Devise “drei-zwei-eins-meins” ist ein reduktionistisches Konstrukt. Die Warenwelt ist nicht die einzige und nicht die wahre Welt. Es gibt in ihr – und zwar auf der Mikro-, Meso- und Makroebene – intuitive Beziehungs- und Kommunikationsformen, die sich auf Vertrauen, Angewiesenheit und Fürsorge verlassen, und dies in einem Ausmaß, dass der Einzelne und die Gesellschaft als Ganze nicht einen Tag gut ohne sie auskommen könnten – obwohl die “säkulare Gesellschaft jene Verhaltensweisen nicht erzeugt, die sie dringend braucht.”25

Zugespitzt ließe sich daher sagen: Diakonisches Lernen ist im Kern praktizierte Religionskritik an einer Wirtschaftsform, die sich sakrosankt und absolut setzt, weil sie sich alternativlos gibt, Kritik an einer “gnadenlosen Rivalitätskultur” (H.E. Richter), die zurückfällt in das evolutionäre Selektionsprinzip vom Recht des Stärkeren, dem “survival of the fittest”, gegen das der Gott Jesu Protest eingelegt hat. Er ist aktueller denn je.

 

Anmerkungen

  1. Vortragsfassung für eine Fortbildung im RPI Loccum.
  2. Dietrich Bonhoeffer, Tegel 18.7.44, in: Widerstand und Ergebung, München 1970, S. 395.
  3. Lothar Kuld: Die Suche nach eigenem Leben. Wertorientierungen Jugendlicher und der Anspruch der Tora, ru. Ökumenische Zeitschrift für den Religionsunterricht 27. Jg. , H. 2 1997, 49-54, hier: 49.
  4. Ulrich Beck / Elisabeth Beck-Gensheim (Hg.): Riskante Freiheiten. Frankfurt am Main 1994, 14.
  5. Reinhart Lempp: Die autistische Gesellschaft. Geht die Verantwortung für andere verloren? München 1996.
  6. Heiner Keupp: Zerstört Individualisierung die Solidarität? Warnung vor repressiven Lösungen, in: Mathias Fechter (Hg.): Mut zur Politik. Gemeinsinn und politische Verantwortung, Frankfurt am Main 1995, S.9-45.
  7. Ulrich Beck, a.a.O., 41.
  8. L. Kuld/ S. Gönnheimer: Compassion – sozialverpflichtetes Lernen und Handeln, Stuttgart 2000, 7ff.
  9. Rainer Starck: Diakonisches Lernen in der Konfirmandenarbeit, in: G. Adam/ H. Hanisch/ H. Schmidt/ R. Zitt (Hg.): Unterwegs zu einer Kultur des Helfens. Handbuch des diakonisch-sozialen Lernens, Stuttgart 2006, 309-319, hier: 314.
  10. Einen modifizierten, diskussionswürdigen Ansatz verfolgen Werner Tzscheetzsch und Petra Wittmann, die im alltäglichen schulischen Betrieb diakonische Lernmöglichkeiten für eine “Kultur des Wahrnehmens und Nachfragens” entdecken (Was soll ich dir tun? Diakonisches Lernen – (nicht nur) im Religionsunterricht, in: entwurf 1/2009, 32-36).
  11. L. Kuld / S. Gönnheimer: Wissenschaftliche Evaluation des Modellversuchs, in: J.B. Metz/ L. Kuld/ A. Weisbrod: Compassion. Weltprogramm des Christentums. Soziale Verantwortung lernen, Freiburg i.Bsg. 2000, 122.
  12. vgl. H. Rupp/A. Knapp/ Chr. Dammann: Diakonisch-soziales Lernen, Service Learning und gesellschaftliche Verantwortung, in: G. Adam/ H. Hanisch/ H. Schmidt/ R. Zitt (Hg.): Unterwegs zu einer Kultur des Helfens. Handbuch des diakonisch-sozialen Lernens, Stuttgart 2006, 56-79, hier: 59.
  13. Aus moralpsychologischer Sicht bewegen sich diese Jugendlichen innerhalb einer “konventionellen Moral”, die eine Solidarität und Fürsorge für Schwächere durchaus einschließt.
  14. vgl. H. Rupp/A. Knapp/ Chr. Dammann: Diakonisch-soziales Lernen., a.a.O.
  15. Lars Charbonnier / Karin Borck: Ist Diakonie lernbar? Ein Erfahrungsbericht aus Berlin-Brandenburg, in: Loccumer Pelikan 2/08, 71-74.
  16. L. Kuld / S. Gönnheimer: Wissenschaftliche Evaluation des Modellversuchs, in: J.B. Metz/ L. Kuld/ A. Weisbrod: Compassion. Weltprogramm des Christentums. Soziale Verantwortung lernen, Freiburg i.Bsg. 2000, 131.
  17. L. Kuld / S. Gönnheimer: Wissenschaftliche Evaluation des Modellversuchs, a.a.O., 131-134.
  18. Vgl. Helmut Hanisch: Diakonisch-soziales Lernen als Impuls zur Persönlichkeitsentwicklung, in: Unterwegs zu einer Kultur des Helfens, a.a.O., 43-55.
  19. L. Kuld / S. Gönnheimer: Wissenschaftliche Evaluation des Modellversuchs, a.a.O., 134 – 137.
  20. Vgl. K.E. Nipkow: Diakonische Bildung und biblische Mitte. Zur Tiefengrammatik der Bildungsmetaphorik, in: Unterwegs zu einer Kultur des Helfens, a.a.O., 15-32.
  21. Vgl. Helmut Hanisch: Diakonisch-soziales Lernen als Impuls zur Persönlichkeitsentwicklung, in: Unterwegs zu einer Kultur des Helfens, a.a.O., 43-55.
  22. Vgl. G. Adam: Didaktische Kriterien und Formate diakonisch-sozialen Lernens, in: G. Adam/ H. Hanisch/ H. Schmidt/ R. Zitt (Hg.): Unterwegs zu einer Kultur des Helfens, a.a.O., 80-93, hier: 81f.
  23. Vgl. B. Husmann: Projekt Diakonie. Ausschreibung für den Landesschülerwettbewerb im Schuljahr 2005/2006, in: Loccumer Pelikan 2/05, 84ff.
  24. Vgl. R. Gronbach: Diakonisch-soziales Lernen: Ein Curriculum (Das Michelbacher Modell), in: Unterwegs zu einer Kultur des Helfens, a.a.O., 94-114.
  25. G. Schmidtchen: Ethik und Protest. Moralbilder und Wertkonflikte junger Menschen

Text erschienen im Loccumer Pelikan 2/2009

PDF