Erinnerung, Übergang, Unterbrechung

von Silke Leonhard

Überlegungen zur Bedeutung von Zeit in schulischen Gottesdiensten und religiösen Feiern1

Das öffentliche Schulsystem ist säkular geprägt. In der Neuzeit schreiben öffentliche Schulen keine religiösen Feiern vor – sie sind von der kirchlichen Schulaufsicht befreit, und religiöse Feiern haben teilweise ihre Plausibilität im schulischen Kontext verloren. Dennoch werden in vielen Schulen Gottesdienste und religiöse Feiern als Teil der Schulkultur begangen und akzeptiert. Diese Gottesdienste sind Anlässe, in denen religiöse und säkulare Zeiterfahrungen und Zeitdeutungen zusammenkommen. Das lässt Neugierige fragen: Wie gehen Schulen in Gottesdiensten und religiöse Feiern mit der schulischen und religiösen Zeit um, und welche Bedeutung können diese gewinnen?

1. Zeit und Schule

In der Schule zu sein bedeutet, in einen besonderen Zeitrahmen eingebunden zu sein. Die Schule misst die tägliche Zeit mit unterschiedlichen Rhythmen.2 Die Uhrzeit ist entscheidend für die Ordnung des Schullebens. Über das Verstreichen von Minuten und Stunden hinaus gibt es jedoch mindestens drei umfassendere Zeitkonzepte, mit denen die Schule funktional arbeitet und die in den folgenden Abschnitten auf- gegriffen werden: Übergang, Erinnerung und Unterbrechung.

Übergang: Umgang mit linearer Zeit

Die Schulzeit ist ein – langer! – Lebensabschnitt innerhalb einer Biografie; sie umfasst in der Regel die Zeit des Übergangs von der Kindheit zum Erwachsensein.

Dieser Weg als Übergang vom Kindsein über Jugendzeit zum Erwachsensein hat individuelle Aspekte der Identitätsbildung und trägt darüber hinaus zu einer gesellschaftlichen Entwicklung bei. Hierin zeigen sich Bestrebungen für eine Bildung, die sich auf ein lineares Zeitkonzept stützen, welches Entwicklung fortschreitend nach vorn denkt.

Erinnerung und Erneuerung: zyklische Zeit und Übertragung des kulturellen Gedächtnisses

Zeit in der Schule umfasst Rhythmen: den Rhythmus eines Schuljahres und die Struktur der verschiedenen Zeitformen innerhalb dieses Jahres. Neben der linearen Zeit der individuellen Entwicklung, der gesellschaftlichen Veränderung und des Übergangs spielt die zyklische Zeit der Wiederholung und Erneuerung eine Rolle.

Das Muster von Wiederholung findet sich z.B. in den Inhalten der (oft spiralcurricularen) Schullehrpläne, in den Kerncurricula wieder. Lehren und Lernen erfordern von Schüler*innen wie Lehrkräften, dass sie sich an historische Prozesse, Ereignisse, wichtige Personen und Kultur erinnern. Kulturelle Fächer wie Kunst, Musik und Deutsch etc. sind Hüter der Traditionen einer Gesellschaft; sie bewahren diese im Interesse, diese als Teile eines kulturellen Gedächtnisses3 in die Zukunft weiterzutragen.

Störung und Unterbrechung

In die Normalität des Schulalltags können pathische, d.h. emotionsgeladene Ereignisse einfallen, die dessen Rhythmus unterbrechen. Gegenüber klassischen Unterrichtsstörungen sind einige von ihnen wie z.B. persönliche Unfälle und Todesfälle radikale Beispiele. Sie werden wegen der großen Ungewissheit, die damit verbunden ist, als unvorhersehbare, unverfügbare Ereignisse wahrgenommen. In anderen Fällen (z. B. wie bei der Bewegung „Fridays for the Future”, die sich gegen den Klimawandel richtet und zu Jugendstreiks aufruft) kann die Störung des Schulalltags von einzelnen Initiatoren außerhalb der Schulgemeinschaft ausgehen und gesellschaftlichen, politischen Interessen folgen. Es hängt von der Kontextualisierung auch in Bezug auf Zukunft ab, ob solche Unterbrechungen negativ als Störungen verbucht werden oder letztlich auch bei manchem Leid, das damit verbunden wird, resonanzorientiert aufgegriffen werden als zur Schule zugehöriges Moment, das auch Wertvolles mit sich bringen könnte.

Unterbrechung: Resonanzen auf Ereignisse im Leben der Schule und Schulgemeinschaft

Im Blick auf die allgemeine Zeitdynamik von Schule ist sichtbar, dass Bildung zwischen verschiedenen Beziehungen zu Vergangenheit und Zukunft stattfindet. Die linearen Elemente von Übergangsprozessen und der zirkuläre Erinnerungsprozess überschneiden sich und scheinen das Schulleben in einem zuverlässigen Rhythmus von Kontinuität und Erneuerung zu gestalten.

Irritationen sind Reaktionen der Schulen auf Ereignisse im Leben von Schule, Gemeinschaft, Gesellschaft und Nation. Ein resonantes Zeitverständnis bedeutet, über die kontinuierlich laufende, aber auch die sich verändernde Zeit zwischen vergangenen und zukünftigen Aspekten nachzudenken. Es liegt auf der Hand, dass auf solche Ereignisse im Leben der Schule wie auch in der Gemeinschaft, Gesellschaft und im Land reagiert werden muss. Eine achtsame schulische Bildung würdigt Wagnisse des Unvorhersehbaren als „beautiful risks“4, gewährt Bildung für ein zukünftiges Leben in der Würdigung und Vorbereitung auf Unterbrechungen und das Erlernen des Umgangs mit ihnen.

2. Zeit und Religion

Erinnerung (zyklische Zeit)

In der modernen und postmodernen Ära ist das christliche Verständnis von Zeit in gewisser Weise mit einer zyklischen Zeit verbunden. Greifbar bleibt es im Kirchenjahr und der jährlichen Wiederholung der christlichen Geschichte durch kirchliche Jahreszeiten hindurch – z.B. im evangelischen Kalender Advent, Weihnachten, Fastenzeit, Ostern, Himmelfahrt und Pfingsten usw.

Wir finden die Grundlagen der zyklischen Zeit in Mythen und biblischen Erzählungen: Das Erzählen und Hören von Geschichten ruft sie immer wieder aus der Vergangenheit in die Gegenwart zurück. Das Erinnern an die Geschichten und Erzählungen in den Rhythmen der Tradition bedeutet christlicherseits eine Art wiederholtes Wiederaufgreifen eines anderen Lebensrhythmus. In verschiedener Hinsicht gibt es Parallelen zwischen christlichen Erinnerungsmustern und spiralförmigen Lernmethoden in der Bildung.

Übergang (lineare Zeit)

Die christliche Lebensweise geht mit einer linearen und begrenzten Zeit einher, die als ein Lebensweg erlebt und gestaltet wird, der mit dem sakramentalen Akt der Taufe und dem Erfahren der Zugehörigkeit zu Gott und der Gemeinschaft eingeleitet wird. Auf diesem Lebensweg sind andere (teilweise sakramentale) Rituale und symbolische Handlungen Wegmarken. Viele Christ*innen nehmen an Ritualen wie Konfirmation teil, feiern Hochzeiten und lassen sich am Ende des Lebens bestatten. All diese Schritte auf dem Weg sind Zeichen dafür, dass das Leben des Einzelnen Teil der Kraft eines ewigen Lebens ist, das außerhalb der Zeit liegt und eingebettet ist in das ganz Andere der Zeit.

Zur christlichen Haltung gehört das Bewusstsein, nicht perfekt zu sein – ebenso die Hoffnung und das Vertrauen auf Erlösung, Befreiung und Versöhnung in einer auf Zukunft ausgerichteten Lebensweise. Die christliche Hoffnung auf Auferstehung ist eine Haltung des Vertrauens auf eine Begegnung mit Gott im Licht der Auferstehung Jesu Christi und mit Blick auf den Eintritt in das ewige Leben.5

Unterbrechung (kontinuierliche Zeit)

Unsere Lebenserfahrung lehrt uns allermeist, dass das Leben nicht nur ein fortlaufender oder sich wiederholender Prozess ist. Es gibt Unterbrechungen im Leben, die als schmerzhafte Einbrüche erlebt werden, wie z.B. Krankheit und Tod. Und es gibt auch „Passionate Involvements“ (leidenschaftliches Ergreifen, das zu Ergriffenheit führt), welche als einschneidende Elemente mit den Auswirkungen eines neuen Impulses oder einer neuen Ordnung zu sehen sind, die weder (menschlich) geplant noch erwartet wurde. Fundamentalchristliche Gruppen verstehen zeitliche Unterbrechungen (Katastrophen und Überraschungen) als vorherbestimmte Handlungen Gottes; moderne Theolog*innen hingegen halten Unterbrechungen für Herausforderungen des Lebens und Glaubens, die Leidenschaft und Mut erfordern und nicht nur Gott, sondern auch den Menschen in die Verantwortung nehmen. Dahinter steht das Lebens- und Zeitverständnis von Johann Baptist Metz, das in seiner Theologie wurzelt: Wenn die Religion ihre Aufgabe erfüllt, fungiert sie als Unterbrechung.6

Das ist nicht selbstverständlich: Der besondere Charakter des Sonntags in der Festpraxis, der historisch als wöchentlicher Erholungstag verstanden wird, wird zunehmend in Frage gestellt. Als Reaktion darauf betonen die Kirchen die Bedeutung eines rituellen Sonntags, der an den jüdischen Sabbat als Unterbrechung erinnert. Denn die Sabbatzeit ist eine besondere Zeit außerhalb der „normalen” Rhythmen.

3. Schulgottesdienste als Übergang, Erinnerung und Unterbrechung

Religiöse Feiern und Gottesdienste in der Schule. Hintergrund und aktuelle Praxis

Die Begehung von Gottesdiensten und religiösen Zeremonien in der Schule ist in deutschen Schulen aufgrund der rechtlichen Möglichkeiten der „res mixta”, einer besonderen Vereinbarung von Schule und Kirche in den meisten Bundesländern (GG Art. 141) möglich. Daher kann ein Schulgottesdienst auch innerhalb des säkularen Bildungssystems von einer Schule veranstaltet werden.

Entsprechend der abnehmenden Bindung an Kirche im Allgemeinen und dem Prozess der Marginalisierung des Faches Religion in der Schule im Besonderen sind die Akzeptanz des Religionsunterrichts in der Schule und die Kooperationen zwischen Kirche und Schule mit Blick auf Zukunft nicht selbstverständlich. Zu mancher Überraschung ist deutlich geworden, dass für manche Menschen rituelle Kasualfeiern wie die Einschulungsfeier und das Gebet im schulischen Rahmen genauso wichtig sind wie die religiösen Rituale zu Weihnachten und vergleichbar häufiger besucht werden als die Gottesdienste am Heiligen Abend.7 Je säkularer das Personal an der Schule ist, desto relevanter sind die Gottesdienste und Rituale, die einen direkten Bezug zum Leben der Schüler*innen haben.

Exemplarische religiöse Schulfeiern im Licht der Zeitwahrnehmung

Kasualfeier des ersten Schultages und des Schulabschlusses: Lineare Übergangsrituale zu Beginn und Ende des Schuljahres

In einer Grundschule beginnt der erste Tag nach den Sommerferien mit einer gemeinsamen Einschulungsfeier. Alle Kinder sitzen in der Aula zusammen. Der Pastor beginnt mit der Begrüßung aller Kinder, Eltern und Gäste. Die Gruppe singt christliche Lieder zur Begrüßung. Mit Hilfe eines Storybag erzählen die Kinder die biblische Geschichte von Abrahams Aufbruch und seinem Segen; Drittklässler spielen Szenen zur Verdeutlichung der Handlung. Sie beten gemeinsam. Der Pastor gibt jedem und jeder der jungen Schüler*innen den Segen Gottes und wünscht ihnen den Start in einen geschützten Weg durch das Schulleben „unter Gottes Zelt”.

Für die Schulgemeinschaft beginnt gerade ein neues Schuljahr. Die Feier des Neuanfangs ist mit vielen Emotionen und körperlichen Aktionen verbunden, um das „Drama” eines neuen Jahres wieder in Gang zu setzen.

In ähnlicher Weise werden am Ende des Schuljahres Feiern begangen, wenn die Schule aus ist. Bevor die Schüler*innen ihre Zeugnisse erhalten, findet ein Gottesdienst statt. Der Pastor bzw. die Pastorin und die Lehrkräfte gratulieren den Absolvent*innen und überreichen ihnen gute (Segens-)Wünsche und kleine Geschenke. Sie betonen die Vorwärtsbewegung der Zeit, den Blick zurück auf den Schulbeginn – und den Blick nach vorne auf den Übergang, der neue biografische Schritte in der Welt verspricht. In beiden Begehungen wird die Zeit als linear, „wie die Zeit vergeht”, und als begrenzt hervorgehoben.

Arnold van Genneps Konzept der Passageriten8 verstärkt die Betonung jener liminalen Zeremonien, die dem Individuum helfen, durch verschiedene Lebensphasen zu wechseln.9 Es ist kein Zufall, dass das Singen eine Möglichkeit bietet, die wechselnden Gefühle zu kanalisieren; im Segen, im Gebet und in der Predigt helfen die Akteur*innen, eine alte biografische und soziale Situation in eine neue und offene zu überführen. Zudem wird die individuelle biografische Lebenszeit mit der Zeit Gottes in der Perspektive des Ewigen in Verbindung gebracht. Die kurze Zeit des Gottesdienstes ist ein religiöser Rahmen für die fragilen biografischen und schulischen Übergänge.

Weihnachtsfeier in der Schule: zyklische Erinnerung eines traditionellen religiösen Elements des kulturellen Gedächtnisses

Die Religionslehrkräfte einer weiterführenden Schule haben im Laufe der Jahre ein Ritual entwickelt: Jedes Jahr in der Adventszeit bereiten sie gemeinsam mit den Schüler*innen und in Zusammenarbeit mit Pastor*innen der Nachbargemeinde eine Weihnachtsfeier vor. In den letzten Unterrichtsstunden vor den Weihnachtsferien lädt die Schule die Schüler*innen und das Schulpersonal zu einer „Vor-Weihnachts-Feier” in die benachbarte Kirche ein. Drei Schüler, die in verschiedenen Ländern und Kulturen verwurzelt sind, greifen die Symbole und Rituale ihrer heimatlichen Weihnachts- und Chanukka-Traditionen wieder auf und zünden die Kerzen immer wieder in einer bestimmten Reihenfolge an.10 Der Schulchor singt alte Weihnachtslieder. Jedes Jahr inszenieren die Schüler*innen Szenen rund um eine der biblischen Weihnachtsgeschichten. Jedes Jahr halten sie eine selbst verfasste Predigt; aus verschiedenen schulischen Rollen werden Gebete gesprochen. Am Ende des Gottesdienstes singt die Gemeinde gemeinsam „Oh come, all ye faithful“ und auf Deutsch „Herbei, oh ihr Gläubigen“.

Für traditionell religiöse Menschen oder Gruppen, für Kirchen und für einige Schulen, die christlicher Kultur nahestehen, ist Advent eine besondere Zeit der Rückbesinnung auf das christliche Verständnis und die Theologie. Die Erinnerung gilt der Geschichte von Jesus Christus, der in die Welt kam und die Hoffnung auf Befreiung und Erlösung brachte.

Warum nehmen Schulen solche Weihnachtsfeiern auf, obwohl die Akzeptanz traditionell gelebter Religion geringer zu werden scheint? Für viele Gottesdienstbesucher*innen ist es eine gelegentliche, aber immer wiederkehrende Gelegenheit, sich als Teil eines umfassenderen Rituals zu fühlen, das einen dunklen Alltag durch Momente des Lichts verwandelt. Selbst solche, die sich nicht auf christliche Wurzeln berufen, sind sich einer besonderen Zeit der Erhellung bewusst, Eine Weihnachtsfeier in der Schule bringt die Gemeinschaft zusammen, um sich auf eine christliche Hoffnungsgeschichte als kulturelles Erbe zu besinnen und sich ihrer so bewusst gegenwärtig zu werden, auch wenn nicht alle einer Kirche angehören oder an Jesus Christus glauben. Religiös Erinnertes kommt in die schulische Gegenwart.

Trauerfeier in der Schule: Unterbrechung im Sinne symbolischer „Intermediate Care” nach Einbruchsituationen

Ein muslimischer Jugendlicher ist an den Folgen eines schweren Unfalls gestorben. Seine Mitschüler*innen sind schockiert, viele von ihnen trauern sehr. Die ganze Schule ist erschüttert. Während die Trauerfeier im Haus des Jungen stattfindet, bieten der Religionslehrer, ein Pfarrer und ein Imam eine interreligiöse Gedenkfeier in der Schule für alle an, die sich verabschieden wollen. Es bleibt nicht viel Zeit für die Vorbereitung, aber der Religionslehrer bittet die Mitschüler*innen, sich an ihre Erfahrungen mit dem Mitschüler zu erinnern. Während der Feier werden Gedenksplittertexte und Klagelieder vorgelesen, so dass Teile des verstorbenen Lebens in den Geschichten gegenwärtig werden und der Schüler in ihrem Gedenken porträtiert wird. Der Pastor liest einen biblischen Klagepsalm, der Imam rezitiert Sure 5,32. Die Jugendlichen zünden Kerzen für den Verstorbenen an, um ein wenig Hoffnung zu geben und diese zu spüren. Sie hören den Lieblingssong des Verstorbenen. Einen Moment lang herrscht Schweigen. Im stillsten Moment weinen einige Mädchen. Sie beten für ihn. Sie bitten um Segen.

Für einigen Wochen wird in der Aula eine Trauerecke eingerichtet, in der die Schüler*innen und Lehrkräfte einige Erinnerungen aufschreiben.

Passionate involvements wie diese unterbrechen den geregelten Ablauf und Rhythmus in der Schule. Ein „normaler” Unterricht der Lehrkräfte wie an anderen Tagen funktioniert nicht; die Atmosphäre ist von Traurigkeit und Ärger erfüllt. Die Gedenkfeier ist eine Art „Zwischenstation”, um in der schmerzhaften Zerrüttung auch das Positive zu sehen: Sie ruft die Jugendlichen dazu auf, ihre Gefühle zu teilen und standhaft zu bleiben, wenn sie orientierungslos sind. Für die Zeit der Feier versammelt sich die Gemeinschaft einer Klasse oder einer Schule, um gemeinsam zu trauern, und lässt Raum für individuelle Gefühle und Gedanken. Es gibt Konventionen für das Verhalten im Todesfall; Tränen sind erlaubt.
In dieser besonderen Weise ist die Trauerfeier für die Gedenkenden ein Übergang vom Leben zum Tod.

Passionate involvements erinnern die Gemeinschaft daran, dass eine individuelle Biografie kein kontinuierlicher Prozess ist, sondern eine fragmentarische Geschichte mit Stolpersteinen. In diesem darauf bezogenen außergewöhnlichen Ritual geht es um den Sinn, geduldig zu sein und lebendig zu bleiben, auch wenn es keinen Sinn in dem zu finden gibt, was in der Schule im engsten Umfeld geschieht. Es verwundert nicht und stützt dieses Verständnis, dass der unterbrechende Charakter von Trauerfeiern als Teil des Krisen- und Notfallmanagements im Sinne der Professionalisierung von Schulseelsorge und -beratung stark wahrgenommen wird.11

Zeit-bezogene Typologie von Schulgottesdiensten und religiösen Feiern

Die folgende (idealtypische) Typologie gibt einen Überblick darüber, wie die verschiedenen Arten von Schulgottesdiensten und -feiern einerseits mit Zeitaspekten in Lebenswelt und Schule und andererseits mit religiösen Aspekten der Zeit in Verbindung gebracht werden:

4. Schulgottesdienst und Kairos: sich dem Unvorhersehbaren stellen

Religiöse Feiern und ihre Liturgien können Unterbrechungen des normalen Schullebens sein; wenn sie den Blick auf das Leben transzendieren, können sie in gewisser Weise als heilsames Involvement wahrgenommen werden. Da die Beteiligten besonderen Wahrnehmungen und Berührungen ausgesetzt sind, müssen bei aller Freiwilligkeit der Teilnahme solche Prozesse sorgsam inszeniert und gestaltet werden.

Funktional betrachtet können sie das individuelle Engagement für die Schule verbessern, das soziale Lernen einer Gemeinschaft fördern und die Schulkultur bereichern. Als in Schulleben eingebundene und zugleich es unterbrechende Gestaltungen sind sie in sozialer und pädagogischer Hinsicht anderen Festen und Höhepunkten ähnlich, die das Schulleben unterbrechen, wie z.B. gelegentliche Ausstellungen oder Aufführungen. Das ungewiss Hereinbrechende inmitten von Routinen und gewohnten Rhythmen wahrzunehmen, bedeutet nicht nur, den Abstand zu beachten, sondern die pathische Dimension des Lebens zu respektieren und zu akzeptieren: Störungen haben Vorrang.12  Das lohnenswerte Wagnis der Schulgottesdienste ist die hoffnungsvolle Resonanz zwischen Leben und Religion gerade durch die Unterbrechung der beschleunigten Zeit.

Manchmal tragen gerade Unterbrechungen zu einem nachhaltigen Umgang mit Zeit bei. Die Kontingenz nicht des Unterrichts, sondern des Schulrhythmus kann auf die Zeit und den Raum für Begegnung mit besonderen, kairotischen Momenten übertragen werden. Wenn die Feiern den Kontext für solche kairotischen Momente bilden, heben sie biografische und existenzielle Dimensionen der Lebenswege junger Menschen heraus. Diese Momente können zwar nicht erzwungen werden, aber wenn Schüler*innen aktiv an religiösen Feiern beteiligt sind, können sie zu eigenen Punkten der Intensität kommen, sich öffnen für kairotische Momente der Freude, der Harmonie, des Friedens und des Glücks – aber auch, wie im Gedenkgottesdienst, für Trauer, Leid und Traurigkeit.

Die drei verschiedenen Anlässe der Schulgottesdienste zeigen, wie gerade das Unerwartete, die Ungewissheit, ja Unverfügbarkeit des Lebens ein grundlegender Kontext auch für Schule ist. Schulgottesdienste können persönliche, spirituelle und leibhaftige Wege der Überbrückung von Erinnerung, Gegenwart und Hoffnung expressiv wie impressiv betonen. Eine religionssensible und resonanzorientierte Schulkultur achtet auf den Umgang mit diesen Dimensionen von Zeit.

Um die (inter-)religiöse und (inter-)kulturelle Verständigung zu stärken, ist ein Religionsunterricht, der sich mit religiöser Praxis auseinandersetzt, sowohl für die Schüler*innen als auch für die Lehrkräfte der Schule unverzichtbar, um die Erinnerungs-, Übergangs- und Unterbrechungsdimensionen von Religion zu begreifen.

Anmerkungen

  1. Übersetzter, gekürzter und leicht veränderter Abdruck des Aufsatzes Recollection, Transition, Interruption. The Temporal Impact of Religious Celebrations in the Public School System, in: Ter Avest / Bakker / Ipgrave / Leonhard / Schreiner, Facing the Unknown Future, 165-181.
  2. Diskussionen zur Rhythmisierung von Unterricht z.B. sind Symptom pädagogischer Diskussion und Gestaltung.
  3. Vgl. Assmann, Das kulturelle Gedächtnis und die frühe Zivilisation.
  4. Vgl. Biesta, The beautiful risk of education.
  5. Der Spruch „Ewig währt am längsten“ ist eine Rückkehr der Ewigkeit zum Maß der irdischen Zeit.
  6. Metz, Glaube in Geschichte und Gesellschaft, 113.
  7. Vgl. Saß, Schulanfang und Gottesdienst.
  8. Vgl. Gennep, Übergangsriten.
  9. Vgl. Leonhard: Religionspädagogische Professionalität.
  10. Interreligiöse Bezüge werden schulisch vermutlich bei Kasualfeiern eher aufgenommen; hier wäre auch ein Traditionsbezug.
  11. Vgl. Comenius-Institut, Schulseelsorge.
  12. So lautet eine Maxime der humanistisch-psychologischen Ansatzes der Themenzentierten Interaktion (TZI) nach Ruth C. Cohn.
  13. Hier finden sich über zitierte Literatur hinaus auch Empfehlungen zum Weiterlesen.

Literatur13

  • Arnold, Jochen / Kraft, Friedhelm / Leonhard, Silke / Noß-Kolbe, Peter (Hg.): Gottesdienste und religiöse Feiern in der Schule, Hannover 2015
  • Assmann, Jan: Das kulturelle Gedächtnis und die frühe Zivilisation, Cambridge 2012
  • Biesta, Gert: The beauftiful risk of education, New York NY 2014
  • Bizer, Christoph: Schulzeit und Christuszeit. Ein religionspädagogisch-theologischer Essay, in: JRP 11 (1994), Neukirchen-Vluyn 1995, 129-144
  • Comenius-Institut (Hg.): Evangelische Schulseelsorge. Empirische Befunde und Perspektiven, Münster 2019
  • Gennep, Arnold van: Übergangsriten (frz. 1909), Frankfurt a. M. 1986
  • Gojny, Tanja: Art. Schulgottesdienste, in: WiReLex (2016), www.bibelwissenschaft.de/stichwort/ 100213/
  • Graupner, Richard: Der Gottesdienst als Ritual. Entdeckung, Kritik und Neukonzeption des Ritualbegriffs in der evangelischen Liturgik, Göttingen 2019
  • Helsper, Werner / Hörster, Rainer / Kade, Jochen (Hg.): Ungewissheit. Pädagogische Felder im Modernisierungsprozess, Weilerswist 2. Aufl. 2005
  • Jackelén, Antje: Zeit und Ewigkeit. Die Frage der Zeit in Kirche, Naturwissenschaft und Theologie, Neukirchen-Vluyn 2002
  • Leonhard, Silke: Religionspädagogische Professionalität. Eine empirisch-theologische Studie im Horizont des Pathischen, Göttingen 2018
  • Levinas, Emmanuel: Die Zeit und der Andere (1946-47) (übersetzt von R.A. Cohen), Pittsburgh PA 1987
  • Marquard, Odo: Moratorium des Alltages. Eine kleine Philosophie des Festes, in: Walter Haug / Rainer Warning (Hg): Das Fest, München 1989, 684-691
  • Metz, Johannes Baptist: Glaube in Geschichte und Gesellschaft. Studien zu einer praktischen Fundamentaltheologie, Mainz 1977
  • Metz, Johann Baptist: Memoria passionis. Ein provozierendes Gedächtnis in pluralistischer Gesellschaft, Freiburg 2006
  • Rosa, Hartmut: Resonanz. Eine Soziologie des Verhältnisses zur Welt, Frankfurt a. M. 2019
  • Saß, Marcell: Schulanfang und Gottesdienst. Religionspädagogische Studien zur Feierpraxis im Kontext der Einschulung, Leipzig 2010
  • Schröder, Bernd: Religion im Schulleben. Christliche Präsenz nicht allein im Religionsunterricht, Neukirchen-Vluyn 2006
  • Steffensky, Fulbert: Schwarzbrot-Spiritualität, München 2006
  • Stock, Konrad: Zeit und Schöpfung, Gütersloh 1997
  • Ter Avest, Ina / Bakker, Cok / Ipgrave, Julia / Leonhard, Silke / Schreiner, Peter (Hg.): Facing the Unknown Future. Religion und Education in the Move, Münster 2020
  • Waldenfels, Bernhard: Ortsverschiebungen, Zeitverschiebungen. Modi leibhaftiger Erfahrung, Frankfurt a. M. 2009
  • Zimmermann, Ruben u.a. (Hg.): Ethik der Zeit – Zeiten der Ethik. Ethische Temporalität in Antike und Christentum, Tübingen 2024