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Wie leben Menschen mit jüdischer Identität heute in Deutschland? – Eine jüdisch-liberale Stimme

Von Ursula Rudnick

 

Nachgefragt:

Wie leben Menschen ihre jüdische Identität heute in Deutschland? Was ist ihnen wichtig? Welche Erfahrungen haben Sie gemacht und machen sie heute als Jüd*innen in Deutschland?

Das wollten wir gerne wissen und haben deshalb nachgefragt: bei Menschen unterschiedlichen Alters und mit je ganz individuellen Erfahrungen und Perspektiven auf ihre jüdische Identität.

 

Ursula Rudnick im Gespräch mit Rabbinerin Dr. Ulrike Offenberg

Ursula Rudnick: Frau Dr. Offenberg, in welcher Gemeinde amtieren Sie und was charakterisiert diese Gemeinde?

Ulrike Offenberg: Ich arbeite in der Jüdischen Gemeinde Hameln. Das ist eine Gemeinde, die zu 90 bis 95 Prozent aus Menschen besteht, die aus der früheren Sowjetunion stammen. Nur ganz wenige Kinder sind hier geboren. Es ist eine Gemeinde, in der eigentlich niemand biografische Wurzeln in Hameln hat.

Ursula Rudnick: Was bedeutet das für die Gemeindearbeit?

Ulrike Offenberg: Es ist ein ständiges Übersetzen: zwischen den Sprachen, zwischen Deutsch und Russisch, zwischen Hebräisch und Deutsch, Hebräisch und Russisch. Das bezieht sich auf die normale Verständigung, aber auch das Übersetzen von Texten und von Kontexten. Der Großteil der Mitglieder ist nicht in enger Beziehung zum Judentum aufgewachsen. Denn in der Sowjetunion war Judentum verpönt und verboten. Wenn Leute zum Beispiel mit 50 Jahren zum ersten Mal in einem jüdischen Gottesdienst sitzen, dann gibt es viel zu erklären. Und wenn das auch noch eine biografische Anfrage ist: Wie, das soll jetzt mit mir zu tun haben? – dann sind sehr viel Brücken zu schlagen. Es sind religiöse Fragen, kulturelle Fragen und sehr persönliche Fragen von Identität. Es kommen auch materielle Fragen dazu: Wie kann ich mich in einem fremden Land integrieren? Wie kann ich meinen Lebensunterhalt verdienen? Was wird mit meinen Zeugnissen und Qualifikationen, die ich bisher in meinem Leben erworben habe? Es ist eine große Gemengelage.

Ursula Rudnick: Wo liegen die Schwerpunkte Ihrer Arbeit?

Ulrike Offenberg: Einmal in den Gottesdiensten: Ich will einen jüdischen Gottesdienst führen, der die Verbindung zur Tradition und zu anderen jüdischen Gemeinden weltweit wahrt. Gleichzeitig habe ich konkrete Menschen vor mir, die ich mit dieser Tradition ansprechen möchte. Ich kann also nicht nur Texte und Gebete runterrattern oder die Liturgie absingen, sondern muss auch sehr viel erklären, was jetzt gerade passiert und was dies mit den Menschen hier konkret zu tun hat. Meine Draschot, die Predigten, müssen darauf abgestellt sein, dass die biblischen Texte relevant für heutiges Leben werden. Und dann kommt hinzu, dass wir unsere Gottesdienste immer dreisprachig führen: Hebräisch, Deutsch und Russisch. Manchmal, wenn Gäste da sind, kommt noch Englisch oder eine andere Sprache hinzu.

Ursula Rudnick: Welche weiteren Schwerpunkte haben Sie noch?

Ulrike Offenberg: Unterricht für die Kinder. Ich muss mich darum kümmern, dass die Kinder überhaupt kommen. Gerade die zweite Generation, also die Elterngeneration, ist die, die dem Judentum am fernsten steht. Für die erste Generation der Migrant*innen ist die Gemeinde wichtig als eine Landsmannschaft und als ein sozialer Ort. Die zweite Generation braucht das nicht in demselben Maß. Sie ist beruflich integriert, spricht gut Deutsch und ist die Sandwich-Generation, die sich einerseits um die Eltern kümmern muss und andererseits mit den Kindern eingespannt ist. Sie legt sehr viel Wert darauf, dass die Kinder einen guten Start ins Leben bekommen, dass ihnen alle Aufstiegsmöglichkeiten offenstehen; und deshalb erhalten die Kinder, wenn nötig, Nachhilfe, aber auch Klavier-, Ballett-, Theater-, Sport- und Russisch-Unterricht, der für die eigene Identität wichtiger ist als Hebräisch.

Dann mache ich Bildungsarbeit innerhalb der Gemeinde – also Thoraunterricht, Religionsunterricht für Erwachsene. Es ist wichtig, die Gemeinde als einen sozialen Ort, als eine Art von Heimat zusammenzuhalten. Und das ist eine besondere Herausforderung, gerade jetzt in Corona-Zeiten.

Ursula Rudnick: Worin bestehen die Ziele Ihrer Arbeit?

Ulrike Offenberg: Dass die Menschen entdecken, dass das Judentum ihnen eine Lebenshilfe sein kann und sie daran festhalten. Das wird sicher nur bei einem kleinen Prozentsatz der Zuwanderer so sein. Es ist aber notwendig, um eine jüdische Zukunft hier aufzubauen. Es wird in einem sehr viel kleineren Maßstab weitergehen. Ich weiß nicht, welche Gemeindemodelle in der Zukunft möglich sein werden. Ob sich Gemeinden in kleinen Städten behaupten können oder ob es dann Regionalgemeinden geben wird. Das wird sich herausstellen. Es wird, denke ich, eher so eine von Art Cluster-Judentum geben. Nicht, dass eine Gemeinde vor Ort alle Bedürfnisse abdecken kann, religiös, sozial, kulturell, und ein sozialer Raum zu sein, sondern dass es sehr viel mehr überregionale Seminare, Gruppen und Zusammenkünfte geben wird, für die Kinderarbeit, für die Familien usw.

Ursula Rudnick: Und sicherlich spielen dabei digitale Angebote auch eine große Rolle?

Ulrike Offenberg: Was zunächst eingesetzt wurde, um den Ausfall von Gottesdiensten und Gemeindeaktivitäten zu überbrücken, ist nun eine eigenständige Aktivität geworden, in der ich eine Menge Chancen sehe. Gerade, weil es Menschen die Teilnahme ermöglicht, die aus verschiedenen Gründen sonst nicht kommen könnten – entweder, weil sie gar nicht vor Ort sind oder weil die Teilnahme mit Hin- und Rückweg eine sehr viel umfangreichere Aktivität ist, als eine oder anderthalb Stunden online zu gehen. Das lässt sich auch eher in einen Familienkontext einbinden. Natürlich ist da die Frage, was mit den Leuten ist, die digital nicht so fit sind. Ein paar haben wir schon fitter gemacht. Ich denke, dass die Digitalisierung auch die Altersgrenze der Berührungsängste nach oben hin verschiebt, aber alle erreichen wir eben nicht.

Ursula Rudnick: Sie sind eine liberale Rabbinerin und Sie haben auch einmal orthodox-jüdisch gelebt. Worin bestehen für Sie die Schönheit und die Stärke des orthodoxen Judentums und worin die Schönheit und die Stärke des liberalen Judentums?

Ulrike Offenberg: Das orthodoxe Judentum ist in der Lage, eine große innere Befriedigung durch ein sehr klares System von Regeln zu vermitteln. Fast immer ist klar, was richtig ist, was falsch, wie man sich richtig bewegt. Und selbst, wenn manche Regeln in der modernen Zeit herausfordernd sind, dann kann man es sportlich nehmen. Wenn man eine Anforderung bewältigt, dann gibt es ein Gefühl von Genugtuung. Andererseits gibt es dort viele Herausforderungen. Ich denke, gerade für Frauen wie mich, die in einer modernen westlichen Gesellschaft leben, die in ihrem bürgerlichen Leben Gleichberechtigung leben, in der Gemeinde aber einen Platz hinter der Mechiza, also hinter der Abtrennung in der Synagoge, zugewiesen bekommen, und praktisch in einem großen Bereich des Gemeindelebens nichts zu sagen haben. Und zwar nicht nur nichts zu sagen, sondern keinen Platz dort haben. Sobald jemand aus diesem traditionellen Rollenbild, auch dem heilen Familienbild, herausfällt, hat die Gemeinde Schwierigkeiten, so etwas zu umfassen.

Beim liberalen Judentum mag ich, dass diese Herausforderungen jeden Tag neu beantwortet werden müssen, dass auch im liberalen Judentum die Verbindung zwischen Tradition und modernem Leben manchmal ein Spagat ist, der mich aber nicht zerreißt, weil ich flexibler sein kann. Es kommt sehr viel mehr auf bewusste Entscheidungen an, wie ich jüdische Tradition aktuell machen möchte.

Ursula Rudnick: Wie sieht Ihre persönliche rituelle und spirituelle Praxis aus? Welche Gebote bereiten Ihnen eine besondere Freude? Was bedeutet Ihnen das Halten der Gebote?

Ulrike Offenberg: Ich lebe sehr genau nach dem jüdischen Kalender. Dieser Rhythmus des jüdischen Jahres und der jüdischen Woche ist mir sehr wichtig. Schabbat ist bei mir Schabbat. Der Tag unterscheidet sich sehr stark von den übrigen Wochentagen. Zwar nicht im orthodoxen Sinne – also ich benutze zum Beispiel Licht, also elektrische Geräte –, aber ich achte darauf, dass es kein Arbeitstag ist, sondern ein Tag der Ruhe, des Gebets, des Studiums, der Freundschaft und Familie, also, dass es ein anderer Tag ist. Das ist mir für meinen ganzen Lebensrhythmus wichtig. Ansonsten: Ich esse koscher, weil ich das für einen wichtigen kulturellen Aspekt des Judentums halte. Und bei all diesen Geboten ist es nicht so, dass ich denke: Oh, wenn ich die jetzt übertrete, dann trifft mich ein Blitz, die Strafe folgt auf dem Fuße.

Es ist mir bewusst, dass es eine Entscheidung von mir ist, in einem bestimmten Kontext zu leben. Zugehörigkeit hat auch etwas damit zu tun, dass man bestimmte gemeinschaftliche Praktiken für sich akzeptiert. Es gibt auch andere Lebensstile, aber für mich ist das so richtig. Und ansonsten habe ich oft große Freude bei jüdischen Ritualen zu entdecken, welch tiefe psychologische Bedeutung in rituellen Handlungen stecken kann, welch tiefe Weisheit sie in sich tragen, indem sie Ängste, Wünsche, Hoffnungen von Menschen aufnehmen und sie handhabbar machen.

Ursula Rudnick: Zur Auslegung der Bibel: Wie bereiten Sie sich auf eine Drascha oder eine Lernstunde vor? Wie gehen Sie vor? Welche Quellen bzw. Bücher, benutzen Sie dafür und was benutzen Sie gern?

Ulrike Offenberg: Der erste Schritt ist immer, den Text auf Hebräisch zu lesen. Es sind bei einer Parascha immer drei, vier, fünf Kapitel. Jedes Jahr fällt mir irgendetwas Neues auf und natürlich erscheinen manche Dinge durch die aktuelle Situation in einem anderen Licht. Bei Dingen, denen ich weiter nachgehen will, schaue ich mir Kommentare an, in der Regel erst einmal die klassischen Kommentare der sogenannten Rabbinerbibel, der Mikraot Gedolot, also hauptsächlich mittelalterliche Kommentare.1 Aber auch moderne Kommentare von Nechama Leibovitz2, viele israelische Quellen, Rabbiner Benny Lau oder die Webseite 9293, oder auch The Women‘s Torah Commentary4 . Also, das ist so Standard und dann gucke ich immer noch in andere. Daraus entwickle ich dann meine Gedanken und habe meine Leute in Hameln vor Augen. Im Grunde genommen ist die größte Aufgabe, die Leute mitzunehmen und ihnen zu zeigen, was eigentlich meine Fragen an diesen Text sind. Ich versuche, ihnen zu zeigen, wie ich mit einem Text umgehe und daraus Wegweisung finde.

Ursula Rudnick: Judentum ist auch Thema des christlichen Religionsunterrichtes. Wo sehen Sie Stolperfallen für christliche Religionslehrer*innen?

Ulrike Offenberg: Einige meiner Kinder aus Hameln besuchen den evangelischen oder katholischen Religionsunterricht und ich staune immer, wie gut sie die biblischen Geschichten kennen. Das erleichtert manches. Ich muss es dann natürlich in einen anderen Kontext stellen. Eine Falle ist vielleicht, dass wir einen riesengroßen Textkorpus von heiligen Schriften gemeinsam haben und aus christlicher Perspektive die Abgrenzung schwerfällt, dass biblische Geschichten der hebräischen Bibel entweder nur aus christologischer Perspektive erzählt werden oder sich jüdische Praktiken angeeignet werden, indem man z.B. einen Seder im Unterricht nachspielt und sagt, das sei das letzte Mahl Jesu gewesen. Es ist historisch falsch. Und es ist auch übergriffig zu sagen, wir können uns schnell die Rituale der anderen zu eigen machen und dann beleuchtet das unsere eigene Glaubenspraxis oder unsere religionswissenschaftlichen Kenntnisse. Ich denke, man kann andere Religionen nicht nach einem Drehbuch nachspielen, weil alles, was an Ritualen und Handlungen stattfindet, in einen sehr viel größeren Hintergrund eingebettet ist, von dem z.B. das Skript eines Seders zum Beispiel nur ein kleiner Ausschnitt ist. Und all das, was beim Seder passiert, die Aktualisierung eines religiösen Rituals in den biografischen und gemeinschaftlichen Kontext hinein, das kann nicht stattfinden.

Beim Seder geht es immer darum, nicht nur etwas nachzuerzählen, sondern es mit den eigenen Lebenserfahrungen zu verbinden. Nicht nur zu erzählen: Vor 3000 Jahren wurden die Israeliten aus Ägypten befreit, sondern sich selbst zu betrachten, als ob man selbst aus Ägypten herausgeführt wurde. Und dann ist die Frage: Was ist mein Ägypten gewesen? Und zwar nicht nur ein metaphysisches Ägypten von irgendwelchen Nöten und Ängsten, sondern auch: Was war meine jüdische Ägypten-Erfahrung? Und das hat für Leute, die selbst einen Exodus in ihrer Biografie haben, eine ganz andere Relevanz: Die ganzen Erinnerungen, wie das war bei der Polizei und beim Konsulat, die Ausreise zu beantragen und zu packen und alles hinter sich zu lassen. Das kann nicht nachgespielt werden. Wenn wir über verschiedene Speisen oder Gegenstände auf der Sederschüssel sprechen, die diese Momente von Knechtschaft und Befreiung und Erlösung symbolisieren, dann erkläre ich immer, Juden des 20. Jahrhunderts müssten auf ihre Sederschüssel auch einen Pass legen. Weil es oft so war, dass allein der Pass darüber entschied, ob man lebt oder nicht. Das kann man nicht einfach ersetzen, indem man Texte nachliest.

Ursula Rudnick: Welche Erwartungen haben Sie an evangelische und katholische Religionslehrer*innen, wenn Sie Judentum unterrichten oder auch wenn sie Christentum unterrichten?

Ulrike Offenberg: Das Positive an den falschen Ansätzen ist, dass da ein Wunsch und ein Wille zum Kennenlernen und zu Begegnungen ist. Und soweit jüdische Gemeinden es leisten können, sollten sie dafür einen Rahmen durch Führungen, Begegnungen und in kleiner Zahl auch die Teilnahme an Gottesdiensten schaffen. Die Gemeinden sind klein und wenn dann eine Gruppe von 20 Gästen kommt, geht das nicht, denn das überfremdet den ganzen Gottesdienst. Vieles an Lernen muss sicher in einer unpersönlichen Weise durch Bücher, durch Filme stattfinden. Das Beste ist, nach Israel zu fahren, weil man da jüdisches Leben in seiner Vielfalt erleben kann, widerspruchsvoll und ganz lebendig. Eine zwei-, dreiwöchige Israelreise kann hier drei Jahre Studium ersetzen.

Ursula Rudnick: Sie engagieren sich im interreligiösen Dialog. Was finden Sie daran wichtig? Was bereitet Ihnen Freude? Was frustriert Sie manchmal?

Ulrike Offenberg: Erstens finde ich es politisch-gesellschaftlich wichtig. Wir leben in einer offenen und pluralistischen Gesellschaft, das heißt, dass wir nicht nebeneinander her leben sollen. Jedem seine und ihre Identität lassen, aber auch mit einer gewissen Neugier darauf zu gehen: Was ist deine Wahrheit, woraus beziehst du deine Werte, deine Lebensmaximen? Das finde ich politisch und kulturell wichtig.

Wir stehen als Bürger*innen und auch als religiöse Menschen in dieser Gesellschaft oft gleichen Herausforderungen gegenüber. Das betrifft zum einen Säkularisierung: Wie können religiöse Werte in der Gesellschaft produktiv gelebt werden, ohne sie anderen aufzudrücken? Wo muss auch eine säkularisierte Gesellschaft erkennen, dass nicht Beliebigkeit das alleinige Dogma sein kann, sondern dass auch religiöse Werte ihren Platz und ihren Raum haben? Und das sind große, wichtige Diskussionen.
Jüngst hat der Europäische Gerichtshof einen Rechtsspruch gefällt, der jüdische und muslimische Schlachtpraktiken erheblich beeinträchtigt. Da muss man sehen, wie das zu handhaben ist, aber im Grunde genommen wurde der Wert des Tierwohls über jahrhunderte- und jahrtausendealte religiöse Praktiken gestellt, die in ihrer quantitativen Auswirkung lächerlich sind. Da ist viel Bigotterie dabei, dass religiöse Werte gegenüber vermeintlich humanistischen geringgeschätzt werden. – Wobei die nicht so humanistisch sind, denn gegen die Schlachthöfe geht man nicht so vor und da wird viel Tierquälerei praktiziert.

Oder die wiederkehrenden Diskussionen um Beschneidung oder das Ruhegebot an Feiertagen: Wie der Sonntag gefeiert wird oder nicht, betrifft natürlich Juden weniger, selbst, wenn der Schabbat die Wurzel dafür ist, aber Ladenöffnungszeiten sind wichtige Fragen, die nicht allein nach der Maxime entschieden werden können: Alle können nebeneinander her praktizieren, was sie wollen. Es gehen dann wichtige andere Werte verloren.

Das andere Thema sind Fragen des Fundamentalismus, damit haben alle Religionen zu tun. Fundamentalismus ist eine bewusste Gegenreaktion gegen eine moderne, offene Gesellschaft und beruft sich auf religiöse Quellen. Wir müssen schauen, wie wir diese Argumentation zurückweisen.

Ursula Rudnick: Wo sehen Sie gelungene Beispiele für christlich-jüdisches Miteinander?

Ulrike Offenberg: Wenn Schulklassen in eine Synagoge gehen und sich von Jüd*innen den Ort erklären lassen. Dass eine Lehrerin sich gegen die zeitlichen Zwänge des Lehrplans durchsetzt, denn dazu gehört immer eine Menge Vor- und Nacharbeit, das ist im Kleinen zu würdigen. Dann gibt es den Verein Begegnung Christen – Juden. Er macht eine sehr wertvolle, auch eine intellektuell anspruchsvolle Arbeit, da findet wirklich Begegnung statt. Dieses Projekt #jüdisch-beziehungsweise-christlich finde ich ganz großartig. Hier wird versucht, Gemeinsamkeiten zu entdecken, ohne Gleichsetzungen zu vollziehen. Hier wird Judentum nicht auf die drei immer gleichen Klischees reduziert. Als etwas, das nur an Gedenktagen stattfindet und Judentum auf die Schoah reduziert. Oder das Judentum unter dem Stichwort Israel mit entsprechenden negativen Konnotationen verhandelt. Oder eine chassidische Romantisierung vornimmt und Juden als tanzende Rebben mit Schläfenlocken, großen Hüten und langen Bärten darstellt. Nichts von den drei Klischees erfasst jüdisches Leben in Deutschland. Dagegen setzt #beziehungsweise den Ansatz: Lasst uns schauen, was ist uns wichtig, was ist euch wichtig, wie vollziehen wir Namensgebung, wie macht ihr das, was ist euch dabei wichtig? Gemeinsamkeiten zu entdecken, aber auch mit Interesse und Neugier auf die Unterschiede zu schauen.

Ursula Rudnick: Vielen Dank für das Gespräch, Frau Rabbinerin Dr. Offenberg!

Anmerkungen:

  1. Quelle: www.sefaria.org
  2. Quelle: www.nechama.org.il
  3. www.929.org.il
  4. The Torah. A Women’s Commentary, ed. by Tamara Cohn Eskenazi and Andrea L. Weiss, New York, 2008.