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gelesen: Martin Buber: Die Erzählungen der Chassidim

Von Kirsten Rabe

Der Chassidismus ist eine jüdische Frömmigkeitsbewegung, die im 18. Jahrhundert in Osteuropa entstand. Gründer der Bewegung ist Israel ben Elieser, der auch Baal-schem-tov genannt wird. Übersetzt bedeutet das „Meister des guten Namens“. Er erklärt, warum er eine neue jüdische Bewegung angestoßen habe: „Ich bin auf diese Welt gekommen, um einen anderen Weg zu zeigen, dass nämlich der Mensch sehe, diese drei Dinge zu erwerben: Liebe zu Gott, Liebe zu Israel und Liebe zur Tora – und man braucht sich nicht zu kasteien!“

Die Chassidim haben sich von ihren Zaddikim, den Anführern ihrer Gemeinschaften, zahlreiche Geschichten erzählt. Sie waren der Überzeugung, dass die Zaddikim etwas Heiliges und Göttliches in sich tragen, und dass das, was in den Geschichten erzählt wird, immer wieder lebendig wird, wenn sie von Generation zu Generation weitererzählt werden.

Der Geschichtenerzähler

Auf mannigfache Weise wird davon berichtet, wie der Baalschem Rabbi Jakob Jossef, den nachmaligen Raw von Polnoe, sich zum Schüler gewann. Wundergeschichten sind darunter, die bis zur Erweckung von Toten gehen. Ich erzähle hier aus einigen anderen Überlieferungen, die einander ergänzen.

Als Rabbi Jakob Jossef noch Raw in Szarygrod und dem chassidischen Weg sehr abhold war, kam einst in seine Stadt an einem Sommermorgen, um die Zeit, da man das Vieh auf die Weide trieb, ein Mann, den niemand kannte, und stellte sich mit seinem Wagen auf den Marktplatz.

Den Ersten, den er eine Kuh führen sah, rief er an und begann, ihm eine Geschichte zu erzählen, und sie gefiel ihrem Hörer so gut, dass er sich nicht losmachen konnte. Ein Zweiter griff im Vorbeigehen ein paar Worte auf, wollte weiter und vermochte es nicht, blieb stehen und lauschte. Bald war eine Schar um den Erzähler versammelt, und die wuchs noch stetig. Mittendrin stand der Bethausdiener, der auf dem Wege gewesen war, das Bethaus zu öffnen; denn um acht Uhr pflegte darin im Sommer der Raw zu beten, und rechtzeitig vorher, gegen sieben Uhr, musste es geöffnet werden.

Um acht Uhr kam der Raw ans Bethaus und fand es geschlossen; und da er von genaunehmerischem und aufbrausendem Gemüt war, zog er im Zorn aus, den Diener zu suchen. Schon aber stand der vor ihm; denn der Baalschem – er war der Erzähler – hatte ihm einen Wink gegeben, von dannen zu gehen, und er war gelaufen, das Bethaus zu öffnen. Der Raw fuhr ihn böse an und fragte, warum er seine Pflicht versäumt habe und warum die Männer fehlten, die sonst um diese Zeit schon da seien. Der Diener erzählte, wie er, so seien auch alle, die auf dem Weg zum Bethaus waren, von der großen Geschichte des Erzählers unwiderstehlich angezogen worden. Der zornige Raw war genötigt, das Morgengebet allein zu sprechen, dann aber befahl er dem Diener, sich auf den Markt zu begeben und den fremden Mann zu holen. „Den werd` ich verprügeln lassen!“, schrie er.

Indessen hatte der Baalschem seine Erzählung beendet und war in die Herberge gegangen. Dort fand ihn der Bethausdiener und richtete seinen Auftrag aus. Der Baalschem kam sogleich, seine Pfeife rauchend, und trat so vor den Raw. „Was fällt dir ein“, schrie der ihm entgegen, „die Leute vom Beten abzuhalten!“ – „Rabbi“, antwortete der Baalschem gelassen, „es frommt euch nicht, aufzubrausen. Lasst mich Euch lieber eine Geschichte erzählen.“ – „Was fällt dir ein!“, wollte der Raw ihn anschreien, dabei aber sah er ihn zum ersten Mal richtig an. Er sah zwar gleich wieder weg; aber das Wort war ihm in der Kehle stecken geblieben. Schon hatte der Baalschem zu erzählen begonnen, und der Raw musste nun lauschen wie alle.

„Ich bin einmal mit drei Pferden über Land gefahren“, erzählte der Baalschem, „einem Roten, einem Scheck und einem Schimmel. Und alle drei haben sie nicht wiehern können. Da ist mir ein Bauer entgegengekommen, der hat mir zugerufen: ‚Halt die Zügel locker!‘ So habe ich die Zügel gelockert. Und da haben sie alle drei zu wiehern angefangen.“

Der Raw schwieg betroffen. „Drei“, wiederholte der Baalschem, „Roter, Scheck, Schimmel, wiehern nicht, Bauer weiß Bescheid, Zügel lockern, wiehern auf!“ Der Raw schwieg gesenkten Hauptes. „Bauer gibt guten Rat“, sagte der Baalschem, „versteht Ihr?“ – „Ich verstehe, Rabbi“, antwortete der Raw und brach in Tränen aus. Er weinte und weinte und merkte, er hatte bis heute nicht verstanden, was das heißt: Ein Mensch kann weinen.

„Man muss dich erheben“, sagte der Baalschem. Der Raw sah zu ihm auf und sah ihn nicht mehr.

Martin Buber: Die Erzählungen der Chassidim.
© 1949, Manesse Verlag, Zürich, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, München

Zitiert nach Martin Buber: Die Erzählungen der Chassidim, Zürich 2014, ISBN 978-3-7175-2368-0, 120f.

Die Erzählungen der Chassidim, Manesse Verlag, Zürich 2014, ISBN 978-3-7175-2368-0, 120f