pelikan

Wie leben Menschen mit jüdischer Identität heute in Deutschland? – Eine liberal-säkulare Perspektive

Von Rodica Ball

 

Geboren bin ich am 24.12.1939 in einem christlichen Land: in Bukarest, der Hauptstadt Rumäniens. Dass ich Jüdin bin und was das bedeutet, kam nur langsam in mein Bewusstsein. Während des Krieges, wenn die Sirenen heulten, flüchtete ich zusammen mit meiner Mutter in den Keller eines Delikatessenladens in unserer Nachbarschaft. Es duftete nach geräuchertem Fleisch und eingelegtem Gemüse. Die Erwachsenen waren besorgt, aber sehr freundlich. Ich spielte mit den Kindern der Nachbarschaft, während mein Vater in einem rumänischen Arbeitslager war. Jeden Freitagabend, wenn mit dem Sonnenuntergang der Sabbat begann, leuchteten bei uns immer drei Kerzen. Meine Mutter sprach mit den Kerzen und am Ende brachte sie mir bei, „Git Schabes“ zu sagen. Ich wusste nicht, dass sie betet. Sie bestand auch nicht darauf, dass ich es ihr gleichtue. Am Abend las sie mir immer Geschichten mit Feen und Prinzen und Hexen vor. Dann fing sie an, mir Geschichten aus dem Alten Testament vorzulesen. So habe ich erfahren, dass es irgendwo einen Gott gibt, der alles weiß, der gut und mächtig ist und uns helfen wird. Im August 1944 kam mein Vater aus dem Arbeitslager nach Hause. Die Freude war unbeschreiblich, wir waren wieder eine Familie. Es waren die christlichen Freunde, die meinem Vater dabei halfen, im Leben wieder Fuß zu fassen.

Für mich kam die Zeit des Kindergartens. Meine Mutter begleitete meine Freundinnen und mich dorthin. Der Weg zum Kindergarten führte durch einen Kirchgarten. Meine beiden Freundinnen bekreuzigten sich. Als ich mich auch bekreuzigen wollte, reagierte meine Mutter sofort. „Du brauchst das nicht, wir sind doch Juden“, sagte sie. Im Herbst, als die jüdischen Feiertage kamen, ging ich mit meiner Mutter in die Synagoge. Es war sehr beeindruckend: die Farben, der Rabbiner, der Gesang, die Geräusche kamen mir vor wie ein Bienenstock. Ich fand es toll. Aber ich blieb nie lange, weil ich lieber wieder mit den Kindern spielen wollte. Zu Hause bei uns herrschte immer eine angenehme Atmosphäre: Freunde, Verwandte kamen und gingen. Am Freitagabend leuchteten zum Beginn des Sabbats immer die Kerzen. Das Haus war dann voll, und manchmal waren wir dabei die einzigen Juden. Über den Krieg wurde in meiner Gegenwart nicht gesprochen. Mit meinen Freundinnen von damals bin ich bis heute in Kontakt geblieben, und wir besuchen uns gegenseitig.

In der Schule begann ich allmählich zu verstehen, was im Krieg geschehen war. Es gab keinen Religionsunterricht, aber einen sehr guten Geschichtslehrer, der zufällig Jude war. Der führte uns von der griechischen Mythologie bis in die Gegenwart. So hörte ich zum ersten Mal vom Holocaust. 1948 entstand der Staat Israel, und viele Juden wollten deshalb Rumänien verlassen, doch es wurde nicht allen erlaubt. Mein Ehemann, unsere Tochter Catrin und ich sind dann 1970 nach Israel ausgewandert. Wir haben das Land schnell liebgewonnen, neue Freundschaften geschlossen. Wir sind von oben nach unten, von Westen nach Osten und umgekehrt gereist. Es war eine aufregende, interessante und turbulente Zeit. Nach dem Jom-Kippur-Krieg 1973 nahmen wir uns vor, eine zweijährige Pause einzulegen, um Europa kennenzulernen. So landeten wir in Hannover. Wir fanden schnell Jobs, eine schöne Wohnung und einen liebevollen Vermieter, den guten Onkel Bach. Mein Mann, der der deutschen Sprache mächtig war, brachte unsere Tochter am ersten Schultag zur Schule, die dort mit einem herzlichen Schalom empfangen wurde! Wir verreisten jedes Wochenende, weil wir in unserer Zeit in Deutschland möglichst vieles sehen wollten.

Eines Tages fragte mich der Onkel Bach: „Warum hetzen Sie so? Warum bleiben Sie nicht zu Hause?“ Zu Hause: ein großes Wort! Wir hatten gar nicht gemerkt, dass wir tatsächlich angekommen waren. Seitdem sind über 40 Jahre vergangen. Wir führen in Deutschland ein normales Leben. Wir haben jüdische und nichtjüdische Freunde. Bei der Hochzeit unserer Tochter waren viele Gäste dabei, die zum ersten Mal eine Synagoge betraten: Sie waren katholisch, evangelisch, auch eine große Gruppe fröhlicher und lustiger türkischer Mädchen war mit darunter. Es war einfach schön.

Ich empfinde es nicht als Makel, jüdisch zu sein, auch nicht als Tugend, sondern für mich ist es eine Selbstverständlichkeit, so wie ein Axiom für einen Mathematiker selbstverständlich ist. Ich behandle jeden Menschen mit Respekt und erwarte dasselbe. Ich möchte nicht nur einfach toleriert sein. Toleranz besteht nach meinem Verständnis nämlich aus Akzeptanz vermischt mit einer Viktimisierung. Nein, das brauche ich nicht. Wie schafft man eine Gesellschaft, in der allgemein gegenseitige Achtung herrscht, ohne in dem Gegenüber ein Opfer zu sehen? Ich glaube, alles beginnt mit einer liebevollen Erziehung. Dafür sind erst die Eltern gefragt, dann die Lehrer*innen. Für gläubige Menschen, egal welcher Religion, spielen die Kirche, die Synagoge oder die Moschee eine wichtige Rolle. Ich glaube, G‘tt verlangt auch Respekt.

Ich stelle mir ein Theaterstück vor mit dem Titel „J`accuse“. Man sieht G‘tt nicht, man hört ihn klagen: „Wer hat euch erlaubt, in meinem Namen solche Verbrechen zu begehen?“ (frei nach Greta). Was wir heute Verschwörungstheorien nennen, gab es schon immer, und die Ziele waren immer ähnlich: Eigene Interessen sollten durchgesetzt, Menschen auseinandergebracht und Schuldige gefunden werden. So ist auch der Antisemitismus entstanden, in der heutigen Zeit maskiert als „Israelkritik“. Man muss nicht mit der Politik von Netanyahu einverstanden sein, viele Israeli sind es auch nicht, aber zu schreiben: „Israel ist unser Unglück“, ist Hetze, die einseitig und gefährlich ist. Was Jüd*innen dagegen tun können? Romain Rolland schrieb: „Antisemitismus ist ein Problem der Christen und nicht der Juden.“ Inzwischen ist das Problem leider noch komplizierter geworden. Es ist normal, dass allen Jüd*innen die Existenz des Staates Israel wichtig ist, und eine Bewegung wie BDS wird als antisemitisch beurteilt. Wer in Israel einen Apartheidsstaat sieht, scheut die Realität. Es gibt nicht eine Fabrik, nicht ein Krankenhaus, nicht eine Apotheke, nicht ein Geschäft, in dem nicht Araber*innen zusammen mit Jüd*innen arbeiten. Natürlich gibt es auch Jüd*innen, die Vorurteile haben. Kein Mensch, keine Nation, keine Religion ist davor gefeit, aber Apartheid ist nicht die Politik Israels. Ich sehe im Antisemitismus eine Krankheit. Viele Menschen sind nicht therapierbar, aber die Kinder, die Jugendlichen haben Chancen, als freie, aufgeschlossene Menschen aufzuwachsen.

Ich bin Mitglied der Liberalen jüdischen Gemeinde. Zum Gottesdienst in die Synagoge gehe ich selten. An jüdischen Feiertagen gehe ich aber immer in die Synagoge, egal, wo ich gerade bin. Dann spüre ich bis heute in Erinnerung an meine Eltern, ihre Liebe und Fürsorge.