pelikan

Entwicklungen und Meilensteine des jüdisch-christlichen Dialogs

Von Jehoschua Ahrens

 

Eine jüdisch-orthodoxe Perspektive

Der jüdisch-christliche Dialog hat sich in den letzten 20 Jahren intensiviert, insbesondere auch von jüdisch-orthodoxer Seite. Ein Beispiel dafür sind die beiden internationalen jüdisch-orthodoxen Erklärungen „Den Willen unseres Vaters im Himmel tun: Hin zu einer Partnerschaft zwischen Juden und Christen“ (2015) und „Zwischen Jerusalem und Rom: Gedanken zu 50 Jahren Nostra Aetate“ (2017). Auch die EKD hat 2015 und 2016 mit Kundgebungen auf Luther und die sog. Judenmission reagiert. Doch wieso kam es gerade in den letzten Jahren zu dieser Intensivierung im jüdisch-evangelischen Verhältnis? Wie hat es sich entwickelt?


Historische Entwicklungen im christlich-jüdischen Dialog

Die Position des Judentums zum Christentum heute – wie sie u.a. in den oben genannten Erklärungen abgebildet ist – ist das Ergebnis einer Entwicklung und Erfahrung von nicht weniger als 200 bis 250 Jahren. Tatsächlich kamen die Dialogbemühungen in den letzten zwei Jahrhunderten zumeist von jüdischer Seite, nicht vom Christentum. In der Zeit der Aufklärung und Emanzipation keimte auf jüdischer Seite die Hoffnung, dass sich Jüd*innen und Christ*innen nicht nur staatsbürgerlich, sondern auch religiös annähern und schließlich gleichgestellte Partner sein könnten.

Beispielhaft hervorheben möchte ich Rabbiner Jacob Emden, die rabbinische Autorität im Deutschland und Europa des 18. Jahrhunderts, der in einem Sendschreiben (Seder Olam Rabba) das Christentum religionsrechtlich sehr positiv bewertete und Christen schon in dieser Zeit als Brüder bezeichnete, die zum himmlischen Wohl arbeiteten und denen die Belohnung nicht verwehrt würde. Rabbiner David Zvi Hoffmann warb im 19. Jahrhundert (in seinem Werk „Der Schulchan Aruch und die Rabbinen über das Verhältnis zu Andersgläubigen“) für ein Miteinander von jüdischen und „christlichen Mitbürgern“ und wies den Vorwurf, dass Christ*innen seien aus jüdischer Sicht Götzendiener, scharf zurück.

Schließlich Rabbiner Samson Raphael Hirsch: Er träumte, ebenfalls im 19. Jahrhundert, von einer Symbiose von Deutschtum und Judentum und stellte Christ*innen in allen Belangen auf eine Stufe mit Jüd*innen, auch in Bezug auf das Recht auf „aktive, brüderliche Liebe“ (in „Beziehungen des Talmud zum Judentum und zu der sozialen Stellung seiner Bekenner”). 

Die Hoffnung auf eine religiöse Annäherung wurde allerdings enttäuscht. Die Kirchen haben die jüdischen Initiativen nie positiv beantwortet. Im Gegenteil, gerade liberal-protestantische Kreise innerhalb der Kirchen haben die antijüdische Theologie im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert eher noch verschärft.

Im Gegensatz zu den USA kam die Initiative zum Dialog auf jüdischer Seite in Europa weniger von liberalen jüdischen Kreisen, als von der Orthodoxie. Die Orthodoxie betrachtete das Christentum als gleichwertig und wollte einen Dialog auf Augenhöhe. Manche liberalen Rabbiner, wie Ludwig Philippson, sahen das Judentum als Vernunftreligion dem Christentum als „Mysterien-Religion“ überlegen. Wie Philippson in seinem Buch „Vergleichende Skizzen über Judentum und Christentum“ ausführte, seien die Gegensätze zwischen Christentum und Judentum so groß, dass ein echter Dialog gar nicht möglich wäre. Leo Baeck verteidigte zunächst das Judentum gegen christliche Polemik und hatte für das Christentum in „Das Wesen des Judentums“ keine positive Einschätzung. Erst später suchte er den Dialog mit dem Christentum und veröffentlichte zahlreiche Aufsätze wie z.B. „Judentum in der Kirche“ (1925).

In der evangelischen Kirche bekämpften Organisationen wie der Verein der Freunde Israels in Basel oder der Evangelisch-Lutherische Centralverein für Mission unter Israel e. V. in Leipzig den Antisemitismus in den Kirchen und setzten sich für ein besseres Verhältnis von Christ*innen und Jüd*innen ein – theologisch vertraten sie allerdings weiterhin traditionelle Positionen und versuchten Jüd*innen für die Taufe zu gewinnen. Mit der Machtübernahme der Nazis wurde das christlich-jüdische Verhältnis viel schwieriger; Christ*innen und christliche Vereine, die sich für Juden einsetzten, wurden zunehmend ausgegrenzt oder verboten. Die allermeisten evangelischen Christ*innen teilten den Antisemitismus der Nazis, übrigens nicht nur Anhänger der Deutschen Christen, sondern auch viele Mitglieder der Bekennenden Kirche. Während des Zweiten Weltkriegs war eine christlich-jüdische Zusammenarbeit in den meisten europäischen Ländern praktisch unmöglich.

Nach der Katastrophe der Schoa hofften die jüdischen Pionier*innen des jüdisch-christlichen Gesprächs in Europa auf eine schnelle und nachhaltige Änderung der Theologie in Bezug auf das Judentum und die Jüd*innen in den Kirchen. Doch gerade auch im Land der Täter, Deutschland, erkannten die Kirchen erst einmal weder eine besondere Mitverantwortung an der Shoa noch die Notwendigkeit einer Änderung der Theologie. Das berühmte Stuttgarter Schuldbekenntnis Stuttgart von 1945 ist nur teilweise ein Schuldbekenntnis und Jüd*innen oder die Judenverfolgung blieben unerwähnt – und es entstand zudem nur auf Drängen des Ökumenischen Rates der Kirchen. Noch deutlicher wird das „Wort zur Judenfrage“ des Bruderrates der EKD von 1948, das letztlich die antijüdische Theologie fortschreibt. Selbst im Gründungsjahr Israels blieben die Kirchen bei ihrem theologischen Triumphalismus, der Substitutionstheologie, dem Ziel der Judenmission und – vielleicht am schlimmsten – sie sehen Leid und Verfolgung als Strafe Gottes und von den Juden selbstverschuldet.

Trotz einer danach folgenden ersten positiveren Stellungnahme, der Erklärung der EKD-Synode zur Schuld an Israel in Berlin-Weißensee 1950, die sich zum ersten Mal in einem offiziellen Dokument zum Prinzip der bleibenden Erwählung Israels bekannte, tat sich lange Zeit nur wenig. Die ersten Jahrzehnte nach der Schoa waren vor allem geprägt von Schweigen und Gleichgültigkeit dem Judentum gegenüber, und der Antisemitismus war nach wie vor präsent.

Von jüdischer Seite wurde daher spätestens ab den 1950er-Jahren verständlicherweise der Dialog mit großer Skepsis betrachtet. Rabbiner Mosche Feinstein hat den Dialog sogar explizit in einem Responsum verboten. Für ihn waren selbst positive Entwicklungen in den Kirchen nur ein Ausdruck der alten Strategie im neuen Gewand. Sein Kollege Rabbiner Joseph B. Soloveitchik rät in seinem berühmten Artikel „Confrontation“ aus den 1960ern zwar vom theologischen Dialog mit Christ*innen ab, befürwortete jedoch einen Dialog im gesellschaftspolitischen Bereich. 
Auf jüdischer Seite gab es Einzelpersonen, die involviert waren, wie Robert Raphael Geis und Ernst Ludwig Ehrlich. Oft waren es auf jüdischer Seite Gäste oder Emigrant*innen aus Israel, Großbritannien oder den USA wie Martin Buber, Schalom Ben-Chorin, Albert Friedlander, Pinchas Lapide oder Nathan Peter Levinson. In den ersten Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg waren jüdische Gemeinden oder Verbände noch kaum am Dialog beteiligt und hochrangige Vertreter der Kirchen hielten sich weitgehend zurück. Trotz zahlreicher Bemühungen hoch engagierter Personen war der Dialog in dieser Zeit ein Nischenphänomen.


Wendepunkt Rheinischer Synodalbeschluss 1980

Erst ab den 1960er-Jahren nahm der Dialog langsam Gestalt an. Auf evangelischer Seite gründete sich 1961 die Arbeitsgemeinschaft Juden und Christen beim Deutschen Evangelischen Kirchentag um Friedrich-Wilhelm Marquardt und Martin Stöhr, und 1967 erarbeitete die vom Rat der EKD einberufene Studienkommission „Kirche und Judentum“ die 1975 verabschiedete Studie Christen und Juden (1991 und 2000 folgten die Studien II und III). Als bahnbrechend erwies sich der Rheinische Synodalbeschluss 1980, der zum ersten Mal auch explizit zwei – aus jüdischer Sicht – ganz wichtige Aussagen macht: Er bekennt sich zu einer christlichen Mitverantwortung und -schuld am Holocaust und erklärt, „daß die fortdauernde Existenz des jüdischen Volkes, seine Heimkehr in das Land der Verheißung und auch die Errichtung des Staates Israel Zeichen der Treue Gottes gegenüber seinem Volk sind“. Diese Erklärungen und die jahrelange Begegnung und Zusammenarbeit führten langsam zu Vertrauen und einer echten Partnerschaft zwischen Christ*innen und Jüd*innen, die sich seit den 2000er-Jahren dann intensivierte.


Entwicklungen auf jüdischer Seite

Zum ersten Mal veröffentlichte im Jahr 2000 eine Gruppe jüdischer Akademiker und Rabbiner eine Erklärung zum Christentum unter dem Titel „Dabru Emet“ („Redet Wahrheit“). Sie wurde auf christlicher Seite sehr positiv aufgenommen, auch wenn es auf jüdischer Seite Kritik an einigen Formulierungen gab. Das Jubiläumsjahr der katholischen Erklärung „Nostra Aetate“ 2015 gab den Anstoß zu zwei orthodox-jüdischen Erklärungen zum Christentum, „Den Willen unseres Vaters im Himmel tun: Hin zu einer Partnerschaft zwischen Juden und Christen“ (Dezember 2015) und „Zwischen Jerusalem und Rom“ (August 2017). Hintergrund war die weitere Vertiefung des Dialogs zwischen den Kirchen und der jüdischen Orthodoxie sowie die klare Ablehnung der sog. Judenmission, wie sie beispielsweise die EKD-Kundgebung 2016 „Der Treue hält ewiglich (Psalm 146,6). Eine Erklärung zu Christen und Juden als Zeugen der Treue Gottes“ formuliert – bereits 2015 hatte sich die EKD in der Kundgebung „Martin Luther und die Juden – Notwendige Erinnerung zum Reformationsjubiläum“ von Luthers Judenhass distanziert. 


Die Erklärung „Den Willen unseres Vaters im Himmel tun“

Am 3. Dezember 2015 wurde die Erklärung „Den Willen unseres Vaters im Himmel tun: Hin zu einer Partnerschaft von Juden und Christen“ veröffentlicht, die viel Aufmerksamkeit erfuhr, was sicherlich damit zusammenhängt, dass sie eine erste offizielle orthodoxe Erklärung zum Christentum war und von renommierten Persönlichkeiten und Oberrabbinern verschiedener Städte und Länder, Leitern von Rabbinerseminaren und Rabbinerverbänden unterzeichnet wurde. Mittlerweile haben mehr als 100 Rabbiner die Erklärung unterzeichnet, davon acht amtierende oder ehemalige Oberrabbiner europäischer Länder. Das Spektrum der Unterzeichner reicht von der progressiven „Open Orthodoxy“ bis zur Ultraorthodoxie.

Wie schon der Titel andeutet, sind die Autoren überzeugt, dass der Dialog – und damit die partnerschaftliche Zusammenarbeit der Menschheit – nicht einfach nur etwas Positives ist, sondern dem Willen Gottes entspricht. Die Präambel benennt dann die Konsequenz: Nach der traumatischen Vergangenheit gilt es nun „als Partner zusammen[zu]arbeiten, um den moralischen Herausforderungen unserer Zeit zu begegnen.“ Anfangs wird ein Blick in eine schwierige Vergangenheit zurückgeworfen, dann aber auch die Veränderungen innerhalb der Kirchen im zweiten Paragraf gewürdigt.

Mit § 3 beginnt eine tiefere theologische Diskussion. Um die Kernthese zu untermauern, nämlich dass „das Christentum weder ein Zufall noch ein Irrtum ist, sondern g-ttlich gewollt und ein Geschenk an die Völker“, werden große rabbinische Autoritäten aus verschiedenen Zeiten zitiert oder genannt, so etwa Maimonides und Jehudah Halevi aus dem mittelalterlichen Spanien, die Rabbiner Emden und Hirsch aus Deutschland des 18. bzw. 19. Jahrhunderts und der zeitgenössische Rabbiner Shear Yashuv Cohen aus Israel. Diese Aussagen zum Christentum oder die positive Bewertung der Rolle Jesu sind übrigens nicht neu, sie repräsentieren seit dem Mittelalter, spätestens seit der Neuzeit, den Konsens innerhalb der rabbinischen Autoritäten.

§ 4 orientiert sich am Alenu (jüd. Schlussgebet). Der Beginn ist fast ein wortwörtliches Zitat aus der jüdischen Liturgie und umschreibt, was nun als Konsequenz aus § 3 folgen muss: „Juden wie Christen haben eine gemeinsame Aufgabe in der Verheißung des Bundes, die Welt unter der Herrschaft des Allmächtigen zu verbessern, so dass die gesamte Menschheit Seinen Namen anruft und Laster von der Erde verbannt werden.“ Wir stehen vor der Erfüllung der Vision des Netziv (Naftali Zvi Yehuda Berlin), der in § 4 zitiert wird. Nur so kann Zukunft gelingen, können beide Seiten ein neues Kapitel aufschlagen und profitieren, denn wie § 6 erklärt: „Wir Juden und Christen haben viel mehr gemeinsam, als was uns trennt (…).“ Dabei gibt es klare Unterschiede: „Unsere Partnerschaft bagatellisiert in keiner Weise die weiterhin bestehenden Differenzen zwischen beiden Gemeinschaften und Religionen.“ Nur sind die Autoren auch der Überzeugung, dass „G-tt viele Boten nutzt, um Seine Wahrheit zu offenbaren (…)“. Um unserem Anspruch gerecht zu werden und auch in einer modernen, teils sehr säkular geprägten Welt zu zeigen, wie wichtig unsere jeweiligen Traditionen und Werte sind, müssen, wie in § 7 erklärt, „Juden und Christen Vorbilder geben in Dienst, bedingungsloser Liebe und Heiligkeit“ und „gemeinsam eine aktive Rolle bei der Erlösung der Welt übernehmen“. Es muss also Konkretes folgen.


Die Erklärung „Zwischen Jerusalem und Rom“

Am 31. August 2017 überreichte eine Delegation der CER, der RCA (Rabbinical Council of America, der amerikanisch-orthodoxen Rabbinervereinigung) und des israelischen Oberrabbinats in Rom die Erklärung „Zwischen Jerusalem und Rom“ Papst Franziskus. Sie ist ein Quantensprung, denn zum ersten Mal äußern sich die wichtigsten Rabbinerverbände und Institutionen der jüdischen Orthodoxie offiziell und formell zum Christentum.

Struktur und Inhalt von „Zwischen Jerusalem und Rom“ ist ähnlich zur Erklärung von 2015, wenn auch etwas zurückhaltender in den Aussagen. Die Präambel nimmt Bezug auf die sehr schwierige Vergangenheit, bei der die „Schoa der historische Tiefpunkt der Beziehungen zwischen Juden und unseren nichtjüdischen Nachbarn“ ist. Trotzdem werden auch die Veränderungen der letzten Jahrzehnte erwähnt und ausführlich die Veränderungen innerhalb der Katholischen Kirche gewürdigt, speziell nach Nostra Aetate, das als Meilenstein bezeichnet wird. Durch Nostra Aetate begannen die Kirchen „einen Prozess der Selbstprüfung, der in zunehmendem Maße dazu führte, dass die kirchliche Lehre von jedweder Feindseligkeit gegenüber Juden bereinigt wurde, wodurch Vertrauen und Zuversicht zwischen unseren jeweiligen Glaubensgemeinschaften wachsen konnten“. Natürlich gibt es wichtige Unterschiede zwischen Christentum und Judentum: „Die theologischen Unterschiede zwischen Judentum und Christentum sind tief.“ Die Erklärung nennt aber viele traditionelle Quellen, um den speziellen und positiven Status des Christentums zu belegen:

„Trotz dieser tiefen Differenzen haben einige der höchsten Autoritäten des Judentums festgestellt, dass Christen einen besonderen Status erhalten, weil sie den Schöpfer des Himmels und der Erde anbeten, der das Volk Israels aus der ägyptischen Knechtschaft befreite und der die Vorsehung über die ganze Schöpfung ausübt.“ Und gerade deshalb heißt es: „Trotz der unversöhnlichen theologischen Unterschiede sehen wir Juden Katholiken als unsere Partner, enge Verbündete, Freunde und Brüder in unserem gemeinsamen Streben nach einer besseren Welt, die mit Frieden, sozialer Gerechtigkeit und Sicherheit gesegnet ist.“ Die Erklärung endet mit einer Vision: „Wir wollen unseren Dialog und unsere Partnerschaft mit der Kirche vertiefen, um unser gegenseitiges Verständnis zu fördern und die oben beschriebenen Ziele voranzubringen.“