Muße – Spielen – Glauben. – Flucht aus dem Bann der Zwecke

Von Fulbert Steffensky

 

In den „Abenteuern des Tom Sawyer“ von Mark Twain finde ich folgende Geschichte.2) Der Knabe Tom wird von seiner Tante bestraft, weil er mit einem zerrissenen Hemd nach Hause kommt. Er muss an einem herrlichen Frühlingsmorgen einen Zaun anstreichen. Lustlos ist er an seiner Strafarbeit, als sein Altersgenosse Ben Rogers auftaucht und ihn wegen seiner Zwangsarbeit verspottet: „Hallo, alter Junge, musst wohl heute feste ran, was?“ Tom beachtet den Spott nicht und tut listig, als sei das Anstreichen ein höchstes Vergnügen. Ben will Anteil an diesem Vergnügen und bittet darum, ebenfalls pinseln zu dürfen. Scheinbar widerwillig und ungern überlässt Tom seinem Freund den Pinsel und die Arbeit. Vergnügt und befreit von der Pflicht schaut er zu, wie Ben an seiner Stelle den Auftrag der Tante erledigt. Was für Tom lustlose Pflichterfüllung ist, ist für Ben Spiel und Vergnügen. Ben ist ein „Müßiggänger“, obwohl er arbeitet. Er handelt aus freiem Willen, ohne ein Ziel zu verfolgen. Das nennt man Muße.

Was ist der Unterschied zwischen beiden „Arbeitern“? Toms Arbeit ist erzwungen, die Tante hat sie befohlen, sie ist seine Strafe. Ben hat um die Arbeit gebeten und ist damit auf andere Weise Subjekt und Souverän seines Tuns. Toms Tätigkeit erfüllt Zwecke: Die Strafe soll abgebüßt und der Zaun durch den Anstrich gerettet werden. Bens Tätigkeit zielt nicht auf Zwecke. Der Erfolg seiner Arbeit ist seine Arbeit selbst. Seine Arbeit ist sinnvoll und reines Spiel. Sie ist kein Geschäft, das er betreibt des Lohnes und des Ergebnisses willen. Tom verrichtet seine Arbeit mechanisch. Seine Seele ist bei ganz anderen Dingen, er liebt die Arbeit nicht, und ihn kann nur erfreuen, dass diese irgendwann getan und vorbei ist. Die Arbeit trägt seine Handschrift nicht, weil er sie nicht liebt und nur darauf wartet, bis sie vorbei ist. Ben liebt jeden Pinselstrich; er geht auf und ist versunken in sein Tun. Was Tom erzwungenes Anstreichen ist, ist bei Ben Malen; es ist Arbeit seiner Phantasie, es ist Kunst, er malt nicht nur mit seinem Pinsel, sondern mit seinem ganzen Herzen. Lustlosigkeit bei Tom, Freude an der Arbeit bei Ben. Genau genommen arbeitet Ben nicht, sein Tun ist Muße, es ist Spiel. 

Ein Lob der Muße im „Kleinen Prinz“ von Saint-Exupery, eine Geschichte, erzählt gegen die reine Effizienz. Der Kleine Prinz kommt zu einem Händler, der seine Durst stillenden Pillen anpreist. Er lobt den Vorteil der Zeitersparnis, da das Trinken entfällt. Er rechnet dem Prinzen vor: „Die Sachverständigen haben Berechnungen angestellt. Man erspart dreiundfünfzig Minuten in der Woche.“ 3)  Der Kleine Prinz aber antwortet mit geradezu jesuanischem Humor, wenn er diese Zeit gewönne, „würde ich ganz gemächlich zu einem Brunnen laufen…“4)  Schöner kann das reine Effizienzdenken nicht ironisiert werden. Der Händler mit den Durst stillenden Pillen raubt den Menschen die Umwege, die Langsamkeit und den Genuss der Wege. Die Lebensvorgänge werden begradigt, wie unsere Flüsse begradigt werden und dabei viel von ihrer Schönheit einbüßen. Die effiziente Direktheit hat ihren Charme gefressen. Könnte es sein, dass die Vorherrschaft des Effizienzdenkens auch auf menschliche Verhältnisse abfärbt? Wird das schöne Wort Liebesspiel verschwinden, weil auch jede Erotik begradigt wird auf grobe sexuelle Direktheit? Was wird aus den Behinderten, den Alten und den schwer und lange Kranken, die zu nichts mehr nütze sind und sich nicht mehr durch ihre Effizienz ausweisen können? In einem Rechenbuch aus der Nazizeit lese ich folgende Aufgabe: „Ein Geisteskranker kostet die Volksgemeinschaft täglich 11 Reichsmark. Berechne, wieviel 13 Geisteskranke die Gemeinschaft in 5 Jahren kosten. Berechne weiter, wie viele Siedlungshäuser man dafür bauen könnte, wenn ein Haus 22.000 RM kostet.“ So weit gehen unsere Rechenmeister nicht. Aber wenn Sinn nichts mehr anderes ist als Zweck und Nutzen, dann ist der Charme des Lebens in Gefahr.

Eine andere charmante Geschichte gegen die Effizienzversessenheit lese ich im Markusevangelium (Mk 14, 2-9). Jesus ist Gast im Hause Simons des Aussätzigen. Als sie zu Tische sitzen, kommt eine Frau, sie hat ein Glas mit unverfälschtem und kostbarem Nardenöl. Sie zerbricht das Glas und salbt sein Haupt. Die Tischgenossen ärgern sich und sagen: „Was soll diese Vergeudung!“ Man hätte das Öl für mehr als 300 Silbergroschen verkaufen und das Geld den Armen geben können.“ 300 Silbergroschen sind in jener Zeit etwa der Jahresverdienst eines Landarbeiters, sofern er Arbeit hatte. Lukas beschreibt diese Geschichte noch drastischer und erotischer. Bei ihm ist die Frau eine bekannte Sünderin. Auch sie bringt das kostbare Öl und salbt ihn. Sie benetzt seine Füße mit ihren Tränen und trocknet sie mit ihren Haaren. Was soll die Vergeudung? Was soll diese nutzlose Geste? Was soll diese zwecklose Schönheit? So fragen jene Männer, die etwas von Kosten und Nutzen verstehen. Wer würde ihnen nicht zustimmen! Das Geld hätte man tatsächlich den Armen geben können. Die Schönheit kann sich nicht rechtfertigen, sie ist, weil sie ist. Die Zwecke haben immer die Argumente für sich. Das Spiel hat kein Argument. Es ist, weil es ist. Diese kleine Geschichte ist die Erzählung eines Liebesspiels, einer nicht begründbaren Zärtlichkeit. Es ist eine graziöse Geschichte. Graziös kommt von „gratia“, welches Gnade bedeutet. Gnade ist das Liebesspiel zwischen Gott und dem Menschen, zwischen dem Menschen und Gott. Sie bedeutet das ungeschuldete Überfließen des einen zum anderen. Ihr schönstes Bild findet sie in der Geschichte dieser wehrlosen Frau, die sich zum Gespött der Männer macht, weil sie das Unsinnige wagt. In ihren Augen hat Sinn nur, was Zweck hat. 

Muße und freies Spiel setzen die Zuversicht voraus, dass die Welt nicht von uns geschaffen und vollendet werden muss. Ich erzähle eine Anekdote solcher Zuversicht aus dem Jahr 1983, dem Höhepunkt der Friedensbewegung. Der 2016 verstorbene amerikanische Jesuit und Bürgerrechtler Daniel Berrigan, der viele Jahrzehnte für den Frieden und für soziale Gerechtigkeit gearbeitet hat und wegen dieser Arbeit mehrmals im Gefängnis war, wollte sich nach einem solchen Gefängnisaufenthalt und nach einer längeren Vortragsreise bei Freunden ausruhen. Es kam ein Anruf aus einem Friedenscamp, in dem einige hundert Jugendliche zusammen waren. Sie wollten ihn hören, und seine Freunde meinten, er sei unentbehrlich, er müsse kommen und für den Friedensgedanken werben. Er, der so viel gearbeitet hat, entzog sich dem Zwang der Aktivität. Er ging ins Theater, er besuchte Konzerte, er kochte für seine Freunde und Freundinnen und aß und sang mit ihnen. Man sagte ihm, jetzt in dieser kritischen Zeit der Friedensbewegung sei keine Zeit für Theater und Kochen. Seine Antwort: „Wenn die Friedenssache an mir allein hängt, dann ist sie sowieso verloren.“ Er war fähig, etwas zu tun, er war fähig, etwas zu lassen. Mitten im Trubel seiner Arbeit gelang ihm eine lustvolle Gelassenheit. Er war ein Prophet des Friedens, aber er gehörte nicht zu den Propheten mit Schaum vor dem Mund, die auf nichts anderes setzen als auf die eigene Arbeit. Vielleicht heißt dies: an die Gnade glauben. Er glaubt nicht, dass er mit seiner Arbeit der Grund des Lebens und der Welt ist. Die Welt ist von Gott geschaffen und wird durch ihn vollendet. Er konnte sich dem Zwang der Geschäfte entziehen, weil er wusste, dass er nicht Gott war. Gnade hat etwas zu tun mit Gewaltlosigkeit, auch mit der Gewaltlosigkeit sich selbst gegenüber.

Ich vermute, dass das Lassen, die Gelassenheit, die Muße und das freie Spiel so schwer gelingen, weil der Glaube an Gott und der Glaube an den Sinn des Lebens ersetzt wurden durch den Glauben an die pure Effizienz und Effektivität. Kein Gott fordert mehr Opfer als der Gott Effizienz und Produktivität. 

Unter der Hand geschieht bei der Effizienzversessenheit noch etwas anderes. Die Jagd nach Produktivität wird zur lustvollen Gejagtheit. Die Atemlosigkeit wird zum Statussymbol. Mit dem vollen Terminkalender bestätigt man sich die eigene Wichtigkeit und Unentbehrlichkeit. Davon sind Kirchenleute keineswegs verschont. Bei meiner Arbeit mit Pfarrern und Pfarrerinnen stelle ich gerne eine Gewissenfrage: Was musst du nicht tun, was kannst du lassen? Zum besinnungslosen Werkeln kommt es, wo man von der eigenen Unentbehrlichkeit überzeugt ist und sich darum nicht fragen kann, wo man entbehrlich ist. 

Hat die Geschäftigkeit inzwischen nicht auch unsere Gottesdienste erreicht? Gottesdienste sind die schönsten Stellen der freien Absichtslosigkeit, der Muße und des Spiels; jedenfalls sind sie es an erster Stelle. Gewiss gibt es Gottesdienste mit unerlässlichen Absichten. Wenn ein Gottesdienst das Elend der Flüchtenden bedenkt, dann hat er natürlich zu Recht Absichten. Aus dem Spiel wird Ernst. Aber unsere Gottesdienste und Gebete sind nicht nur Orte der moralischen Zurichtung. Sie sind auch das interessenfreie Lob Gottes. Ich habe gelegentlich Probleme damit, dass moralische Absichten in unseren Gottesdiensten die Überhand gewinnen und ihnen alles unterworfen wird. Alles bekommt einen moralisch-appellativen Charakter: die Gebete, die Fürbitten, die Präfation, der Segen am Ende. Alles könnte den Charakter eines sozialpolitischen „Avanti Populo!“ annehmen. Mit der Allgegenwart des Moralisch-Ethischen zerstören wir gerade die moralische Aufnahmefähigkeit. Wir brauchen auch die absichtslose Schönheit unserer Gebete und Lieder; vor allem das absichtslose Lob Gottes. Nicht jede Stelle unserer Gottesdienste ist ethisch verwendbar. Wenn wir das nicht beachten, enden wir im moralischen Kitsch. 

Das Lob Gottes und die Muße im Gottesdienst finden ihre deutlichste Stelle im Singen und im Schweigen. Schweigen verstehe ich nicht nur als Wortlosigkeit, sondern als die Grundform der Absichtslosigkeit. „Gott ist gegenwärtig, alles in uns schweige“, singt Gerhard Tersteegen (EG 165). Das Schweigen ist die Weise, die Gottes Größe und sein Geheimnis am meisten respektiert. Aber Schweigen ist das, was unseren Gottesdiensten am meisten fehlt. Das Schweigen wird an allen möglichen Stellen aufgesucht, in der Meditation, in Schweigeseminaren, in Schweigekursen. Nur in den Gottesdiensten hat es wenig Platz. In Heinrich Bölls „Dr. Murkes gesammeltes Schweigen“ schneidet sich der Rundfunkredakteur Dr. Murke das seltene Schweigen aus den geschwätzigen Vorträgen von Bur-Malottke heraus und spielt es sich am Abend zu seiner geistigen Sanierung vor.5)  Das Tonband mit den Schweigeschnipseln aus unseren Gottesdiensten wäre kurz. Sie sind zu Mitteilungsveranstaltungen geworden. Auch unsere Gebete sind oft wortgewaltige Mitteilungen an Gott. Ich wünsche mir wenigstens ab und zu Gottesdienste, in denen wir Gott nichts mitteilen und nichts von ihm wollen. Religionen sind oft große narzisstische Petitionsveranstaltungen. Es ist richtig, dass wir unsere Schreie des Glücks und der Schmerzen im Gottesdienst nicht verbergen. Aber wo hat die große Absichtslosigkeit einen Platz? Wo hat das reine Lob, der reine Gesang auf „aller Dinge Grund und Leben“ (EG 165,5) seinen Platz? Wo wollen wir einmal nichts von Gott, außer ihn zu loben und zu ehren? Wo ist Gott einmal nicht unsere Milchkuh, in deren Stall wir nur steigen, wenn wir sie melken wollen? Sich jemandem ohne Absichten und Hintergedanken zu nähern, heißt ihn lieben. Kann der Gedanke, Gott zu lieben, noch einmal gedacht werden? Muße heißt, aus freiem Willen zu handeln, ohne ein Ziel zu verfolgen.
 
Der Zwang, Gottesdienste interessant und spannend zu machen, ist ein anderes, was das Moment der Muße stört. Muße braucht Sammlung, Ruhe, Entspannung, ungejagte Zeit und eine lange Weile. Wo Interessantheit Ziel wird, da geht es rasch zu, Kurzfristigkeit, Spannung und Wechsel sind die Mittel einer zweifelhaften Interessantheit. Man braucht Gottesdienste ja nicht mit Gewalt langweilig zu machen, aber man muss sie auch nicht mit Gewalt interessant machen. Ich kenne den Einwand und nehme ihn ernst: Die Momente der Muße, die ich genannt habe, gehen gegen den kulturellen Trend unserer Zeit und Gesellschaft. Spannung und Interessantheit sind die angebeteten Götter. Könnte es aber sein, dass unsere Gottesdienste auch Gegenveranstaltungen sein könnten gegen die Diktate einer Gesellschaft? Die besten Köpfe merken schon lange, wie unsere Seelen veröden in der Zeitraffermentalität und im Beschleunigungswahn. Inzwischen überlegt man, was gegen eine pure Leistungsideologie Muße in der Schule bedeuten kann. Muße ist Thema an Akademien und in Rundfunksendungen. An der Universität Freiburg ist ein Sonderforschungsprojekt zum Thema Muße eingerichtet.6) Wir merken, wir haben keine Zeit mehr, die Umwege des kleinen Prinzen zu seinem Brunnen zu vermeiden. […]


Lebensrettende Formen

[…] Anfang der 1970er-Jahre war ich in einem evangelischen Predigerseminar länger zu Gast. Die abendliche Vesper war bis dahin eine selbstverständliche Einrichtung, eine unbefragte Sitte. Sie lief nach einer festen Liturgie ab: Lied – Psalm – biblischer Text – Gebet – Lied. Dann aber wankte diese Institution. Die Regelmäßigkeit dieser Einrichtung und ihres Verlaufs ging den Vikarinnen und Vikaren auf die Nerven, sie vermissten in den Gebeten den Bezug zur realen Welt und ihren Schmerzen. Sie fanden sich in den Texten nicht wieder, und sie waren gelangweilt. Sie wollten die Vesper nicht abschaffen, sie wollten sie interessant und lebensnah machen. Sie gaben den ritualisierten Ablauf auf und versuchten, jeden Abend eine kreative, spontan auf die Tagesereignisse bezogene Veranstaltung. 

Dies ist ein Beispiel einer ungekonnten Freiheit aus jenen Jahren und eines notwendigen Aufstands gegen die verhängten religiösen Welten, unter denen viele litten. Auch die Freiheit muss man lernen. Es war den jungen Leuten schwergemacht, Subjekte ihrer eigenen religiösen Äußerung zu sein. Sie wollten nicht Marionetten ihrer religiösen Tradition sein, sondern authentisch in Sprache und Expression. Sie haben ihre Traditionen nicht abgelegt, aber sie wollten ihre eigene Sprache sprechen. Das war ihr Recht. Wer genau lebt, denkt, und sich religiös ausdrückt, wie es seine Väter und Mütter getan haben, lebt nicht im Geist dieser Tradition. So gehören Bruch, Befragung, Verwandlung oder gar Aufkündigung der alten religiösen Inszenierungen und ihre Verwandlung zum Kern eines lebendigen Lebens. Natürlich war das Aufbegehren der jungen Leute holprig und oft unbedacht. Aber wer neue Wahrheiten wagt, kommt ohne Irrtümer nicht aus. Wer Irrtümer nicht in Kauf nimmt, ist nicht wahrheitsfähig.

Was würde ich diesen jungen Spontis sagen? Ich würde zunächst ihren Freiheitsdurst loben, sie aber warnen vor der Mühsal der Selbsterschaffung. Der Glaube ist leichter, wenn er sich nicht dauernd selbst beweisen muss – durch die eigenen Formen, die eigene Sprache und das selbsterfundene Ritual. Ich muss nicht Autor meiner selbst sein, wenn ich die Freiheit habe, Autor meiner selbst zu sein. Um die Freiheit der eigenen Autorenschaft haben die Achtundsechziger gekämpft. Vielleicht konnten sie den Trost noch nicht annehmen, nicht nur sie selbst zu sein, sondern sich in Formen und Sitten zu bergen, die sie nicht selbst ersonnen haben. Die Wahrheit und die Einsicht gehen eben langsame Wege. Die Reformer von damals wollten in ihren kulturellen und religiösen Äußerungen zuhause sein. Natürlich muss man an sie eine Frage stellen: Warum wollt ihr unbedingt nur zuhause sein in euren eigenen Gebetsformen, Gottesdiensten und Ideen? Es ist doch ein Reichtum, auch Gast sein zu können in der Fremde der Formen und Gedanken der Tradition, der Reichtum und die Freiheit, nicht ganz dazuzugehören. Wer sich selber nur Heimat ist, dem ist die Heimat ein Kerker. (Ich möchte aber die Reformatoren der 60er-Jahre mit ihrer Forderung, Autoren im eigenen Glauben zu sein, unterscheiden von den rasenden Subjektivisten, die ihnen auf dem Fuß folgten und die nichts anderes billigten als sich selbst.)

Wo man in religiösen Feiern die Formen und Einrichtungen grundsätzlich geringschätzt, da geraten die liturgischen Ereignisse unter Subjektivitätszwang. Die agendarischen Vorlagen verlieren ihr Gewicht, liturgische Grundgesten der Gottesdienste (Abendmahlsworte, Segen etc.) werden umformuliert, weggelassen oder frei formuliert. Solche Gottesdienste sind zunächst eine Überbürdung der liturgischen Personen. Wo das liturgische Schema, der absehbare Ablauf, die geprägte Sprache und die liturgischen Sitten nur noch eine geringe Rolle spielen, da verlangt jeder Gottesdienst eine umfangreiche Vorbereitung. Neue Gebete werden formuliert und neue Abläufe müssen ersonnen werden. Man kann sich in nichts fallen lassen und auf nichts berufen und ist ständig gezwungen, Autor zu sein. Das ist ein Nachteil für die geistliche Konstitution der Pfarrer und Pfarrerinnen. Sie sind bei ihren liturgischen Handlungen ständig ihre eigenen Zeremonienmeister. Der Zeremoniar kann nicht fromm sein, weil er seinen eigenen Handlungen immer voraus sein muss. Nichts geht von selbst, sozusagen geborgen in der Automatik der vorgegebenen Abläufe. Man ist sich selbst und den liturgischen Verläufen immer einen Schritt voraus, und es ist schwer, im Augenblick geistig anwesend zu sein. 

Dieser Subjektivitätszwang ist aber auch zu viel für die feiernde und betende Gemeinde. Sie muss immer wach, aktiv und aufmerksam sein. Gewohnte Abläufe dämpfen die Bewusstheit. Diese ist zwar die Signatur des freien Subjekts, aber es gibt Situationen, in denen man sich und seine Welt in der gläsernen Selbstbewusstheit verlieren kann. Es muss Orte geben, an denen man nicht überwach ist und sich selber nicht zuschaut. In allen Momenten personaler Intensität ist man am meisten anwesend, wenn man sich vergisst. Ich darf nicht zuschauen, wenn ich jemanden küsse. Ich darf mir nicht zuschauen, wenn ich bete oder einen Sonnenuntergang betrachte. Es gibt Situationen, in denen die Selbstbewusstheit nicht intensiviert, sondern zerstört. Die gefügte Form, die Formel, das Ritual retten vor der Überbewusstheit, sie wiegen uns ein in den Geist der Sache. Wenn der Pfarrer und die Pfarrerin jeden Sonntag mit einer frischen Segensformel kommt, wenn er die Formel durch seine eigene elaborierte Sprache ersetzt, dann kommt jene produktive Bewusstlosigkeit nicht zustande. Dann muss die Gemeinde zu gespannt, zu aufmerksam und zu aktiv sein, und so geht die Kraft der Passivität verloren. 

Warum ist die Formel wichtig? Die Formel negiert und erübrigt den Verstand und den Glauben des Subjekts nicht, aber sie übersteigt ihn. Die Formel wie der aaronitische Segen, der den Gottesdienst beschließt, ist nicht meine ausschließliche Sprache, sie ist Kirchensprache, d.h. sie ist die Sprache aller toten und lebenden Geschwister. Ihr Glaube trägt sie, nicht der kümmerliche Glaube eines einzelnen Subjekts. Sich in die Formel flüchten heißt, sich und der eigenen Kargheit zu entkommen. Wer eine Formel hat, wird mehr als er werden kann. Natürlich kann dies nur gesagt werden, wenn man die eigene Sprache erobert hat und wenn man gelernt hat, Formeln zu zerbrechen. Es muss Stellen im Leben geben, an denen man von sich selber entlastet ist. Es muss Stellen geben, an denen man der eigenen Innerlichkeit müde sein und sich flüchten darf in die Gnade des Allgemeinen. 

Und noch ein Lob der Formel: Sie erlaubt mir das halbe Herz, wo das ganze noch nicht zu haben ist. Eine der wärmsten Erinnerungen aus meiner Kindheit ist ein Segensgestus meiner Mutter. Wenn wir morgens zur Schule gingen, hat sie uns ein Kreuzzeichen auf die Stirn gemacht, nicht mit großer Ergriffenheit, eher beiläufig, wie sie uns die Brote für die Schule mitgab. Aber ganz beiläufig gab sie uns die Brote nicht. Sie machte uns das Kreuzzeichen mit halbem Herzen, mit halber Aufmerksamkeit, mit halber Intensität. Das halbe Herz aber heißt nicht Halbherzigkeit. Was man regelmäßig und oft tut, tut man nicht jedes Mal in existenzieller Ergriffenheit, man tut es mit halber Ganzheit. Wenn aber eines von uns Kindern krank war oder für lange aus dem Haus ging und unsere Mutter segnete uns, dann war sie eine wirkliche Künstlerin, und ihr ganzes Herz lag in ihrer Geste. Dies aber konnte sie nur, weil sie lange die große Geste geübt hatte. Ihre tägliche Geste war ein Mittelding zwischen Übung und Ernstfall. Der Ernstfall aber kann nur bewältigt werden, wenn man lange geübt hat. Man kann sich, seine Gesten und seine Sprache im Ernstfall nicht erfinden, wie man nicht schwimmen lernen kann, wenn man am Ertrinken ist. Die meisten religiösen Gesten, die man täglich oder doch regelmäßig versucht, gelingen uns nur halb – der Psalm, den man täglich betet, die Losungen, die man am Morgen liest; das Tischgebet oder der regelmäßige Gottesdienst. Man singt, betet, und bekreuzigt sich mit halber Intensität. Man muss es lernen, mit dieser Halbheit einverstanden zu sein. Nur so gelingt die Ganzheit, die man in den Stunden der Not und des Glücks braucht. 

Ich erinnere mich daran, wie in unserer Familie das Tischgebet für einige Zeit zum Erliegen kam. Als unsere Kinder älter und aufmüpfiger wurden, fingen sie an, unser Tischgebet zu kritisieren. „Ihr betet immer das Gleiche!“, sagten sie. „Denkt ihr euch eigentlich etwas dabei?“ Und sie beschlossen, das Tischgebet selber in die Hand zu nehmen. Vor der dünnsten Suppe gab es die reichhaltigsten Gebete frisch aus der Hausbäckerei. Dies aber konnte niemand durchhalten, und so ermatteten wir an unserer eigenen Ernsthaftigkeit. Man muss die eigenen religiösen Versuche auch mit Humor betrachten können. Man muss es lernen, das eigene halbe Herz auszuhalten, wenn das ganze noch nicht zu haben ist. 

Es gibt ein bürgerlich-protestantisches Missverständnis, nämlich die Annahme, alles Lernen sei intellektuelles Lernen und alle Lebensfortschritte geschähen allein durch Sprache und Bewusstheit. Das hat unsere Gottesdienste so verkopft gemacht, und wir haben Kirchen gebaut, die vor allem Lehrhäuser waren. Diese Annahme hat die Predigt so übermäßig bedeutungsvoll und die Gebete wortreich werden lassen. Das hat die Gottesdienste so pfarrerdominiert gemacht. Sie waren ja in den Gottesdiensten die Herren der Wörter. Wir hatten vergessen, dass Gottesdienste nicht nur Lernorte sind, und wir haben vergessen, dass Lernen nicht nur über Sprache und Argumente geht. Den Glauben lernen wir nicht nur über Lehren und Worte, wir lernen ihn auch über Aufführungen, über Inszenierungen und Darstellungen. Dies gilt übrigens nicht nur für Kinder, die noch wenig der Worte und der Argumente fähig sind. Es gilt ebenso für Erwachsene. Das soll keine Diskreditierung der Sprache sein. Die ungedeutete Inszenierung, jede Verachtung des Wortes könnte zu einem schwammigen und individualistischen Glauben verkommen. Ich spreche nicht gegen das Wort und die worthafte Verkündigung. Ich spreche gegen die Ausschließlichkeit der Sprache und ihre ungebührliche Vorrangstellung in unseren Gottesdiensten und im geistlichen Leben. 

Natürlich möchte ich Herz, Gewissen nicht diskreditieren als die Stätten menschlicher Entscheidung. Aber nicht nur, was von innen kommt, verunreinigt den Menschen oder erbaut ihn; auch, was von außen kommt, erbaut oder trübt ihn. Der Mensch spielt sich nicht nur in seinem Inneren ab. Er ist auch Leib, und seine Seele tritt als Form, Figur und Geste nach außen. Sie spielt sich außen ab. Äußerlichkeit werfen idealistische Protestanten oft den Katholiken vor, und sie verkennen, dass das Äußere die gestaltete Seele ist. Wir glauben, beten und hoffen nicht nur mit unseren Herzen. Wir glauben auch mit unseren Lippen. Und manchmal ist der Glaube der Lippen stärker als der Glaube des Herzens. Gottseidank sind wir nicht nur Herz. Wir sind auch Lippen. Wir glauben, indem wir uns bezeichnen. Wir glauben, indem wir einen Ort aufsuchen, der verschieden ist von allen anderen Orten. Wir lesen den Glauben vom gestalteten Raum in unser Herz hinein – vom Altar, von den Bögen, von den bezeichneten Schwellen, von den Fenstern, vom Kreuz und von der Ikonostase. Wir brauchen uns nicht in der Kargheit unserer eigenen inneren Existenz zu erschöpfen. Bürgerlich-protestantische Traditionen verlegen alles Wesentliche des Menschen in sein Inneres, in sein Herz, in sein Gewissen, in seine Seele, eben in die Verborgenheit. Alles Äußere steht unter dem Verdacht, Äußerlichkeit zu sein, Unwesentliches oder gar Abfall und Verderben. Jede äußere Religiosität steht unter dem Verdacht, Verrat an der Innerlichkeit zu sein. 

Es geht nicht darum, sich selber wieder loszuwerden, das eigene Gewissen, die eigene Sprache und das eigene Herz zu verlieren an bannende Orte, Zeiten, Institutionen und heilige Mechanismen. Es geht nicht darum, weniger zu werden, als man ist. Es geht darum, mehr zu werden, als man von sich aus sein kann. Und so sucht man sich Verbündete für die Seele: die „Äußerlichkeiten“ der Räume, der Rhythmen, der Bauten, der Formeln, der Gesten und Rituale. Es ist eine Flucht in die Fremde, die uns mehr werden lässt als wir sind, nicht weniger. Man baut sich von außen nach innen. Ich nenne ein Beispiel für einen bezeichneten Ort, der an unserer Innerlichkeit baut. In der Nähe unseres Institutes in Hamburg stand die alte Synagoge. Sie wurde 1938 zerstört und dem Erdboden gleichgemacht. Als ich nach Hamburg kam, war dieser Ort ein Parkplatz, und ich wusste nicht, was an dieser Stelle Menschen gelitten und gehofft hatten. Vor etwa 20 Jahren wurde der Grundriss der Synagoge als Mosaik in den Boden eingelassen. Ich ging während meiner Dienstzeit fast täglich hier vorbei, und fast täglich redete dieser Ort zu mir. Er baut an meiner Innerlichkeit und an meinem Gedächtnis. Ich war nicht mehr allein angewiesen auf die Kraft meines Herzens. Die bezeichnete Stelle baute an meinem Herzen. 

  1.      Der Beitrag ist ein Auszug aus einem Vortrag am RPI Loccum beim Treffpunkt Schule „Ungejagte Zeit … Religiöses Lernen in Muße“ am 2. Oktober 2019.
  2.      Vgl. Mark Twain: Die Abenteuer des Tom Sawyer (1876), Hamburg 1999.
  3.      Antoine de Saint-Exupéry: Der Kleine Prinz (1943 / deutsch 1950). Kap. XXIII. Düsseldorf 1956, 56.
  4. Ebd.
  5.      Vgl. Böll, Heinrich: Dr. Murkes gesammeltes Schweigen (1958), in: ders.: Dr. Murkes gesammeltes Schweigen und andere Satiren, Köln 1996.
  6.      Vgl. www.sfb1015.uni-freiburg.de/de (abgerufen am 30.12.19).