Filmexerzitien – Meditatives Arbeiten mit einem Film

Von Andreas Behr

 

Tausend Kilometer oberhalb des Polarkreises liegt in der norwegischen Finnmark eine der nördlichsten Städte der Welt: Hammerfest. Im Sommer, während der Weißen Nacht, scheint dort Tag und Nacht die Sonne. Im Winter, vom 22. November bis zum 21. Januar, steigt die Sonne jedoch nie über den Horizont. Die Einwohner leben in dieser Zeit in fast vollständiger Dunkelheit. Seit Jahrhunderten nennen die Menschen diesen Zeitraum von etwa acht Wochen Polarnacht.

Mit dieser Einblendung in weißer Schrift auf schwarzem Grund beginnt der Kinofilm „Gnade“.  Wie viele andere Filme auch, eignet er sich gut, um in der Gemeinde ein besonderes Seminar anzubieten. Anhand dieses Filmes soll eine Form der geistlichen Filmarbeit vorgestellt werden.


Filmexerzitien

Viele Filme, vielleicht sogar die meisten, nehmen religiöse Themen auf. Hinzu kommt, dass Kino und Kirche formale Gemeinsamkeiten haben. Hier wie da versammeln sich Menschen zu einer bestimmten Zeit, um in einem extra für den Anlass geschaffenen Raum in eine besondere Welt einzutauchen. Mitten in der Welt ist man doch auch in einer anderen Welt, die wiederum Bezug hat zur alltäglichen Welt. Gottesdienste und Filme machen Deutungsangebote fürs Leben. Es gibt Liturgien bzw. feste Abläufe. Im Kino beginnt alles mit der Werbung, bevor der Film anläuft. Auch dieser folgt meist festen Abläufen. Filme eignen sich deshalb gut, um mit Menschen über Religion und Glauben ins Gespräch zu kommen. 

Filmexerzitien sind geistliche Übungen mit einem Film. Die Beschreibung „meditatives Arbeiten mit einem Film“ hat sich in der Gemeinde bewährt. Das Wort Filmexerzitien macht neugierig. Meditatives Arbeiten ist eine gute Beschreibung dessen, was da passiert. 

Dennoch ist es für die Vorbereitung wichtig, dass es um geistliches Arbeiten geht. Die Teilnehmenden sollen sich auch mit der eigenen Spiritualität auseinandersetzen.  Deshalb wird die hier beschriebene Methode der Arbeit mit Filmen Exerzitien genannt. 

Filmexerzitien beginnen am Abend. Der Raum sollte so eingerichtet sein, dass Kino-Atmosphäre anklingt. Bei Langfilmen sollten alle eine Sitzgelegenheit bekommen, auf der sie sich auch nach zwei Stunden noch einigermaßen wohlfühlen. Es gibt Knabbereien und Getränke. 

Es ist abzuwägen, ob man den Titel des Films schon im Vorfeld verrät. Einerseits hat es Vorteile, wenn niemand sich vorher schon über den Film informieren kann. Andererseits trauen sich manchmal Menschen nicht in einen Film, von dem sie im Vorfeld nichts erfahren. 

Der Film wird ohne große Einführung gezeigt. Kurz wird das Entstehungsjahr benannt. Und eine wichtige Spielregel für Filmexerzitien muss hier klargestellt werden: Es ist verboten, nach dem Film mit irgendjemandem über den Film zu sprechen. Der Film soll sich erst einmal setzen. 

Gemeinsam wird der Film geschaut. Evtl. gibt es danach noch Gelegenheit, eine Weile gemütlich zusammenzusitzen. Erfahrungsgemäß ist das kurz etwas komisch, weil ja nicht über den Film gesprochen werden darf. Dann aber merken die Teilnehmenden, dass es ganz gut tut, über ganz andere Dinge zu reden und vor dem Schlafengehen wieder in diese Welt zurückzufinden. 

Der nächste Tag gehört dann der Arbeit mit dem Film. Zunächst ist es gut, wenn sich die Teilnehmenden in Kleingruppen frei austauschen können. Hilfreich kann es dabei sein, wenn sie eine Zusammenstellung von Filmschnipseln bekommen, d.h. auf einem Blatt sind wesentliche Stationen des Films zusammengefasst. So haben alle die Handlung noch einmal vor Augen. Da alle ihren eigenen Film gesehen haben, kann es passieren, dass sich die Teilnehmenden nicht einigen können, in welcher Reihenfolge einzelne Szenen gezeigt wurden. Hier hilft dann ein Blick in die Filmschnipsel. 

Ein guter Impuls zum Einstieg für die Kleingruppen ist übrigens der Impuls: Tauschen Sie sich aus, wie Sie den Film fanden. Dazu können nämlich alle etwas sagen. 

Im Folgenden ist es wichtig, dass gute Filme sich nicht in einer Botschaft erschöpfen. „Wenn ich eine Botschaft habe, dann mache ich keinen Film, dann gehe ich zur Post!“, soll Alfred Hitchcock mal gesagt haben. Es kann also nicht darum gehen, herauszuarbeiten, was die Regisseurin uns mit dem Film sagen wollte. Vielmehr sollen die Teilnehmenden für sich herausfinden, was ihnen der Film sagt – wobei er ihnen auch gar nichts sagen kann. 

Nach einer ersten Runde des Austausches gibt es Hinweise zur Entstehung des Films, Begriffe können geklärt werden, die zeitliche Struktur des Films kommt in den Blick. Oft lohnt es sich, die Namen der Charaktere anzuschauen. Dafür sollte deren Bedeutung im Vorfeld recherchiert werden. 

Die meisten Filme folgen der sogenannten „Reise des Helden“ (vgl. Abb. 1): Das erste Viertel stellt uns die Hauptperson vor. Am Ende dieses Teils, oft auf die Sekunde genau geschnitten, wird diese mit einem Problem konfrontiert bzw. vor eine Aufgabe gestellt. Im Hauptteil, der ziemlich exakt die Hälfte der Gesamtspielzeit dauert, versucht unsere Heldin nun, die Aufgabe zu lösen. Zunächst scheitern ihre Versuche, bis genau in der Mitte dieses Hauptteils eine Wende eintritt, häufig durch das Auftreten einer neuen Person oder eines unverhofften Ereignisses angestoßen. Das letzte Viertel des Films beginnt mit einem weiteren Wendepunkt. Nun kann die Heldin ihre Aufgabe lösen. Der Film endet damit, dass gezeigt wird, dass die Hauptperson sich verändert hat. So knüpft er an die Anfangssequenz an. 

In einem weiteren Schritt wird dem Film ein Bibeltext gegenüber gestellt. Hier ist besonders darauf zu achten, dass nicht der Eindruck entsteht, der Bibeltext würde nun den Film erklären oder umgekehrt. Film und biblischer Text sollen in eine Spannung treten. 

Als Abschluss der Filmexerzitien sollte eine kleine Andacht gefeiert werden, die Themen des Films noch einmal aufnimmt. Der Bibeltext und ein Textauszug aus dem Film treten noch einmal in Spannung zueinander. Es sollte keine Predigt geben, damit alle Meinungen und Erkenntnisse der Teilnehmenden stehen bleiben können. Eine Predigt kann den Eindruck erwecken, nun würde doch mal gesagt, was die Teilnehmenden mitnehmen sollen. Stattdessen soll andächtig feiert werden; Film, Bibeltext und Themen sollen nachklingen. Es wird gesungen, gehört und gebetet. Ritualisierte Formen bieten sich an: eine Tauferinnerung oder auch die Feier des Abendmahls. 

Wer Filmexerzitien auf einer Freizeit anbietet, kann diesen Ablauf wiederholen. Nach der Schlussandacht gibt es eine Pause. Nach dem Abendessen gibt es dann den nächsten Film...


Das Beispiel: der Film „Gnade“ 

Der Ingenieur Niels und seine Frau, die Krankenschwester Maria, sind mit ihrem Sohn aus Deutschland in die norwegische Stadt Hammerfest gezogen. Das Familienleben wird durch verschiedene Krisen geschüttelt.
Nach einer anstrengenden Doppelschicht fährt Maria im Dunkel der Polarnacht ein junges Mädchen an und flieht anschließend nach Hause in der Hoffnung, nur einen Hund angefahren zu haben. Niels fährt noch einmal los, um die Unfallstelle abzusuchen. Erst einige Tage später erfahren sie, dass das Mädchen in den Straßengraben gerutscht und dort erfroren ist. Gemeinsam muss das Ehepaar nun einen Weg finden, mit der Situation umzugehen. 

Nach einer ersten Austauschrunde in Kleingruppen mit der Impulsfrage „Wie fanden Sie den Film?“ und Filmschnipseln wird den Teilnehmenden die Reise des Helden, die hier von einem Paar beschritten wird , anhand der entsprechenden Filmsequenzen nahegebracht. Die Plot-Points sind in „Gnade“ zeitlich sehr exakt platziert. 

Eng verbunden sind insbesondere diese Wendepunkte in der Erzählung mit Naturaufnahmen. Die Natur selbst wird Teil der Geschichte. Auch dies wird den Teilnehmenden vor Augen geführt, d.h. die entsprechenden Sequenzen werden noch einmal gezeigt. 

Ein Blick auf die Namen der Figuren lohnt sich. In vielen Filmen tragen die Charaktere sprechende Namen, die etwas über ihre Träger*innen erzählen. Im Film „Gnade“ haben die Namen wenig Bedeutung, verweisen aber auf bekannte Menschen mit dem gleichen Namen oder beschreiben einfach die Funktion im Film. So heißt eine Freundin Marias beispielsweise Wenche, was einfach Freundin bedeutet. Die Bedeutung des Namens Maria ist umstritten; aber natürlich denkt man hier an die Gottesmutter, die in der Bibel als die Begnadete angeredet wird. Der Name Niels ist eine Form von Nikolaus, was Sieger aus dem Volk bedeuten kann. Der Film-Sohn Markus ist dem Namen nach einfach im März geboren. Allerdings klingt der Name des Evangelisten an, und auch der Markus im Film dokumentiert mit seiner Kamera eine Geschichte, von der sich fragen ließe, ob sie ein Evangelium der Gnade darstellt. Andererseits könnte der Verweis auf den März auch einen Hinweis geben, dass sich mit der Tag-und-Nacht-Gleiche sowohl in der Erzählzeit als auch in der erzählten Zeit der Wechsel von Nacht zu Tag als Beginn einiger Neuanfänge darstellt. 

In Kleingruppen werden nun Themen besprochen, die an den Film anknüpfen, aber den Teilnehmenden die Möglichkeit geben, eigene Erfahrungen auszutauschen. Themenkarten können gezogen werden oder sie werden ausgelegt; und mit Würfeln und Spielfiguren wird ausgelost, wer über welches Thema sprechen soll. Themen könnten z.B. sein: Streiche spielen; neu in einer fremden Stadt; Beichte; zur rechten Zeit am rechten Ort; Glück gehabt; Eis und Schnee; etwas ins Bild setzen; fremdschämen; früher auf dem Schulhof. 

Nun wird ein Bibeltext vorgestellt. Vorgeschlagen sei hier Jesaja 1,11-20. Dieser Text knüpft an zwei Stellen an den Film an. Zum einen geht es um Opfergaben, und zwar um solche, die Gott gefallen, und um solche, die Gottes Missfallen erregen. Von hier aus können die Teilnehmenden darüber nachdenken, welche Opfer die Charaktere des Films bringen mussten bzw. versucht haben zu erbringen, um am Ende die gestörte Lebensgemeinschaft in Hammerfest wieder neu zu ermöglichen. 

Zum anderen heißt es bei Jesaja, dass die Sünde schneeweiß werden soll. Hier kann zunächst noch einmal überlegt werden, inwiefern die verschneite Landschaft im Film eine Aussage über die Gnade evoziert. Von hier aus kann übergeleitet werden zu einer abschließenden Aufgabe, die alle Teilnehmenden für sich selbst bearbeiten: Sie sollen sich überlegen, was Gnade nun für sie selbst bedeutet.